Natascha Neumann

Anders Sein


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warm halten«. Aber wie, und womit? »Denk nach!«, raunte er sich selbst zu, da fiel sein Blick auf den Beutel. Schnell leerte er ihn aus, trennte die Naht auf und legte sie dem Patienten über die Beine. »Und nun?« Matthis kratzte sich am Kopf, denn mehr fiel ihm beim besten Willen nicht ein. Der Mann sollte schleunigst hier weg, ohne Frage. Er war nicht in der Lage, ihn allein zu bewegen. Also musste er ihn hier lassen und Hilfe herbringen. Zögerlich stand er auf, drehte sich noch einmal um und sprach dem Mann mit seiner hellen Jungenstimme Mut zu: »Ich bin schnell zurück, ich hole nur Hilfe, ja? Bleiben Sie … äh, ich meine, es geht wirklich schnell«, dann rannte er los.

      Normalerweise hätte er sicher fast eine halbe Stunde nach Hause gebraucht, aber diesmal beschleunigten die Angst und die Aufregung seine Schritte. Schon ein paar hundert Meter von Bauernhaus entfernt rief er. »Peter, Erich, Vater! Mama, kommt schnell!« Er hustete vor lauter Anstrengung, aber trotzdem schrie er weiter, so laut es ging. Der Hofhund hatte ihn schon gehört, er bellte aufgeregt. »Anna!«, fiel ihm ein, »wir brauchen auch Anna!«.

      Der Platz vor dem Hallenhaus war leer und verschlammt, aber die ausladende Hoftür stand weit offen, Matthis lief kreischend und keuchend darauf zu. Seine erwachsenen Brüder Peter und Erich kamen mit großen Schritten, der Vater war kaum langsamer direkt aus dem Stall. Anna erreichte Matthis zuerst. Ein bisschen kurzatmig, weil der schwangere Bauch sie schon behinderte, fragte sie: »Was ist passiert?«

       2.

      Es dauert nicht lang, den Verletzten so schonend wie möglich mit einer eilig hergestellten Trage aus Decken und robusten Ästen auf den Hof zu bringen.

      Hier legte Anna saubere Tücher bereit, schrubbte zusammen mit der Magd den großen Tisch in der Deele mit heißem Wasser und ließ dann den Kranken darauf legen. Auf dem kleinen Bord neben ihr hatte sie zahlreiche Säckchen und Tüten aufgereiht. Als Matthis daran vorbeiging, drang ihm der Geruch der Kräuter in die Nase: Kamille, Pfefferminze, Holunder und vieles, was er nicht erkannte. Er öffnete den Mund, um zu fragen, da wandte sich seine Schwägerin zu ihm um: »Das Bein muss geschient werden Ich brauche eine Latte, kannst du…«, bevor sie zu Ende sprechen konnte, flitzte der Junge los und kam rasend schnell mit einem recht geraden, beinlangen Brett zurück. Anna nahm Maß, »Passt wunderbar, Junge«, murmelte sie erstaunt. »Nun lauf!« Aber Matthis blieb stehen. Sein Vater schaute noch einmal auf den Verletzten, dann sagte er wortkarg: »Ruf mich!« Die Brüder waren nach Ablegen Ihrer Last gleich wieder verschwunden. Nur Anna, seine Mutter und Matthis waren auf der geräumigen Deele.

      »Geh, mach einen großen Becher mit zwei Löffeln Weidenrinde und tu ein paar Holunderblüten hinzu!«, wies seine Schwägerin ihn an, ohne den Blick vom Verletzten zu nehmen. »Und bring Decken, viele Decken.«

      Sie legte die Hand auf die Stirn des Unbekannten, er regte sich nicht, nur sein Brustkorb hob und senkte sich. Manchmal hustete er schwer, aber ein anderer Ton war bisher nicht über seine Lippen gekommen, er schien tief bewusstlos.

      »Wird er es schaffen?«, fragte Matthis‘ Mutter leise.

      »Das weiß Gott allein«, gab Anna stirnrunzelnd zurück, während sie die Brust des Kranken behutsam mit einer kräftig nach Fichte und Thymian riechenden Salbe einrieb. »Ich werde sein Bein schienen, die Wunden versorgen und versuchen, das Fieber zu senken. Er muss es ständig warm haben und viel, viel von dem Tee trinken. Dann müssen wir abwarten und beten.« Sie reichte Matthis die entsprechenden Säckchen.

      Ihre Schwiegermutter nickte. Sie holte ein kleines Holzstück und schob es dem Kranken zwischen die Zähne, dann fragte sie so leise wie zuvor: »Brauchst du beim Einrichten Hilfe? Er ist ja recht stämmig.«

      »Er schläft und ist ruhig. Es wird gehen«, sagte Anna überzeugt. Noch einmal prüfte sie die Länge des Brettes, tastete das gebrochene Bein ab und richtete es dann mit geübten Griffen.

