Pastor war das nicht. So hatte ein Geistlicher nicht zu sein!
Martha hatte sich die Arme fast wund gescheuert, man sah es, als sie jetzt mit dem Kaffee und den Gläsern in die Stube kam und den Tisch deckte. Sie schickte sich an, den Raum zu verlassen, jedoch der Pastor wies auf den Sessel neben seinem und sagte: »Setzen Sie sich ein wenig zu uns, Frau Ollerdissen! Das geht auch Sie an.« Er lächelte freundlich und Martha nahm vorn auf dem Sessel Platz und schenkte den Kaffee ein. Karl schüttelte den Kopf. »Was ist los, Pastor?«, fragte er, »Hat der Junge was angestellt? Dann leg ich ihn über Knie!« Pastor Keller schmunzelte: »Na, lange kannst du das nicht mehr, Bauer, so’n großen Jungen, eines Tages wehrt der sich!« Er lachte herzlich. »Nein, ganz im Gegenteil«, meinte er dann, »Matthis ist ein guter Junge. Fleißig, ordentlich, soweit Jungs ordentlich sein können«, wieder schmunzelte er, »und vor allem ist er klug, wissbegierig und hat ein großes Herz! Was habt ihr vor, wenn er aus der Schule kommt?« Martha rückte, womöglich, etwas weiter nach vorn auf ihrem Sessel.
»Er möchte …«
»…das spielt keine Rolle, Mutter, darüber haben wir oft genug gesprochen! Er wird seine Brüder hier auf dem Hof unterstützen, Pastor. So ist es Brauch seit alters her.« Fast ein bisschen trotzig schaute er den Geistlichen an, der erst einmal in aller Ruhe seine Tasse zum Mund führte, um einen großen Schluck zu nehmen. »Oh, der ist gut! Schön kräftig, vielen Dank«, lobte er und wandte sich Martha zu, als hätte Karl gar nicht gesprochen. »Er möchte was? Was will Matthis?« Sie warf einen stummen Blick auf ihren Mann, jedoch der sagte nichts. Nur seine Augen wirkten dunkler, auf seiner Stirn sah man deutlich eine Ader hervortreten, seine Ohren waren rot geworden.
Er ist zornig, schloss sie. Er wird mich nicht schlagen, nicht hier und jetzt, weil der Pastor da ist.
»Er möchte irgend etwas anderes machen. Er liebt die Tiere, aber nur melken, misten, melken, das reicht ihm nicht. Und er liest so gern. Er ist nicht…«.
»Schluss, Martha! Matthis hilft seinen Brüdern, er wird Knecht hier auf dem Hof, und aus! Ich lasse nicht noch einen Sohn gehen!« Karl war aufgesprungen und schlug mit der Faust auf den Tisch. Eine der Tassen fiel dabei zu Boden und zerbrach, der warme Kaffee traf die Hose des Pastors, dieser fluchte und sprang ebenfalls auf. Martha war einen Moment lang starr vor Schreck, dann eilte sie hinaus, um ein Tuch und einen Besen zu holen. In ihrer Eile bemerkte sie nicht, dass Sieker ins Haus gekommen war. Sie rannte ihn fast um.
»Hoppla«, sagte er, »was ist denn los?« Da erst merkte sie, dass sie weinte.
»Nichts«, schluchzte sie, »Alles ist gut. Nur eine kaputte Tasse …« Sie wischte sich mit ihrer Schürze die Augen trocken, atmete tief durch und eilte weiter, in Richtung Küche.
Die Tür zur guten Stube stand einen Spalt offen, daher hörte Sieker jetzt die sonore Stimme des Pastors: »Du wirst ihn verlieren, wenn er hierbleiben muss. Nur wenn du ihn gehen lässt, wird er eines Tages zurückkommen. Martha hat doch auch mit Anton einen Sohn verloren und trotzdem will sie, dass Matthis seinen Weg geht. - Nein, sei ruhig, jetzt rede ich! Der Junge könnte weiter zur Schule gehen oder in eine Lehre. Ich würde euch helfen, mich darum kümmern, dass er was Ordentliches bekommt!«
Sieker sah Martha aus der Küche kommen und sprang zur Seite. Er hatte gelauscht, es war ihm peinlich, aber es brachte ihn auf eine Idee. Jetzt, wo Frieda bei ihm wohnte und seinen Haushalt führte, könnte er wieder einen Lehrling aufnehmen. Schnell begab er sich zurück in den Holzschuppen.
Pastor Keller hatte Karl eindringlich ins Gewissen geredet, seinen Kaffee getrunken und in aller Gemütsruhe seine Zigarre geraucht. Der Bauer hatte sich derweil beruhigt und am Ende sogar versprochen: »Ich werde mal mit dem Jungen reden, vielleicht kann ich ja noch einmal über alles nachdenken.« Keller war nicht sicher, was dieses Versprechen wert war, er kannte den sturen und altmodischen Menschenschlag zu Genüge. Jetzt wollte er sich auf den Heimweg machen, als er Stimmen aus dem Holzschuppen hörte. Matthis‘ helles Jungenlachen, eine dunkle Stimme, die ebenso fröhlich klang, nur ab und zu unterbrochen von einem ungesund klingenden Husten. »Ah, der Gast und Patient, den würde ich gern kennenlernen«, mutmaßte er bei und klopfte an die offene Tür.
