Natascha Neumann

Anders Sein


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will, dass ich komme. Aber ob Peter und dein Vater das erlauben werden? Ich müsste ja Paul mitbringen, du weißt ja, dass man ihn nicht allein lassen kann!«

      Matthis war in höchstem Maße erschüttert. »Tante Hannah, es tut mir so Leid. Ich wollte nicht….«

      Nie zuvor hatte sie so mit ihm geredet, von sich.

      Sie hatte ihn abgelenkt, ohne auf seine tröstenden Worte einzugehen. »Sieh mal, Paul!«, hatte sie gerufen, und gelacht, weil der große, schwere Junge wie ein Kätzchen zusammengerollt vor dem Küchenherd eingeschlafen war. Dann hatte sie gesagt: »Das ist die Antwort auf deine Frage. Aber jetzt wird es Zeit, dass du nach Hause kommst, du weißt, der Vater wird sonst wütend! Ich komme in den nächsten Tagen vorbei, ich helfe deiner Mutter bei den Vorbereitungen. Nun lauf!« Sie hatte ihm quasi die Jacke angezogen und zur Tür hinausgeschoben, ehe er bemerkt hatte, wie ihm geschah.

      Der Fahrweg bog hier nach rechts ab und führte direkt ins Dorf, Matthis aber wendete sich nach links in den schmalen Pfad zwischen den Feldern. Man gelangte geradeso auf dem breiten Weg zum Hof, – die Fuhrwerke und Heuwagen, und natürlich die Sonntagskutsche benötigte einen befestigten Weg - aber der Fußweg war kürzer. Noch zehn Minuten, vielleicht fünfzehn, und er wäre zu Hause. Er verlangsamte sein Tempo, betrachtete eingehend den Löwenzahn auf dem Weg. Wieso erkannte er das Besondere, das Gute in Paul, und die meisten anderen, allen voran sein Vater, sahen nur mit Abscheu und Ekel auf seinen Vetter?

       6.

      »Schau, wenn du den Hobel so hältst, hast du es wesentlich leichter!« Sieker zeigte Matthis den entsprechenden Handgriff und beobachtete dann, wie dieser vorsichtig und gewissenhaft an dem Brett entlang fuhr. »Ja, genau, und jetzt hier an diesem Teil. Da ist es etwas schwieriger!«

      Seit er vor etwa zwei Wochen zum ersten Mal am Familientisch gesessen hatte, hatte sich sein Zustand stetig verbessert. Er lernte mit Matthis an der Seite das Gehen neu, schulte seine Muskeln, die durch die Zeit im Liegen gelitten hatten und half in Haus und Stall mit. Anna riet ihm, da sein Husten hartnäckig anhielt, l viele Pausen einzulegen. Den Weg nach Hause könne er erst in ein paar Wochen antreten, wenn seine Lunge frei und er insgesamt kräftiger sei. Vor einigen Tagen hatte er einen Brief an seine Familie geschickt, damit diese endlich wusste, wo er war und was passiert war. Er hatte er an jenem Abend seinen Gastgebern erzählt, dass er auf dem Heimweg von einem Besuch von, als drei Männer scheinbar grundlos angegriffen und verprügelt worden war. »Sicher, ich hatte etwas Reisegeld dabei und Proviant, eine kleine Tasche mit Werkzeugen – aber das alles war es kaum wert, mich zu berauben«, hatte er erklärt, dann aber auf weitere Fragen zu diesem Überfall nicht antworten können. »Ich bin Tischler und Zimmermann, ich arbeite mit Holz, manchmal auch bei Leuten zu Hause. Mein Sohn wird ja gut versorgt, auch wenn seine Mutter tot ist. Ich habe zwei Schwestern, die sich um ihn kümmern.« Er schüttelte den Kopf, wandte sich seinem Essen zu und sagte leise: »Ich weiß einfach nichts mehr.«

      Heute hatte er sich wieder einmal mit Matthis in den Holzschuppen begeben. Die beiden arbeiteten an einem Regal für die Küche. Mutter hatte schon lange gesagt, dass sie zusätzlichen Platz brauche, und nun half Matthis Sieker dabei, das Alte zu erweitern. »Ich würde gern mehr über Holz und über das Tischlern lernen«, hatte Matthis dem Genesenden erklärt, und der wiederum war froh, dass er sein Wissen weitergeben durfte. Der Junge war willig und begabt, darüber hinaus freundlich und höflich. Warum nicht, so lange er hier war?

      »Ist der Junge schon wieder mit Sieker zusammen? Ich will das nicht!« Der Bauer lief in der Küche auf und ab, stampfte mit dem Fuß auf und schimpfte. »Du verwöhnst den Jungen viel zu sehr. Er kommt bald aus der Schule, er ist kein Säugling mehr. Aber nein, der Junge muss ja mindestens zweimal im Monat seinem vertrottelten Vetter den Arsch abwischen gehen und dann die Pflege von Sieker, ja ich weiß, Anna ist schwanger, aber das hätte sie doch wohl allein geschafft! Und nun rennt der Junge - dein Sohn! - dem hinterher wie ein Hündchen und springt, wenn der ruft. Und ich, sein Vater, muss sehen, wer mir bei der Arbeit hilft! Warte es ab, der setzt ihm irgendwelche Flausen in den Kopf! Dabei hat er davon wirklich schon genug!«

