auf sie zu und sprich sie an, auf das, was sie da sagen. Frag nach. Da sie meistens Unsinn erzählen oder nur irgend etwas weitertratschen, wissen sie darauf keine Antwort und manchmal nehmen sie sich dann mehr in Acht.«
Matthis war nicht sicher, ob er das verstanden hatte, aber er kam nicht dazu, nachzufragen.
Sie hatten jetzt beinah den Ortsrand erreicht. Rechts in einer kleinen Mulde weideten ein paar Ziegen, eine Frau saß etwas erhöht am Rand der Senkung. Ein ziemlich großer, ungelenker Junge kam von hinten auf sie zu, rief »ich hab dich!«, und stieß sie an, sodass sie ins Gras fiel. Noch im Fallen umarmte sie das ungestüme Kind und beide rollten unter lautem Lachen den sanften Hügel hinab in die Mulde, mitten zwischen die Ziegen. Diese ließen sich dadurch aber nicht bei ihrer Mahlzeit stören, die Frau sprang auf, der Junge, ein bisschen tollpatschig, auch, sie lief mit erhobenen Armen auf ihn zu: »Hab dich!«
Matthis grinste breit, er machte eine komisch gemeinte kleine Verbeugung und wies mit der geöffneten Hand auf die beiden Ziegenhirten.
»Herr Sieker, darf ich Ihnen meine Tante Hannah Ahrendt und Paul, ihren Sohn, vorstellen?«
Hannah trug die übliche Kleidung der Frauen auf dem Land, ein knöchellanges dunkelblaues Kleid, darüber eine längsgestreifte Schürze, die Haare unter einem im Nacken gebundenen Kopftuch. Sie schien alles andere um sich herum vergessen zu haben, nur das Kind und ihr Spiel. Aus ihrem Tuch hatten sich ein paar rotbraune Haare gelöst, sie strich sie in einer kurzen Bewegung hinter die Ohren. Sie reichte ihrem Sohn eben bis ans Kinn, war rundlich, aber an den richtigen Stellen. Jetzt hatte der große Junge die beiden Besucher entdeckt, rief laut: »This!«, und rannte, so schnell er in seiner Tollpatschigkeit konnte, auf seinen Vetter zu. Dabei breitete er die Arme aus und lachte von einem Ohr zum Anderen. Matthis ging ihm entgegen und nahm ihn wie selbstverständlich in die Arme.
»Pauli, schau, ich habe Besuch mitgebracht!« Er wandte sich mit seinem Vetter zu Sieker um. Der starrte die Frau, die ihrem Sohn gemächlicher folgte, mit einem Blick an, den Matthis nicht recht deuten konnte, an. Jedenfalls ist er sehr blass, dachte Matthis. Sieker streckte die Hand zur Begrüßung aus und ging einen Schritt auf Hannah zu – und sackte zusammen. Fast augenblicklich knieten Matthis und Hannah neben ihm.
»Leg ihn auf den Rücken, aber die Beine hoch, Paul, hol Wasser aus dem Trog.«
»In meinem Rucksack ist eine Flasche. Nimm die!«, ergänzte Matthis. Zu seiner Tante sagte er: »Er hätte niemals kommen dürfen, er hatte noch immer starken Husten, aber er hat uns alle so bedrängt!«
»Nun, er ist erwachsen, nicht? Mach dir keine Vorwürfe. Husten, sagtest du?«
»Ja. Oft hat er keine Luft mehr bekommen und der Tee, den Anna gemacht hat, half immer nur kurz. Seine Wunden sind gut verheilt, aber an den Rippen scheint er noch Schmerzen zu haben, da hatte er seine Hand heute sehr oft.«
Hannah betrachtete voller Konzentration den Mann, der vor ihr lag. Paul hatte das Wasser gebracht und stand nun wie verloren herum. Matthis wusste, er litt, wenn Neues geschah, das ängstigte ihn. Während Hannah mit einem befeuchteten Tuch die Stirn des Kranken kühlte und ihn vorsichtig untersuchte, widmete er sich Paul.
»Schau, Junge, das ist Jakob Sieker, den ich unten am Schmiedebach gefunden habe!«, erzählte er dem Jüngeren.
»Du, gefunden! Menschen findet man doch nicht. Die… äh, die … sind einfach da!«
»Doch, doch, pass auf, das war so«, begann Matthis, aber Hannah unterbrach ihn: »Da ist er ja wieder! Guten Tag, Herr Sieker, können sie mich verstehen? Nein, bleiben Sie liegen!«
Matthis und Paul kamen heran, Paul trat unbefangen auf den am Boden liegenden zu, hockte sich neben ihn und streckte mit einem breiten Lächeln die Hand aus.
»Ich bin Paul!«, sagte er. Matthis sah, dass Hannah den Atem anhielt. Zu oft hatte sie erlebt, was jetzt vermutlich passieren würde, aber ihr herzensgutes Kind versuchte es immer wieder.
