Niemals nähmen seine Eltern oder die Brüder ihn für voll, selbst im Dorf würde er immer der »kleine Ollerdissen« sein, sonst nichts. Matthis grübelte und überlegte seit Jahren, wie er dieser Falle entrinnen konnte, aber es war nur ein Traum – er sah keinen Weg. Weglaufen, wie sein großer Bruder Anton es getan hatte, war für ihn nicht die Lösung, denn er hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte. Anton, ja der hatte schon früh vom Meer geschwärmt, das er nie gesehen, von dem nur der Lehrer in der Schule berichtet hatte. Der hatte genau gewusst, was er wollte, wohin er wollte. Ob es ihm gut ging? Matthis schickte ein stummes Gebet für seinen Lieblingsbruder gen Himmel. Er, Matthis, wäre gern weiter in die Schule gegangen, er lernte gern und schnell, alles Neue fand er spannend und er liebte es, den Dingen auf den Grund zu gehen. Aber Vater würde das niemals erlauben. Erstens kostete das eine Menge Geld, zweitens brauchte er ihn auf dem Hof und drittens gehörte sich das nicht, weil ein Bauernsohn eben nur Bauer werden sollte. Die einzige halbwegs denkbare Ausweichlösung war, eine Lehre zu machen, das durften in den Augen seines Vaters sogar Bauernsöhne. Nur er selbst nicht, er wurde ja hier gebraucht. Wie fast jede Nacht lag er hier in seinem Kämmerchen, zermarterte sich das Hirn und versuchte, gleichzeitig zu schlafen – was nicht gelang. Zum Lesen drang längst nicht mehr genug Licht ins Zimmer. Unnütz eine Lampe benutzen war ihm nicht erlaubt. Er drehte sich auf die andere Seite und kuschelte sich in seine Bettdecke. Würde er Schlaf finden, wenn er versuchte, das Lied aus dem Konfirmandenunterricht im Kopf herzusagen? Er begann »Jesu, geh voran, auf der Lebensbahn …«, da hörte plötzlich ein lautes Poltern, dann einen leisen Schrei. Er war schon beim Poltern aus dem Bett gesprungen und zur Kammertür gelaufen, aber irgendetwas sagte ihm, dass es besser wäre, nicht nachzusehen. Vorsichtig öffnete er die Tür ganz, draußen auf der Deele war alles dunkel und scheinbar friedlich. Dann erkannte er die Stimme seines Vaters.
»Martha, das wollte ich nicht. Martha, ehrlich, es tut mir leid!« Seine Mutter antwortete etwas, aber Matthis konnte sie nicht verstehen. Die Deelentür öffnete sich und wurde zugeschlagen, er hatte kaum Zeit, sich hinter seiner Tür zu verstecken. Seine Mutter lief an ihm vorbei, jedenfalls meinte er, sie in der Dunkelheit erkannt zu haben. Dann wieder die Deelentür, der Vater.
»Martha, warte! Wo willst du denn hin? Entschuldige bitte, bitte mein Verhalten, bitte Martha!« Die Mutter war stehen geblieben, der Vater stand ihr im Dunkeln gegenüber. Matthis Augen hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt, er sah, dass sie die Schultern hängen ließ und mit einer müden Bewegung die offenen, langen Haare aus dem Gesicht strich.
»Karl, lass mich einfach. Du willst, das alles bleibt, wie es immer war, aber so ist das Leben nicht. Alles ändert sich, immerzu. Selbst hier auf dem Land, denk nur an den Pastor!« Matthis sah, wie sein Vater einen Schritt auf die Mutter zuging, die reglos da stand. Nie hatte er einen von beiden so aufgelöst gesehen, schon gar nicht beide.
»Komm zurück in die Stube, wir reden nochmal.«
»Ach, Karl, ich bin so müde. Wir haben so oft darüber geredet. Der Junge ist nicht wie Peter oder Erich, sieh das doch ein.« Matthis hielt die Luft an. Sie stritten seinetwegen? Er zog sich tiefer in seine Kammer zurück und wünschte, er hätte die Tür nie geöffnet, die er nicht ohne Geräusche schließen konnte. Das alles erschien ihm zu peinlich, er sollte das nicht miterleben, das war ihm klar. Als er sich in Bett legte, hörte er seinen Vater seufzen: »Nein, Martha. Er ist wie Hannah – und du!« Er hörte die Tür ins Schloss fallen, dann wurde es still.
7.
Am Morgen darauf regnete es in Strömen. Matthis hörte die dicken, schweren Tropfen ans Fenster prasseln, als er wach wurde. Er stand unwillig auf und zog sich nach einer kleinen Katzenwäsche für die Schule an. Regen, das hieß, klitschnass in der Schule ankommen, mit nassen Haaren im Unterricht sitzen und dann, wenn er nicht Glück hatte und es aufhörte, durch den prasselnden Regen wieder heimlaufen. Egal, er war es ja gewohnt, und lange dauerte es ja nicht, dann brauchte er diesen Weg nicht mehr bei Wind und Wetter zu laufen. »Dann muss ich nur ’rüber in den Schweinestall zum Misten. Na, ob das wirklich besser ist?« Er trabte in die Küche, brummte ein »Morgen« in Richtung seiner Mutter, die am Herd stand und in einem großen Topf rührte und setzte sich an den Tisch.
