Liesa-Maria Nagel

ANGEL


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blickten voller Sorge zu mir auf. Das rotbraune Haar war zerzaust, als sei er gerade erst aus dem Bett gesprungen. Dass er lediglich eine Boxershorts trug, unterstützte diese Vermutung.

      „Schon gut“, keuchte ich und rieb mir mit der freien Hand über die Augen. „Ich … Ich bin wieder da.“

      Ein erleichtertes Aufatmen ging durch den Raum. „Gott sei Dank“, seufzte jemand und es klang nach einem sehr müden Victor. Ich hob den Kopf und entschuldigte mich bei ihnen allen. Das ganze Rudel stand in meinem Zimmer.

      Mal wieder …

      Victor und sein Sohn Nicolai standen schlaftrunken in der Tür, durch die das blasse Licht des späten Nachmittags schien. Hinter den beiden Spaniern erkannte ich Lukas. Sein blonder Haarschopf schaute gerade noch so über Nicks Schultern.

      Seth setzte sich zu mir aufs Bett, aber es war nicht er, den ich jetzt ansah, den ich nun stumm um Verzeihung bat. Mein Blick galt Mark, der mich düster musterte. Er sah als Einziger nicht so aus, als käme er gerade aus dem Bett. Vollständig bekleidet und mit ordentlich zusammengebundenem Haar stand er da. Wahrscheinlich hatte er gar nicht geschlafen.

      „Wieder dieser Traum?“, fragte er. Ich nickte schwach, woraufhin er nur ein wütendes Schnauben ausstieß.

      Immer wenn ich diesen Traum hatte, weckte es seinen Zorn. Er mochte nicht, dass ich unter meinem Gedächtnisverlust so litt. Immerhin war ich schon fast einen Monat hier.

      „Wir müssen endlich einen Weg finden, damit diese Träume aufhören!“, rief Seth an meiner Seite und blickte anklagend zu Mark auf. „So kann das nicht weitergehen! Sieh dir an, wie fertig sie ist!“

      Mark bedachte ihn mit einem warnenden Blick. „Ich habe Angel bereits nach dem zweiten Mal angeboten, ihr Schlaftabletten zu geben, bis uns etwas Besseres eingefallen ist, aber das will sie nicht.“

      Seit ich hier war, hatte es Seth sich zur Aufgabe gemacht, auf mich aufzupassen. Auch gegen den ausdrücklichen Willen seines Alphas. Mark gefiel es nicht sonderlich, dass er eine so enge Verbindung zu mir aufgebaut hatte. Aber nicht einmal das konnte Seth noch davon abhalten.

      Mit einer herrischen Geste unterband Mark jedes weitere Wort, ehe Seth erneut auffahren konnte. „Geht wieder schlafen. Du auch, Seth! Lass mich einen Moment mit Angel allein.“

      Nur widerwillig erhob sich Seth und verließ zusammen mit den anderen mein Zimmer. Erst, als wir allein waren, setzte sich Mark an meine Seite. Er sah mir fest in die Augen und ich konnte nicht umhin seinen Blick zu erwidern. Je ernster er wurde, desto dunkler wurde das Graugrün seiner Iris. Im schwachen Licht, das durch die zugezogenen Vorhänge sickerte, wirkte sein Haar viel dunkler, als es wirklich war. Das matte, von zahlreichem Grau durchzogene Schwarz schien jetzt viel reiner.

      „Angel, du bist jetzt schon eine ganze Weile hier. Langsam musst du wirklich versuchen, diese Dinge hinter dir zu lassen. Es sieht nicht so aus, als wenn wir je deine Vergangenheit wiederfinden. Alle Suchen blieben bisher ohne Ergebnis. Aber du bist hier sicher und auch, wenn wir immer noch nicht wissen, woher du kommst, wir bleiben bei dir. Du gehörst zu uns und bist ein Teil vom Rudel.“

      Ich seufzte schwer und versuchte ein Lächeln. „Du weißt, wie dankbar ich euch dafür bin, und ich will endlich hinter mir lassen können, dass ich nicht mehr weiß, woher ich gekommen bin. Aber es lässt mich nicht los! Jeden Tag, wenn ich schlafe, träume ich von Dingen, die vielleicht gewesen sind oder die ich mir wünsche. Immerzu diese Träume vom Verlassen werden und von meiner Ankunft hier. Mark, ich werde das nicht ewig durchhalten können! Immerzu dieser Traum von der kalten Nacht! Immer wache ich schreiend auf! Und dann dieses Gefühl in mir ... Dieser Schmerz. Mark, es fühlt sich an, als hätte ich das Wichtigste in meinem Leben verloren. Ich kann das nicht so einfach vergessen. Die Träume lassen das nicht zu. Es ist, als wolle etwas in mir unbedingt herausfinden, wer ich bin! Es will sich mit aller Kraft erinnern und ich kann nichts dagegen tun.“ Ein Schluchzen entwand sich ungewollt meiner Kehle. „Ich bin jetzt schon so lange hier und wir konnten nichts über meine Vergangenheit herausfinden. Niemand scheint mich zu vermissen.“