»Hallo, Paul, Matthis hat mir schon viel von dir erzählt!«, entgegnete Sieker mit kraftloser Stimme, aber ohne zu zögern. »Und von Ihnen auch«, fuhr er fort und probierte aufs Neue, sich aufzusetzen.
Hannah lächelte zufrieden in sich hinein. Er hatte Paul nicht abstoßend gefunden und sich auf ihn eingelassen. Das war ein anständiger Mensch.
»Bleiben Sie noch ein bisschen liegen. Was genau ist passiert?«
»Ich weiß nicht, ich bin vor einigen Wochen wohl überfallen worden«, setzte er an, aber sie schnitt ihm das Wort ab.
»Das weiß ich, nein, was jetzt eben gerade mit Ihnen passiert ist? War Ihnen schwarz vor Augen? Oder schwindelig? Tat Ihnen irgendetwas weh?«
»Es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur zu sehr angestrengt.« Sieker stand auf und Hannah versuchte nicht, ihn zu hindern. Er schwankte ein wenig, fiel aber nicht. Er hatte ein wenig Farbe bekommen. Er schaute an sich herunter, rieb dann seine Hände an den Hosenbeinen und reichte Hannah die Hand.
»Darf ich mich Ihnen vorstellen? Ich heiße Jakob Sieker, Tischlermeister aus Enger. Ich freue mich, ihre Bekanntschaft zu machen!«
Matthis grinste, weil er sah, dass Hannah das Blut in die Wangen schoss, sie ließ Siekers Hand schnell los. Er beobachtete die beiden gespannt, eine so förmliche Begrüßung und Vorstellung hatte er nicht erwartet. Dann schmunzelte er, halb schelmisch und halb verlegen und sagte: »Ich könnte was essen!«
Paul klatschte in die Hände und rief »Au ja!«, Sieker und Hannah wandten ihre Blicke voneinander ab und richteten sie auf die Jungen.
»Meinen Sie, sie schaffen die paar hundert Schritte noch? Es sind wirklich nur noch ein paar Minuten!«
»Aber klar, ich fühle mich schon wieder sehr wohl! Verzeihen Sie, dass ich Ihnen so einen Schrecken eingejagt habe.«
Hannah betrachtete ihren Gast ausführlich, während sie einen Tee braute, durch das geöffnete Küchenfenster. Sieker saß auf der Bank vor dem Haus in der Sonne. Er schaute scheinbar gedankenverloren den beiden Jungen zu, die gemeinsam und unter großem Gelächter die Ziegen in den Stall brachten und versorgten. »Ein stattlicher Mann«, befand sie, »und noch gar nicht so alt, wie Matthis behauptet hat.« Vorsichtig goss sie das Wasser über die Blätter in der tönernen Kanne und stellte diese zur Seite, nahm eine zweite Kanne aus dem Regal und schüttete ebenfalls ein paar Kräuter hinein, bevor sie sie überbrühte. Paul und Matthis balgten sich im frisch aufgestreuten Heu des Ziegenstalls, sie hörte ihr helles Jungenlachen.
»So hätte es sein können«, schoss ihr durch den Kopf, dann aber verbot sie sich schnell wieder diese Art Gedanken. »Besser, du schaust auf deine Kräuter und darauf, was dem Mann da draußen fehlt, statt hier in nutzlosen Jungmädchenträumereien festzuhängen«, schalt sie sich selbst. Sie schob die tönerne Kanne hinten auf die Anrichte, damit Paul sie nicht erreichte. Eine unsinnige uralte Gewohnheit, denn seit über einem Jahr überragte er sie. Sie nahm einen weiteren Stuhl mit nach draußen und setzte sich Sieker gegenüber.
»Ihr Tee ist gleich fertig. Ist Ihnen warm genug? Ich hole gern auch eine Decke!« Sieker lächelte.
»Hier in der Sonne ist es wunderbar, genau richtig. Schön, dass jetzt endlich Frühling wird, nicht wahr?«
»Woher kommen Sie eigentlich? Matthis hat mir gar nicht richtig von Ihnen erzählt, er war mit ganz anderen Dingen beschäftigt.« Hannah schaute ihn erwartungsvoll an, aber er antwortete nicht gleich. Sein Zögern machte sie nervös, sie stand auf, ging ins Haus, kam mit der tönernen Kanne und einem Becher wieder.
»Hier, das ist ihr Tee. Langsam und in kleinen Schlucken trinken!«
»Ich bin Tischler«, begann ihr Gegenüber dann unvermittelt, »und ich lebe etwa drei Tagesreisen von hier in Enger.« »Allein?«, rutschte es Hannah heraus. Sie spürte, dass sie rot wurde. »Ich meine, vermisst sie denn keiner? Müssen Sie nicht zurück?«
Ihr Gast lächelte still in sich hinein. »Meine Gesellen, meine Schwestern, mein kleiner Sohn. Mein Geschäft muss weiter geführt werden. Aber im Augenblick kann