»Matthis, du übst ja gar nicht deine Lieder für den Sonntag!«, rief er mit einem breiten Lächeln, »wie soll ich dich denn da an Ostern konfirmieren, wenn du nichts kannst?«
»Ach, Herr Pastor«, Matthis ging unbefangen auf den Scherz ein, Sieker staunte insgeheim über den freundschaftlichen Ton zwischen Pastor und Konfirmand, »ich habe so viel geübt, manche kann ich fast schon rückwärts singen!«
Sieker kam hinter der Werkbank hervor, wischte sich die Hände an den Arbeitshosen ab, die ihm ein bisschen zu lang waren – Karl hatte ihm welche geliehen, seine Kleidung war ja völlig zerrissen und schmutzig gewesen – und stellte sich förmlich vor.
»Guten Tag, Herr Pastor Keller, ich bin Jakob Sieker aus Enger. Sie haben vielleicht schon gehört …«, er begann, heftig zu husten. Sein Kopf lief rot an, er quälte sich. Er hustete, schnappte nach Luft, hustete, beugte sich dabei vor, dann machte er sich grade, hob die Arme, all das nutzte nicht, er hustete weiter. Keller hatte ihn beim Arm gefasst und nach draußen vor den staubigen Schuppen geführt. Er brachte Sieker zum Hauklotz und half ihm, sich hinzusetzen. Matthis war inzwischen losgerannt und in Sekundenschnelle mit einem Becher Tee zurückgekommen. Seine Stimme quiekste ein bisschen, als er dem Tischler den Becher reichte und erklärte: »Anna hat doch gesagt, Sie müssen den wenigstens fünf mal täglich trinken!« Sieker trank in winzigen Schlucken, schnappte dazwischen immer wieder nach Luft, aber in kleinen Schritten wurde es besser. Keller atmete auf, aber er hatte ja schon bei vielen auch todkranken Menschen gesessen und erkannte schnell, dass dies keine harmlose Erkältung war.
»Waren Sie schon bei Hannah?«, fragte er den Kranken besorgt. »Vielleicht hat die ja noch eine Idee gegen diesen Husten?«
Matthis schüttelte betrübt den Kopf und sah dem Pastor ins Gesicht. »Pastor Keller, Sie wissen ja ... «
»Das ist ’ne gute Idee, Pastor. Gleich morgen Nachmittag bringst du unseren Gast zu Tante Hannah, ja, Junge?« Karl stand da, beide Hände in den Taschen und wandte sich an Sieker: »Die Schwester meiner Frau hat Anna alles beigebracht und gilt als richtige Heilerin! Dass ich daran nicht gedacht habe!« Er stapfte weiter in Richtung Schweinestall, Matthis schüttelte ungläubig den Kopf und Keller schmunzelte in sich hinein. »Na, das ist ja mal wenigstens ein Anfang«, sagte er, verabschiedete sich und spazierte, ein Lied summend davon.
Das große Haus, in dem Matthis mit seinen Eltern und Geschwistern lebte, war ein altes Hallenhaus aus dem vergangenen Jahrhundert. Matthis Urgroßvater hatte es gebaut und den Hof gegründet. Auf der rechteckigen Grundfläche hatte es einst im hinteren Drittel des Hauses in der Mitte eine große offene Feuerstelle gegeben, an der gekocht wurde und um die man sich nach getaner Arbeit versammelte. Hinter und neben der Feuerstelle hatten Alkoven gestanden, in denen Bauer, Familie und Gesinde geschlafen hatten. In den beiden vorderen Dritteln waren früher, durch die große Deele getrennt, links und rechts die Stallungen für Pferde und Kühe. Heute gab es die Kochstelle längst nicht mehr, durch Einziehen von Wänden waren im hinteren Bereich des Gebäudes einige Zimmer und die Wohnküche entstanden. Vorn im Haus gab es lange schon keine Tiere mehr, wenn man von Hofhund einmal absah. Auf der einen Seite waren die alten Stallungen zu Lagerräumen umgebaut worden, auf der anderen Seite waren neben der üblichen Gesindekammer zwei große Zimmer dazugekommen. Im vorderen schliefen Peter und Anna, im hinteren Erich, die kleine Kammer auf der linken Seite war Matthis´ Reich, und auf der rechten war der Gast untergebracht. An normalen Tagen aß die Familie in der Wohnküche am ausladenden Küchentisch. Nur an Festtagen wurde auf der Deele getafelt, mit allen Knechten, Mägden und Verwandten von nah und fern. Neben dem großen Haus gab es mittlerweile ein vor langer Zeit gebautes ‚Altenteil‘, ein Häuschen mit drei Zimmern, in dem bis zum letzten Jahr der Großvater gewohnt hatte. An die Großmutter erinnerte Matthis sich nicht mehr. In dieses Häuschen würden seine Eltern einziehen, wenn Annas Kind auf der Welt und getauft sein würde, dann würden sie den Hof an Peter, ihren Ältesten, übergeben. So war es Sitte und Brauch. Beinah zur gleichen Zeit würde Matthis konfirmiert werden und die Schule beenden.