      Martha schwieg. So ein Wutanfall ging wieder vorüber, nie so schnell, wie er gekommen war, meist völlig aus dem nichts, aber er verging. Früher hatte sie dagegengehalten, versucht, sich und ihren Standpunkt zu verteidigen, jedoch wenn Karl so schimpfte, war er Worten nicht mehr zugänglich. Sie holte das Mehl aus dem Schrank, bestäubte die Arbeitsfläche vor sich und nahm stumm den Brotteig in Angriff. Karl stapfte weiterhin in der Küche hin und her. Manchmal musste sie heimlich in sich hinein lächeln, denn er wirkte dann oft wie ein Kind, das seinen Willen nicht bekommt, und diese Reaktion kannte sie. Anton, ihr dritter Sohn, hatte sich, wenn sein Zorn zu groß wurde, sogar hingeworfen und mit den Fäusten den Boden bearbeitet … Da war er vier oder fünf gewesen. Was er jetzt wohl macht? »Lieber Gott, gib, dass es ihm gut geht und an nichts fehlt«, betete sie im Stillen, wie mehrmals am Tag, seit er damals seinen Sachen gepackt und verschwunden war. Sie hatte ihn nicht wiedergesehen, fünf Jahre war das jetzt her.

      »Hörst du mir eigentlich zu? Dein Sohn …«

      »Hallo! Ist jemand da? Hallo!« Von der Deele her hörten sie jemanden rufen. Scheinbar bekamen sie Besuch, ungewöhnlich um diese Zeit. Martha lugte vorsichtig hinaus, erschrak und band in Windeseile ihre Schürze ab.

      »Schnell, Vater, zieh dir ein Hemd an und wasch dich, es ist der Pastor!« Fahrig wusch sie sich die Hände in der Waschschüssel, strich sie ihr Kleid glatt, und stand Sekunden später auf der Deele dem Pastor gegenüber. Sie begrüßte ihn freundlich, aber ein wenig verlegen.

      »Herr Pastor Keller, was bringt sie denn hierher, wir waren gar nicht, wir haben nicht …«

      Sie streckte ihm beide Hände zum Gruß entgegen, versteckte sie aber schnell wieder hinter dem Rücken und lief rot an. Auf ihren Armen klebten deutliche Spuren des Teigs, den sie soeben geknetet hatte. Zum Glück trat jetzt auch Karl zu ihr und dem Geistlichen.

      »Pastor! Komm, wir gehen in die gute Stube, und die Frau macht uns ’nen Kaffee. Und bring uns den Klaren dazu, hörst du?«, gab er an seiner Frau auf. Er hob seinen Arm, als wolle er ihn dem Pastor um die Schulter legen und wandte sich dem Wohnzimmer zu. Martha verschwand schnell wieder in der Küche. In der Stube hatte Karl dem Pastor inzwischen Platz angeboten und holte aus dem Schrank ein schmales Holzkistchen, das er öffnete und auf den Tisch stellte. »Schau, Pastor, nur das Beste! Kaffee ist auch gleich soweit, die Frau …«

      »Nun bleib mal ruhig, Bauer. Ich möchte, dass deine Frau auch dabei ist, wenn ich euch sag, warum ich gekommen bin.« Er sprach Hochdeutsch, aber man hörte ihm seine rheinische Heimat an. Das hiesige Platt beherrschte er gar nicht.

      Er saß dort auf dem selten benutzten Sofa, roch genüsslich an er dicken Zigarre, die er aus dem Holzkästchen genommen hatte, nahm ein Streichholz aus der Schachtel, die er einstecken hatte und zündete die Zigarre an. Er nahm sich Zeit dazu und konzentrierte sich scheinbar ganz auf die Zigarre. Der Pastor war jung, Anfang dreißig, hatte eine recht grobschlächtige, kräftige Figur und schon nur wenig Haare auf dem Kopf, diese aber waren dicht und dunkel. An den Falten in den Augen- und Mundwinkeln sah man, dass er häufig gelacht hatte in seinem Leben, auch die großen, rauen Hände passten nicht so recht in Karls Bild von einem Geistlichen. Der Pastor war er vor zwei Jahren hierher versetzt worden, als der alte Decimus mit bald achtzig Lenzen zu seinem Schöpfer gegangen war. Decimus, das war ein Pastor gewesen, so wie es sich gehört: alt, klein, feinsinnig, ein bisschen schwächlich und beinahe zart. Dieser hier hatte die Landbevölkerung gleich zu Anfang in Aufregung versetzt, weil er sich nicht wie ein Pastor verhielt. Er trug wochentags keinen schwarzen Anzug, eigentlich gar keinen Anzug, sondern oft billige Arbeitskleidung, wie Karl selbst. Als er im Herbst vor ein paar Jahren beim Presbyter Niehaus vorstellig wurde, war dieser dabei, Kartoffeln auszumachen. Eine nervtötende, anstrengende Arbeit, zumal der Boden nass und schwer gewesen war durch den beständig fallenden Regen. Pastor Keller hatte seinen Mantel ausgezogen und dann nach Kräften mitgeholfen. Erst nachdem die Erdäpfel aus der Erde und die Helfer in der Scheune waren, um sie zum Trocknen auszubreiten, hatte er sich Niehaus vorgestellt. Dieser war fast aus allen Wolken gefallen, die Geschichte hatte sich damals wie ein Lauffeuer verbreitet. Vielleicht war seine Kirche deswegen immer gut besucht. Erst war es nur