Natascha Neumann

Anders Sein


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eine Atemzug, schwer, röchelnd – und dann die Stille.

      Selbst jetzt weinte Hannah nicht. Sie wusch den toten Körper ihres Mannes mit schweren, müden Bewegungen, trank einen Schluck Tee und legte sich zu ihm, so nah wie immer. Sie dachte nicht, sie grübelte nicht, sie war jenseits von Trauer und Schmerz, zutiefst erschüttert. Nach vier Tagen Wachen war sie unendlich müde und suchte beim ihm ein letztes Mal Halt, wo es keinen mehr gab. Sie schlief ein. So fand sie am Morgen ihre Schwester.

      Die Trauerfeier gab ihr keinen Funken Trost, die Rituale halfen ihr nur, den Tag zu überstehen. Wochenlang lebte sie wie im Nebel, nichts drang an sie heran, außer ihrem Kind nahm sie niemanden wahr. Martha und Karl waren häufig bei ihr, und immer hatte ihr Schwager nur das eine Thema: »Ich muss jetzt für euch sorgen, und das werde ich auch, wenn du endlich zusammenpacken und mit uns kommen würdest. Was willst du denn noch hier in der alten Schmiede? Paul ist tot!« Martha versuchte, ihren Mann zum Schweigen zu bringen, aber der ereiferte sich immer mehr.

      »Nimm doch endlich Vernunft an, du kannst doch so allein hier nicht leben. Wie sieht das denn aus? Und wovon willst du leben?« Aber Hannah antwortete nicht. Sie sprach überhaupt nicht in dieser Zeit und war am liebsten mit Pauli allein. Der Pastor kam ebenso immer wieder.

      »Es wird der Tag kommen, an dem du nicht mehr weinen musst«, versprach er, »du bist doch eine junge Frau, es wird eines Tages ein anderer Mann kommen, und dann wirst du wieder glücklich werden.« Die Nachbarn kamen und gingen, Hannah war nicht unfreundlich, sie reagierte schlicht nicht auf die Ansprache und den Trost, den man ihr zu bieten versuchte. Sie schwieg und beschäftigte sich mit ihrem Sohn. Eines Tages kam dann Georg, der Nachbarn, dessen Pferd Paul erschlagen hatte. Sie kannten sich seit langer Zeit, sie hatten zusammen gespielt, gelernt und waren im selben Jahr konfirmiert worden. Georg hatte sich seit der Beerdigung nicht blicken lassen, aber am Abend davor hatte er mit ihr die Totenwache gehalten. Sie hatten wenig geredet und trotzdem spürte Hannah, dass Pauls Tod schwer auf Georg lastete.

      »Ich weiß, dass ich nichts wieder gut machen kann, aber ich habe dir etwas mitgebracht«, hatte er gesagt.

      »Ich bin nicht böse auf dich«, hatte Hannah erwidert, und auf sein beredtes Schweigen platzte sie mit einem Mal heraus: »Gott! Ich bin böse auf Gott! Ich habe so eine Wut auf ihn, dass ich den ganzen Tag laut schreien, Dinge kaputtmachen könnte. Es ist so ungerecht!« Sie schrie, heulte, Wochen nach dem Unfall brach endlich der Damm, brachen alle Dämme, und sie weinte, weinte, weinte. Georg sagte nichts und tat nichts. Er hatte keinen Trost für sie, Paul war ebenso sein Freund gewesen, er fand es selbst nicht in Ordnung, dass dieses junge lebenslustige Nachbarmädchen, das er von früher kannte, eine verzweifelte hoffnungs- und freudlose Witwe war. Sie hatte sich neben den Herd gekauert, um ein bisschen Wärme zu spüren, jetzt, wo es so kalt in ihrem Leben geworden war. Er nahm sie am Arm und führte sie zu dem bequemen Sessel, schenkte eine Tasse Tee ein und setzte sich neben sie, wie in jener Nacht vor der Beerdigung sprach er kaum ein Wort, er war nur da. Sie weinte, erst laut, aufgebracht, mit voller Kraft, dann immer leiser, verzweifelter. Als sie einschlief, holte er die Decke vom Bett und deckte sie zu, dann holte er den Jungen, der vor sich hin brabbelnd in seinem Bettchen gesessen hatte und nahm ihn mit hinaus.

      »Schau mal, die Ziegen! Dies ist Kalle und das ist Dora. Sie gehören jetzt der Mama und dir!« Er hob den Jungen auf einen Strohballen und begann, den Schuppen in einen Unterstand für die Tiere zu verwandeln.

      Als Hannah erwachte, war es längst dunkel. Sie saß in der Stube im großen Sessel, zugedeckt, und sie fühlte sich frisch. So tief hatte sie lang nicht geschlafen. Aus der Küche drang Licht durch die wenig geöffnete Tür, sie hörte Pauli lachen. Sie stand auf und sah nach. Georg hatte dem Jungen einen Becher Milch hingestellt und ein Brot belegt, dieses in Stückchen geschnitten und fütterte damit ihren Sohn, in dem er die kleinen Häppchen von weitem auf Paulis Mund zubewegte.

      »Achtung, da kommt noch eins geflogen!«, rief er und zwitscherte wie ein Vogel. Pauli sperrte vor Staunen den Mund auf und zack, verschwand das Brotstück.

