Liesa-Maria Nagel

ANGEL


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      Diese Frau in seinem Arm, schlafend und dem Tode näher als dem Leben, vollbrachte dieses Wunder. Sie war die Einzige, die sein Herz rührte. Sein Schützling. Seine Aufgabe. Seine Nemesis.

      Man hatte ihn an sie gebunden. Mit Herz und Haut. Alles, was sie fühlte, fühlte auch er. Sie fror entsetzlich, alles schmerzte. Sogar das Atmen tat ihr weh. Obwohl sie schlief, spürte sie den Schmerz und so auch er.

      In seinem Inneren krampfte sich alles zu einem harten, eiskalten Klumpen zusammen, als er ihr Gesicht betrachtete. Es würde das letzte Mal sein. Wenn nicht für immer, dann für eine sehr, sehr lange Zeit. Er konnte nicht mehr bei ihr bleiben. Zu gefährlich war die Welt geworden. Man jagte jene, die so waren, wie sie. Ganz besonders sie und ihre Schwester, seit man herausgefunden hatte, wo die beiden lebten. Die ungleichen Geschwister waren einzigartig. Nichts konnte man mit ihrer Macht vergleichen.

      Doch dank seinem Einsatz würde sich keine von beiden daran erinnern, woher sie kamen oder wer sie wirklich waren. Dafür hatte Claude gesorgt.

      Endlich erreichte er das alte Herrenhaus, den sichersten Ort der Welt. Seit er den Ring aus kleinen Salzkristallen überwunden hatte, fühlte er sich behütet.

       Hier würde es ihr gut gehen.

       Bestimmt.

      Wie ein Mantra betete Claude die Worte herunter. Wieder und wieder. In der verzweifelten Hoffnung, er könnte sie endlich glauben.

      Mark erwartete ihn bereits auf der Schwelle und hieß die beiden mit ernster Miene in seinem Haus willkommen. Der ältere Mann mit den graugrünen Augen wusste genau, warum Claude hier war und warum er diese Frau mitgebracht hatte. Lange hatte sein Freund überlegt, ob diese Entscheidung die Richtige sei. Ob Mark derjenige sei, der sie an seiner statt beschützen konnte. Doch schließlich hatte Claude begriffen, dass dieser Mann Angels einzige Chance auf ein glückliches, normales Leben war. Mark und ihn verband eine uralte Pflicht. Einst hatte Claude ihm einen Gefallen erwiesen, der mit dem Leben des Mannes aufzuwiegen war. Über Jahre hatte er ihn sich aufgehoben. Bis heute.

      Mark würde ihr helfen. Sein Ehrgefühl würde ihn dazu zwingen. Claude konnte ihr nicht mehr beistehen. Die Bürde, die sie trug, war auch ohne ihn schon schwer genug. Ein Werwolf mit ihren Kräften zu sein, war gewiss nicht leicht.

      „Gibt gut auf sie Acht“, sagte der Wächter zu seinem Freund. „Ich kann sie nicht beschützen, sie ist nicht mehr sicher bei mir. Sag ihr niemals, woher sie kommt. Sie wird sich ohnehin nicht erinnern können. Weder an mich, noch an unsere Zeit oder ihre Entstehung. Du bist der Einzige, dem ich diese Aufgabe anvertrauen kann. Hüte sie gut.“

      Der bloße Gedanke daran, sie zu verlassen, brachte ihn schier um. Das Atmen fiel ihm schwerer, als Mark langsam nickte und die bewusstlose Frau aus seinen Armen barg.

      So schnell er konnte, wandte sich Claude ab und ging davon. Es kostete ihn alle Mühe, nicht zu rennen. Tausendmal glaubte Claude, den Verstand zu verlieren. Aber er konnte nicht. Er durfte nicht!

      Alles, was ihm geblieben war, war sie aus der Ferne zu beobachten. Nur, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab, durfte er eingreifen. Es war einfach zu riskant. Fluch hin oder her. Er durfte sie nicht lieben. Er durfte sie nicht begehren. So vieles durfte er nicht ...

      Alles, was ihm geblieben war, war sie aus der Ferne zu beobachten und ihr alles Glück der Welt zu wünschen.

      

       Kapitel I

       Ich war atemlos, blind und taub. Meine Füße schmerzten. Wie weit war ich wohl schon gegangen?

       Irgendwann, vor Tagen oder Wochen, bin ich aufgewacht. An einem schroffen, felsigen Ufer. Meeresrauschen. Kälte. Schnee war auf mich gefallen und hatte alles in einen weißen Mantel gehüllt.

