Natascha Neumann

Anders Sein


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hatte, in eine Ecke am Ofen zurückzog, begann gleich die Spöttelei.

      »Wahrscheinlich will er Pastor werden!«

      »Unser kleiner Neunmalkluger!«

      »Wie man die Mistgabel richtig hält, das weiß er nicht, nur die Bibel, die kennt er!«, veralberten die Brüder ihn, fast liebevoll, aber sein Vater fand diese ‚Unart‘ gar nicht lustig. »Ein Bauer braucht keine Bücher, draußen gibt es genug zu tun. Diese ganze Gelehrsamkeit ist weibisch und nichts für unsereins! Ein richtiger Junge würde jetzt draußen mit seinen Kameraden zusammen sein …«

      Diese Zeit am Bett des Fremden war daher für Matthis etwas Besonderes.

      Mittlerweile hatte er fast jede Scheu verloren, der Mann schlief ja meistens und er – Matthis – wurde gebraucht. Eines Tages in der zweiten Woche war der Patient wieder aufgewacht, wie schon beim ersten Mal, als Matthis ihm etwas vorgelesen hatte. Er hatte eine ganze Weile mit offenen Augen da gelegen und völlig unvermittelt zu reden begonnen. Seine Stimme war schon etwas kräftiger als zuvor, aber immer musste Matthis gut hinhören.

      »Ich war Bäume kaufen. Jakobpeter … und dann … drei Männer …«, er hustete, Matthis gab ihm Tee.

      »Soll ich jemanden rufen? Anna?« Matthis wollte aufstehen und seine Mutter oder seine Schwägerin holen, aber der Fremde hielt ihn zurück.

      »Matthis, nicht?« Der Junge nickte. »Da waren drei Männer … Und dann … kalt …«

      Wieder hustete er heftig, Matthis sah, dass er kaum Luft bekam und Schmerzen hatte. Er gab ihm erneut von dem Tee, dann aber öffnete er die Tür des kleinen Raumes und trat auf die Deele.

      »Anna«, rief er, »schnell, er ist wach!«

      Anna kam aus der Küche, langsam, behäbig, den großen, schweren Bauch haltend. Es dauerte jetzt nicht mehr lange, dachte der Junge, dann bin ich Onkel. Anna trat in die Kammer, aber Sieker war wieder eingeschlafen. Sie schaute erst ihn an, dann sah sie sich im Zimmer um.

      »Du machst das richtig gut. Es scheint ihm besser zu gehen, aber den Schlaf braucht er weiterhin. Er hat ja einiges durchgemacht!«

      Matthis lief wegen des Lobs rot an und nickte.

      »Er ist wohl überfallen worden, er sprach von drei Männern, aber mehr hat er nicht gesagt. Er hustet so schlimm.«

      »Das wird, das braucht seine Zeit. Gib ihm nur weiter Tee, kühl ihm die Stirn, wenn er fiebert und ruf mich, wenn was ist.«

      Sie stützte mit der Hand ihren Rücken, streckte sich und watschelte davon.

      Der Kranke schlief weiterhin die meiste Zeit und war in seinen wachen Stunden äußerst wortkarg. Er starrte an die Decke, schaute kaum auf, wenn jemand in den Raum kam und nickte nur dankbar, wenn ihm Wasser oder Brei gereicht wurde. Matthis half ihm beim Essen und Trinken, kämmte ihm Haar und Bart, leerte fast ohne Murren die Bettpfanne, die Sieker ihm verschämt hinhielt und fühlte sich wichtig. Erst am Ende der dritten Woche begann der Kranke, seinen jungen Pfleger öfter mal leicht gequält anzulächeln und mehr als »Bitte« oder »Danke« zu sagen. Matthis erfuhr, dass Sieker Tischler war, und bald führten sie Gespräche über die Bearbeitung von Holz. Das heißt, Matthis sprach und sein Patient nickte, lächelte, schüttelte den Kopf und ließ nur selten eine Frage hören. Neben dem Lesen war die Arbeit mit Holz immer Matthis stille Leidenschaft gewesen, die er vor seiner Familie aber wohlweislich so gut wir möglich verborgen gehalten hatte. Die Brüder hätten ihn mal wieder ausgelacht und so mit anderer Arbeit vollgepackt, dass er Säge, Holz und Nägel in den nächsten Jahren nicht mehr zu sehen gekriegt hätte.

      »Immer geben sie mir Aufgaben, die jeder Trottel erledigen kann oder für die selbst der Knecht sich zu schade ist«, berichtete er seinem Patienten. »Als ich noch sehr viel kleiner war, hat Anton mir das Schnitzen beigebracht, aber seit der weg ist, nimmt keiner mich hier ernst!«

      Wie fast immer nickte der Genesende nur.

      An diesem Abend durfte Sieker das erste Mal aufstehen, die Kammer, die man für ihn gerichtet hatte, verlassen und am Abendessen seiner Gastgeber teilnehmen.