      Die beiden schauten kaum auf, als sie hereinkam, und erst nachdem das Brot aufgegessen und die Milch getrunken war, kletterte der kleine Junge von seinem Stuhl herunter und auf ihren Schoß. »Mama«, flüsterte er, schmiegte sich eng an sie und schlief ein.

      »Du bist ja immer noch da«, sagte sie zu Georg.

      »Es musste sich doch jemand um den Kleinen kümmern, nicht? Und um eure Ziegen.«

      »Ich habe doch gar keine Ziegen«,

      »Doch, seit heute schon. Weißt du noch, wie gern ich deinen Ziegenkäse gegessen habe? Du brauchst eine Arbeit, die dir Geld einbringt, wenn du nicht zu deinem Schwager auf den Hof ziehen willst. Eine, die es dir erlaubt, bei Pauli zu sein. - Was ist das mit ihm?«, er stellte die Frage sachlich und ohne Scheu, daher war sie in der Lage, darauf genauso zu antworten: »Der Lehrer sagt, man nennt es mongoloid. Die Mongolen sind ein asiatisches Volk, die alle solche Augenform haben. Mongoloide Idiotie, so hat er es genannt. Aber Pauli ist kein Idiot, er kann lernen. Schau, er läuft, und er sagt Mama!«

      »Er ist aber auch schon fast zwei, oder?«

      »Ja, das stimmt. Es dauert alles viel länger.« Sie zuckte mit den Achseln. »Er ist mein Kind, Pauls Sohn. Ich liebe ihn und finde ihn großartig. Er ist so fröhlich, so zärtlich. Aber ich habe Angst vor dem Tag, wenn die Frauen das merken.«

      »Umso besser, dass du jetzt die Ziegen hast.«

      An diesem Tag hatte sich etwas für Hannah geändert. Unter Umständen, weil sie ihre Wut, ihre Trauer nicht mehr verbergen wollte, möglich, weil sie tagaus, tagein soviel Arbeit hatte, dass sie zum Grübeln keine Zeit mehr fand. Sie kümmerte sich um die Ziegen, hatte übers Jahr schon ein paar Zicklein, die nach angemessener Frist wieder für Milch sorgten, und stellte Ziegenkäse her, den Georg mit zum Markt nahm, wenn er dort einmal die Woche seine Ware anbot. Pauli hatte sie immer und überall dabei, sei es im Stall, in der Küche oder auf der Weide, die sie gleich hinter der alten Schmiede angelegt hatte.

      Sie hatte das bewegliche Werkzeug verkauft, aber die Werkstatt selbst ließ sie leer stehen. Ihrem Schwager, der weiterhin meinte, es gehöre sich nicht, dass sie mit ihrem Sohn alleine lebt, erteilte sie regelmäßig eine Absage, bis er es aufgab, zu fragen.

      »Käse!«

      »Käse!«

      »Ja, genau. Toll, du bist ein guter Junge!«

      »Guter Junge!« Paulis Sprachbemühungen glichen einem Echo, er sprach gutwillig alles nach, was seine Mutter ihm vorsagte, aber eigene Sätze bildete er nicht. Martha, ihre Schwester, kam des Öfteren vorbei, häufig mit Anton und Matthis, ihrem Jüngsten. Matthis war fast fünf Jahre älter als Pauli, trotzdem gaben die beiden ein großartiges Paar ab. Sie hatten einander sehr gern, umarmten sich ständig, der Große schleppte den Kleinen unentwegt mit sich herum und zeigte ihm seine Welt. Der damals neunjährige Anton behandelte Pauli nicht anders als seinen kleinen Bruder, er lehrte die beiden Jungen allerlei, vor allem Unsinn.

      Bald kamen die ersten Dorfbewohner wieder, um Hannah bei ihren alltäglichen gesundheitlichen Problemen um Rat zu fragen und sich ihren Tee abzuholen. Hannah war schon immer zurückhaltend gewesen, hatte sich nie um das Gerede gestört, das in einem Dorf an der Tagesordnung war. Auch jetzt dauerte es ein paar Wochen, bis sie merkte, dass die Leute tuschelten. Sie kamen, oft mit den fadenscheinigsten Wehwehchen und berichteten ihr von irgend welchen Beschwerden, während sie mit herumstreifenden Augen Pauli beobachteten und versuchten, mit ihm zu reden. Sie starrten den Kleinen an, bedrängten ihn buchstäblich, wenn er auf seiner Spieldecke saß und hatten für seine Mutter und ihre Ratschläge kaum ein Ohr. Eines Tages erfuhr Hannah zufällig, dass die Frau des Krämers, Elisabeth, schwanger sei. Die Hebamme wunderte sie sich ein wenig, dass Elisabeth nicht nach ihr gerufen hatte, meist hatte sie vor alle anderen im Dorf Kenntnis von einer Schwangerschaft. Sie stellte eine Kräutermischung gegen die morgendliche Übelkeit zusammen und bat Anna, Georgs Tochter, sie möge dies doch der Bäckersfrau bringen, mit einem freundlichen Gruß, und ausrichten, dass sie gern persönlich einmal vorbeikommen dürfte. Die kleine Anna war damals so neun oder zehn Jahre alt und besuchte Hannah häufig, um ihr im Kräutergarten und bei den Ziegen zu helfen und von