Nach dem Frühstück, das er allein eingenommen hatte wie jeden Morgen, holte er seine Schulsachen und den Regenmantel und wollte sich auf den Weg machen, als seine Mutter ihn zu sich rief.
»Heute Mittag kannst du nicht mit Sieker zu Hannah gehen, wenn es so regnet!«, sagte sie. Er sah, dass sie ungemein müde aussah, die Augen rot gerändert, die Haare, die sie sonst stets sorgfältig aufgesteckt hatte, fielen ihr strähnig ins Gesicht und über den Rücken. »Aber wenn du magst, kannst du nach der Schule noch bei Walter bleiben und mit ihm lernen oder so, also, wenn er Zeit hat natürlich.« Matthis schwieg verwundert und sah sie fragend an. Ihm fehlten die Worte.
»Tu es einfach. Ich regel das schon mit deinem Vater!« Sie setzte ihm die Kapuze auf den Kopf, drückte ihm die Schultasche in die Hand und schob ihn, wie ihre Schwester ein paar Tage vorher, aus der offen stehenden Tür. »Nun lauf, du kommst sonst noch zu spät!«, rief sie ihm hinterher, da war er aber schon fast vom Hof.
»Matthis? Schläfst du?« Matthis sprang auf, stolperte um ein Haar und versuchte, sich an seinem Pult festzuhalten. »Nein, Herr Lehrer!«, sagte er. Sein dümmlicher Gesichtsausdruck hieß ihn Lügen. Schließlich hatte sich jede Menge ereignet gestern und heute Morgen und überhaupt. Die anderen Jungen tuschelten, die Mädchen kicherten hinter vorgehaltener Hand. Matthis versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern, das der Lehrer gesagt oder gefragt hatte, aber da war nichts. Werner raunte ihm was zu, aber er hörte ihn nicht, und dann klatschte es auch schon: Lehrer Hempelmann hatte sein schweres Lehrbuch aufs Pult fallen lassen. Matthis erschrak und riss sich zusammen.
»Entschuldigung, aber ich habe die Frage nicht verstanden!«, stotterte er, alle lachten, nur Hempelmann erwiderte trocken: »Ja, das hab ich gemerkt! Vielleicht gehst du mal vor an die große Weltkarte und zeigst uns, wo Swakopmund liegt? Wir sprachen von den Missionaren dort, mein Bruder hat mir einen Brief geschickt, den ich vorgelesen hatte!«
»Es tut mir leid«, antwortete Matthis, versuchte zu lächeln und nahm den Zeigestock, den Hempelmann ihm hinhielt. »Hier in Deutsch Südwest liegt die Stadt Swakopmund, im Norden wird sie von der namibischen Wüste begrenzt, im Westen ist die Südatlantikküste. Es herrscht dort ein angenehmes Klima, im Durchschnitt ….«
»Ist ja gut. Da kann ich ja gar nicht böse mit dir sein, wenn du deine Lektion so gut gelernt hast! Egon, mach du mal weiter!«
Matthis genoss diese Schulstunde, obwohl er am Anfang seinen eigenen Gedanken nachgehangen hatte. Herr Hempelmann hatte schon zum wiederholten Male aus Briefen vorgelesen, die sein Bruder aus der Missionsstation in Swakopmund, schickte. Er berichtete darin anschaulich von dem ungewöhnlichen, harten Leben, von den Mühen, eine Schule aufzubauen und von den vielen Aspekten seiner Aufgabe dort. Missionar zu sein, das war etwas anderes, als tagein tagaus Ställe ausmisten, Schweine und Rinder verpflegen und auf dem Acker zu schuften. Sein Finger flog in die Luft, jetzt schon zum dritten oder vierten Mal, während der Lehrer las. »Ja, Matthis?«
»Woher genau bekommt denn die Missionsstation ihre Nahrung, baut der Missionar, also ihr Bruder, das selber an? Hat er auch einen Brunnen gebohrt? Afrika ist doch sehr trocken? Und halten sie dort auch Tiere?« »Matthis, gib doch Ruhe«, raunte Albert von hinten, »die haben doch Nilpferde und Seekühe«. Alle lachten, nur Lehrer Hempelmann verkniff es sich, und Matthis schlug sich mit der Hand vor die Stirn: »Klar, und so Kamele wie dich, nicht?« Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite, aber er merkte, dass er es mit seinen Fragen übertrieben hatte, seine Mitschüler malten Kringel in ihre Hefte, schauten aus dem Fenster oder flüsterten leise mit ihren Sitznachbarn. »Ich gebe dir, wenn du willst, nachher den ganzen Brief, jetzt habe ich nur Ausschnitte vorgelesen. Da kannst du dann alles nochmal nachlesen«, versprach Hempelmann. »Lehrers Liebling!«, hörte Matthis von hinten rufen, ohne die Stimme zu erkennen. Er mochte seine Mitschüler, aber sie waren so uninteressiert. Sie warteten nur auf das Ende der Stunde, des Schultages und auf den Moment, wo sie nie wieder hier her zu kommen brauchten. Die meisten von ihnen blieben Bauern – Egon beispielsweise würde eines Tages den Hof seines Vaters erben, einen der großen Ackerbaubetriebe mit eigener