       Ohne zu wissen wohin, bin ich gelaufen, immer und immer weiter, bis ich nicht mehr konnte. Ich wusste nicht, wer ich war, woher ich kam. Alles war wie im Nebel, meine ganze Erinnerung. Nichts war geblieben. Nur ein Name.

       Ich war gelaufen - ewig, wie es mir schien. Ohne zu schlafen oder zu essen. Einfach geradeaus.

       Nun lag ich am Boden, irgendwo. Meine Kraft war aufgebraucht. Ich war müde. Erschöpft. Ausgelaugt. Und ich fühlte mich so merkwürdig. Als ob etwas in mir fehlen würde, mir aber nicht klar war, was. Vorher war etwas da gewesen, dort in meinem Herzen, doch jetzt war es fort. Jemand … Jemand, der mir entsetzlich viel bedeutete. Er hatte mich verlassen! Nun war ich allein, verlassen und allein. Ich erinnerte mich nicht, wer er war. Mir schnürte sich die Brust zu vor Schmerz und ein Schatten bemächtigte sich meines Herzens. Ich war allein, ganz allein mit diesem Schatten, diesem grausamen Schatten, der auch ich war. Mein anderes Ich. Diese große, schwarze, machtvolle Kreatur. Dieses Wesen aus Finsternis ... Finsternis ...

      *

      Alles, was ich spürte, war Schmerz. Tief im Innern meines Körpers und außen auf meiner Haut. Schlagartig katapultierte mich mein Bewusstsein in die wache Welt zurück. Ich keuchte.

      Was war das hier um mich herum? Es war so weich und warm. Leises Knistern und Knacken. Der Geruch von verbranntem Holz und Asche. Doch da war noch mehr. Körperliche, lebendige Wärme. Der sachte Rhythmus eines schlagenden Herzens. Ein Lebewesen, aber kein Mensch.

      Was war mit mir geschehen? Wieso war ich hier? Wo war ich? In meinem Kopf drehte sich alles wie in einem Karussell. Die Fragen überschlugen sich. Der Schmerz, der das Auf und Ab begleitete, raubte mir fast den Atem. Ich krallte die Finger in mein Haar und zog daran, würgte an dem schrecklichen Schmerz, der meinen Kopf in zwei Teile zu spalten schien. Doch auch, wenn ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, eine Erkenntnis schaffte es, sich bis in mein Bewusstsein durchzukämpfen:

       Ich wusste nicht, was geschehen war. Wenn ich versuchte, mich zu erinnern fand ich nur Schwärze.

       Da war nichts!

      Ruhe kehrte ein in meinem Kopf. Jeder Gedanke, jeder Schmerz wurde von einer plötzlichen, eiskalten Panikwelle erfasst und weggerissen. Mein Atem überschlug sich. Meine Augen, obwohl sie weit aufgerissen waren, nahmen nichts mehr wahr.

      Ein Schrei gellte durch den Raum, ich hörte das Echo der Wände. Es dauerte nur einen einzelnen Herzschlag und ich hörte schnelle Schritte, eine Tür. Jemand fiel neben meinem Bett auf die Knie. Seine Knochen polterten auf dem Boden, der offenbar aus Holz war. Ich versuchte mich wieder gerade aufzusetzen und spürte starke Hände an meinem Rücken, die mir halfen. Mit aller Kraft versuchte ich, sie wegzuschlagen. Ich wollte nicht, dass jemand mich berührte. Doch die Hände gaben nicht auf und mit einem verärgerten Knurren half man mir hoch.

      „Angel! Bitte komm zu dir! Du hast schon wieder geträumt!“

      Ich verstand die Worte nicht. Nur Augenblicke später hörte ich noch mehr eilige Schritte und spürte dann die Wärme mehrerer Körper. Das schnelle Schlagen ihrer Herzen, die eilig Blut durch Adern pumpten und die persönlichen Gerüche eines jeden von ihnen, die sich in dem Raum miteinander mischten. Erstickend und viel zu viel für mein gemartertes Hirn. Ein innerer Instinkt sagte mir mit Sicherheit, sie waren keine Menschen und der Gedanke ließ mich innehalten.

       Keine Menschen.

       Artgenossen.

      Mich darauf zu konzentrieren fiel mir nicht leicht, aber dann erkannte ich es doch. Ein einzelner, besonderer Geruch stieg mir in die Nase.

      Werwolf

      Der Geruch war es, der mich auf den Boden der Tatsachen zurückschleuderte. Atemlos blinzelte ich, bis ich wieder klar sehen konnte.

       Ich war hier zu Hause!

      Ich