      Matthis trat ein bisschen verlegen und mit rotem Kopf in das Krankenzimmer und hielt etwas hinter dem Rücken versteckt. Er fand es anmaßend, dem Fremden so ein Geschenk zu machen, aber Mama hatte gesagt, das sei in Ordnung, eine nette Geste sogar. Trotzdem war es dem Jungen peinlich und er glaubte, er würde gleich stolpern, da lächelte der Patient das erste Mal.

      »Was hast du denn da?«, fragte er, seine Stimme klang ein wenig heiser und so, als hätte er die Worte mühsam suchen müssen. Diese Unsicherheit machte Matthis Mut, er streckte die selbstgebauten Krücken, die er in den vergangenen Tagen gefertigt hatte, Herrn Sieker entgegen.

      »So können Sie sich besser bewegen, in der ersten Zeit«, murmelte er mit gesenktem Kopf. Der so Beschenkte nahm die erste Krücke in die Hand, strich über das Holz, hielt sie hoch, und legte sie nahezu behutsam zur Seite. Dann nahm er die Zweite genau so unter die Lupe.

      »Hast du die gemacht?«, fragte er dann in der gleichen, etwas schleppend wirkenden Sprechweise. Matthis nickte.

      »Ja«, antwortete er schüchtern, »ich dachte, Sie könnten sie gebrauchen, wenigstens am Anfang. Anna meint, Sie werden irgendwann wieder richtig laufen können, aber es braucht Zeit!«.

      »Die sind richtig gut!«, staunte Sieker und tat dabei so, als hätte er die letzte Bemerkung gar nicht gehört. Wieder nickte der Junge, bevor er auffordernd die Tür der Kammer ein Stück aufstieß.

      »Sind Sie bereit? Die Familie wartet!«

      Mühsam stemmte sich der Patient hoch, aber die Krücken passten so gut zu seinem Körper, dass er es schaffte, die paar Schritte bis zum Küchentisch der Familie zu schaffen. Mit stolzgeschwellter Brust folgte Matthis ihm. Es wurde still, als sie eintraten. Fürsorglich rückte Matthis einen Stuhl vom Tisch ab, Papa sah auf und sagte: »Willkommen an unserem Tisch!«, dann wartete er, bis der Gast sich mit Matthis Hilfe hingesetzt hatte. Er schaute in die Runde, faltete die Hände und sprach das Tischgebet.

       5.

      Hannah Ahrendt wohnte in einem Kotten, genau zwischen dem Hof ihres Schwagers und der kleinen Stadt Berghausen. Zu diesem Häuschen gehörte eine alte Schmiede, die seit etlichen Jahren nicht mehr in Betrieb war, der Schmied aus S. kam alle paar Monate mit dem Wagen über Land, um die Pferde zu beschlagen. Außerdem stand ein großer Schuppen daneben, in dem Hannah ihre Ziegen hielt. Er beherbergte im Winter die Hühner und bei schlechtem Wetter auch mal die kleine Herde. Allerlei Zeug stand darin herum, das Matthis zum Spielen angeregt hatte, als er jünger war. Früher war er mindestens zwei, dreimal die Woche hier gewesen, hatte seiner Tante in ihrem großen Gemüsegarten hinter dem Haus geholfen, beim Trocknen der vielen Kräuter und bei den Ziegen, beim Käsen und allem, was dazu gehörte. Trotzdem hatte Tante Hannah ihm und seinem Vetter Paul immer Zeit gelassen, miteinander zu spielen, zu stöbern und zu toben. Anna, Peters Frau, war oft mit ihm hierhergekommen. Sie hatte vor ihrer Heirat in Berghausen gewohnt, ihre Mutter war Hannahs Freundin gewesen. Alles, was Anna über die Heilkunst wusste, hatte sie hier gelernt. Sie hatte den Kräutergarten mit angelegt und dabei Peter kennengelernt, bei einem der seltenen Male, in denen er seine Tante besuchte.

      Seit ein, zwei Jahren aber spannte Matthis Vater ihn immer mehr im elterlichen Betrieb ein, und Hannah musste sehen, wie sie allein zurechtkam. Matthis hatte nie gefragt, warum Vater so entschieden hatte, obwohl er sich hier draußen immer wohlgefühlt hatte, war das Wort seines Vaters Gesetz. Er kam nur noch ein paar Mal im Monat her, wenn die Mutter ihn schickte, um ihrer Schwester etwas zu bringen. Seit dem Tag, an dem er auf dem Weg hierher Herrn Sieker gefunden hatte, wusste er ja, dass es um Ansehen, Anstand und Tugend ging, Werte, die seinem Vater außerordentlich wichtig waren. Vater konnte Tante Hannah nicht leiden, aber er hätte es trotzdem lieber gesehen, wenn sie bei ihnen auf dem Hof wohnte – Matthis verstand das nicht hinreichend. Sicher, er würde sich freuen, schließlich liebte er Hannah und ihren Sohn ja.

      Matthis lief langsamer und hatte den Kotten fast erreicht, als er seine Tante aus dem Ziegenstall kommen sah. Noch halb