      Mark streichelte beruhigend über meinen Kopf. „Wir haben doch schon einmal über die wahrscheinlichste Theorie gesprochen. Es war sicher kein Unfall oder Verbrechen. Es wird ein Zauber gewesen sein, der dich eigentlich umbringen sollte. Du kannst von Glück reden, dass du noch lebst. Also mache dir nicht solche Gedanken darum. Sei froh, dass wir dich gefunden haben. Hier bist du sicher. Übermorgen ist Lammas. Und dieses Jahr ist unser Fest des Lichts etwas Besonderes, da es auf eine Vollmondnacht fällt. Es ist dein erster Vollmond hier, wir müssen dich vorbereiten.“

      Ich nickte mit angehaltenem Atem. Diese schrecklichen Träume und die Suche nach einem Hinweis hatten mich so vereinnahmt, dass ich den näher rückenden Vollmond völlig vergessen hatte. An so vieles hatte ich gedacht, aber nicht daran, dass ich mich bald verwandeln würde. Auch, wenn es wahrscheinlich nicht so war, mir kam es mir wie das erste Mal vor. Alles, was ich die letzten Wochen tat und lernte, erfuhr ich zum ersten Mal. Mein Alltag war immer noch erfüllt von 'Ersten Mal's', dass ich den Überblick schon völlig verloren hatte. Die Unterscheidung zwischen Dingen, die ich wusste und Dingen, die ich neu lernen musste, war unglaublich schwierig. Dauernd mischten sich unterbewusste und instinktive Handlungen ein. Niemand wusste, was genau in mir steckte. Ich am allerwenigsten. Das war auch Marks Sorge, was die bevorstehende Verwandlung betraf.

      Langsam erhob er sich und streckte seinen immer noch starken, muskulösen Körper. Er war schon alt, älter, als die meisten meiner Art, sah jedoch aus, wie Ende dreißig.

      „Hast du die Bücher durch?“, erkundigte er sich. Immer, wenn er mit mir über das Lernen sprach, hatte er diesen Lehrerblick. Streng und wissend. Man konnte nichts vor ihm verbergen.

      „Fast. Ich werde bis morgen früh alle durchgelesen haben.“

      Mark nickte nur knapp und wandte sich zur Tür. „Du solltest noch etwas schlafen. Du brauchst alle deine Kräfte.“

      Der Ratschlag klang halbherzig, aber wahrscheinlich nur, weil er genau wusste, dass ich kein Auge mehr zutat.

      „Klar“, erwiderte ich und sah ihm nach, „schlaf gut.“

      „Du auch.“ Leise schloss sich die Tür hinter ihm. Ich wartete gerade solange, bis ich das Klicken seiner eigenen Türe hörte, ehe ich nach dem Bücherstapel neben meinem Nachttisch langte.

      Seit ich hier aufgewacht war, hatte ich einige Dutzend Bücher verschlungen. Auch in ihnen hoffte ich auf Dinge, die Erinnerungen in mir weckten. Bisher hatte ich jedoch nur Unmengen über Werwölfe und Dämonen erfahren. Den ganzen Stammbaum der Hölle kannte ich auswendig, jeden Feiertag meiner Rasse. Nur ich selbst war mir nach wie vor ein Rätsel. Da gab es auf diesem Planeten Tausende meiner Art und niemand vermisste mich. Dabei brüstete sich die Elite stets damit, dass sie über jeden von uns ihre Hand hielt. Ich erinnerte mich dunkel daran. Mark hatte mir einiges über den Rat erzählt. Wie sie herrschten und wer an der Spitze stand, aber er sagte mir auch, das Craven kein Ort war, der sich beherrschen ließ. Mark war sein eigener Herr und gehorchte niemandem.

      Bereits eine Woche nach meinem Erwachen war ich wieder vollkommen gesund gewesen. Die Taubheit meiner Glieder, die ich gespürt hatte und die schreckliche Erschöpfung waren verschwunden. Meine Muskeln vollständig erholt.

      Warum ich von Anfang an wusste, dass ich kein Mensch war, hatte mir niemand beantworten können. Aber ich konnte wohl von Glück reden, dass ich in der Obhut eines freien Werwolfrudels aufgewacht war und nicht in den Händen eines Menschen. Die dämonische Weltbevölkerung achtete seit Äonen darauf, unentdeckt zu bleiben. Was geschehen wäre, wenn ein Mensch mich in die Hände bekommen hätte – darüber dachte ich lieber nicht nach.

      Doch seit ich wieder gehen und mich frei bewegen konnte, gab es nur eine Frage, die mich tagein, tagaus beschäftigte. Jeden Abend, wenn das Leben hier auf Craven begann und alle erwachten.

       Wer bin ich?

      Jede Nacht versuchte ich aufs Neue, etwas über mich herauszufinden. Das stellte sich jedoch schnell als schwierig heraus.