      Es dauerte mehr als drei Wochen, bis Anna verkündete, der Fremde sei jetzt über den Berg. Sie hatte sich trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft intensiv um ihn gekümmert. Immer wieder hatte sie mit Matthis Hilfe die Wunden gewaschen, Wadenwickel gemacht, bis das Fieber gesunken war, hatte ihm Tee und später Fleischbrühe zu trinken gegeben. Das kleine Zimmer, in dem sonst im Herbst der wandernde Erntehelfer geschlafen hatte diente als Krankenlage. Sie hatte es in den ersten Tagen nur nachts verlassen, bis Peter ein Machtwort gesprochen hatte.

      »Lass das den Jungen machen, der ist ja ganz anstellig, und wenn er was nicht kann, muss er halt Hilfe holen!«

      »Das ist keine Aufgabe für den Jungen, ich brauche ihn auf dem Feld!«, hatte der Vater gesagt, aber die sonst so sanfte und zurückhaltende Anna widersprach ihm.

      »Matthis ist gelehrig, hilfsbereit und besonnen. Außerdem ist die Arbeit langsam tatsächlich etwas zu viel für mich«, sie schaute dem Älteren erst ins Gesicht, dann auf ihren schwelenden Bauch unter der Schürze. »Das Kind kommt bald und ich schaffe es nicht alles allein!«

      Matthis stand daneben, die Hände in den Hosentaschen, den Blick gesenkt.

       »Warum fragen sie mich nicht wenigstens, was ich will?«, dachte er trotzig, aber er sagte nichts. Matthis war froh, zusammen mit Anna zu arbeiten. Eine Abwechslung im ständigen Einerlei Kühe füttern, melken, Ställe ausmisten, dann wieder füttern, melken. Anna zeigte ihm, wie man Wunden reinigte und behandelte, aus welchen Kräutern Tees bereitet wurden und warum, das hatte ihm bisher niemand gezeigt. Er lernte gern Neues.

      Schließlich stellte sich auch Mutter auf Annas Seite, der alte Bauer murrte, drehte sich um und stapfte mürrisch davon. Vor der Tür zündete er seinen Stumpen an, dann setzte er seinen Weg fort.

      Der Fremde schlief viel, sprach kaum und regte sich nur selten. Er ließ alles geschehen, bei den schmerzhaften, unangenehmen Verrichtungen schloss er die Augen, und manchmal stöhnte er.

       3.

      Jakob Sieker packte ein frisches Hemd, eine Hose und allerlei Kleinigkeiten in seinen Reisebeutel. In der Küche suchte er einige Würste, ein Stück Käse und ein paar Äpfel zusammen, als Frieda unerwartet im Raum stand.

      »Wohin gehst du? Und warum ausgerechnet jetzt?« Jakob antworte nicht. Er schnürte sie Lebensmittel in ein Tuch, das er oben auf seine Sachen legte und verließ schweigend den Raum. Frieda stapfte hinter ihm her.

      In der Werkstatt winkte er die beiden Gesellen heran. »Ich besuche meinen alten Freund Johannpeter, der im weiten Umkreis das beste Holz hat. Wir benötigen Stieleichen – je gerader, desto besser. Ich werde sie aussuchen und bestellen.

      Es sind nur drei Tagesreisen, und nächste Woche bin ich wieder da, und auf uns wartet viel, viel Arbeit, aber auch gutes Geld. Also genießt meine Abwesenheit!« Daraufhin hatte er schief gegrinst und sich seinem Sohn zugewandt.

      »Joni, du bist schön brav, ja, und tust, was Tante Agnes und Onkel Ernst dir sagen, nicht?« Der Kleine hatte ihn umarmt und versucht, nicht zu weinen. Dabei war er erst fünf Jahre alt! Ein tapferer Junge. Bei dem Gedanken an seinen Sohn wurde ihm warm ums Herz, er seufzte tief und sorgenvoll. Es war ein paar Tage vor seiner Reise etwas geschehen, so entsetzlich, dass er dringend fortmusste, weg von alldem, um einen klaren Kopf zu bekommen. Da kam der Auftrag zur rechten Zeit. Agnes hatte ihm ins Gesicht gesagt: »Du kannst nicht davor weglaufen! Es ist passiert und vielleicht – wahrscheinlich! - wird es wieder vorkommen. Der Junge braucht dich jetzt. Ihm hat das doch noch viel mehr Angst gemacht als dir und mir!«

      Aber Jakob hatte nur den Kopf geschüttelt und ihr das Versprechen abgenommen, niemandem etwas von dem, was sie gesehen hatte, zu erzählen.

      »Kümmere dich um ihn und pass gut auf ihn auf. Wenn ich das Holz gekauft habe, sehen wir weiter!«

      Dann war er fortgegangen. Hatte bei jedem Schritt mehr Abstand gewonnen, hatte dabei geweint, geflucht, mit seinem Herrgott gehadert.

      »Warum? Warum muss dieser kleine Junge so leiden, so etwas Schreckliches erleben? Gibt es nicht genug Menschen, die so etwas verdient hätten? Du hast mir schon die Frau genommen und nun machst du auch noch meinen Sohn krank?« Die Tränen liefen ihm über das Gesicht, aber er scherte sich nicht darum. Er war allein hier