Liesa-Maria Nagel

ANGEL


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...“, stellte ich tonlos fest und sah auf meine Hände. Der Gedanke stimmte mich traurig. Ich wollte nicht weg.

      „Angel, das wollte ich damit nicht sagen und das weißt du auch! Du musst dich bloß entscheiden. Entweder für einen von ihnen oder gegen. So einfach ist das. Wenn du das einmal klargestellt hast, ist Ruhe. Sie sind ehrenvolle Männer, auch wenn sie nicht so aussehen. Sie werden dein Wort respektieren.“

      Verblüfft und verwirrt zugleich starrte ich ihn an. „Aber …“

      „Kein Aber! Sieh zu, dass du ihn findest, und rede mit ihm.“ Seine Hand ergriff meine Schulter und drängte mich in Richtung Tür. „Los!“

      „Kann ich dich denn hier alleine lassen?“, erkundigte ich mich leise. Zwar heilten wir unglaublich schnell, so eine Quetschung war wohl unter einer Stunde völlig verheilt, aber nichtsdestotrotz machte ich mir Sorgen um ihn. Auf der anderen Seite wollte ich auch nach Seth suchen und sehen, wie es ihm ging. „Geh, mir geht’s gut. Ich werde schon mal die Pfannkuchen machen.“

      Ich nickte stumm und wandte mich endlich um. Kaum war ich aus der Küche heraus, beschleunigten sich meine Schritte.

      Draußen empfing mich eine kühle, feuchte Nacht. Nebel kroch zwischen den Bäumen und Sträuchern hindurch, ließ seine klammen Arme umherwandern.

       Craven lag ein gutes Stück außerhalb von London. Das Gebiet, welches Mark gehörte, war gewaltig. Zwei Tage hatten wir zu Fuß gebraucht, um einmal an der Außenmauer entlang zu gehen. Bis auf das alte Herrenhaus, in dem wir wohnten, gab es nur Wiesen und Wald. Ursprünglich und unbewirtschaftet. Allein der kleine, eingezäunte Gemüsegarten hinterm Haus wurde gepflegt. Abgesehen davon war diese Gegend so wild und frei, wie wir.

      Seth' Geruch zu finden und ihm zu folgen war bei dieser Witterung kein Problem. Denn wie gemalt zog sich seine Spur durch die nasse Luft. Meine Schritte wurden von dem weichen Boden verschluckt, als mich mein Weg immer tiefer in den Wald führte. Dunkelheit und das leise Rascheln von Kaninchen und Spinnen im Unterholz begleiteten mich. Meine Sinne waren bis zum Äußersten gespannt, und obwohl es die Bäume das wenige Licht der Sterne beinah zur Gänze verschluckten, sah ich gut. Meine Augen funktionierten wie die eines normalen Wolfes. Sie fingen jedes bisschen Restlicht auf und reflektierten es in der Nacht.

      Nach ein paar Kilometern durch den nächtlichen Wald hörte ich ihn. Schwerer Atem. Brechendes Holz. Deftige Flüche. Ich verbarg mich auf der windabgewandten Seite hinter einem Baum und beobachtete ihn.

      Immer noch glühten seine Augen gelb vor Zorn. Der breite Eichenstamm, auf den er mit bloßen Fäusten eindrosch, hatte schon eine ansehnliche Kerbe. Überall lagen Holzsplitter verteilt, einige gefärbt von seinem Blut. Als ich mich aus meinem Versteck heraus umsah, entdeckte ich zahlreiche Bäume, die ein ähnliches Martyrium hatten ertragen müssen. Überall sah ich das bleiche Innere unter der abgeplatzten dunklen Rinde schimmern.

      Seth' Aufschrei ließ mich wieder den Kopf wenden. Gerade krachte seine Faust auf das harte Holz nieder. Das widerliche Knacken von Knochen und das feuchte, weiche Geräusch von Fleisch trieben zu mir herüber. Ich schluckte schwer. Er musste damit aufhören.

      „Seth! Hör auf!“

      Ich trat hinter dem Baum hervor und stellte mich ihm. Sofort wirbelte er herum und starrte mich an. Sein Blick traf mich wie ein Pfeil direkt ins Herz und setzte mich in Brand. In meiner Brust krampfte sich etwas fest zusammen und machte mir das Atmen schwer.

      „Geh weg!“ Seine Stimme war kaum zu verstehen. Vielmehr ein wütendes Knurren. Animalisch und voller Zorn. Von seinen offenen, geschundenen Fingerknöcheln tropfte das Blut und sickerte in den Waldboden. Der Geruch driftete träge zu mir herüber. Er erinnerte mich an etwas … Etwas, das zu mir gehörte. Aber was? Ich schob den Gedanken jedoch sofort wieder beiseite. Jetzt hatte ich wirklich Wichtigeres zutun.

      „Nein“, erwiderte ich barsch, „Ich gehe nirgendwo hin, bis du damit aufgehört hast.“

      Seth schnaubte wütend. „Du solltest gehen, wenn du nicht willst, dass ich über dich herfalle.“

      Seine Ehrlichkeit ließ mich einen Moment in meiner Entschlossenheit straucheln. Doch noch, bevor ich etwas darauf erwidern konnte, kam er auf mich zu und sprach weiter. „Seit du hier bist, kann ich an nichts anderes mehr denken, als an dich. Seit du wach bist, ist es kaum noch auszuhalten. Ich will dich nicht zwingen und ich will dich nicht verletzen, aber wenn du jetzt nicht gehst, garantiere ich für gar nichts.“

      Ich merkte kaum, dass ich den Atem anhielt und zu ihm hinaufstarrte. Er stand nun unmittelbar vor mir, eine breite, blutbespritzte Wand aus Muskeln und Verlangen. Dieser scharfe, süße Duft umgab ihn, wie eine zweite Aura. Schritt um Schritt wich ich vor ihm zurück. Er folgte mir, ließ mich nicht für eine Sekunde aus den Augen. Sein Blick verriet, was er wollte, was er sich wünschte und auch bekommen würde, wenn ich mich ihm nicht entzog.

      Erschrocken keuchte ich auf, als ich den Baumstamm in meinem Rücken spürte, rau kratzte er über den Stoff meines Pullovers. Seth gab mir keine Chance mehr auszuweichen und rammte seine blutenden Hände zu beiden Seiten meines Kopfes in das Holz. Ich war gefangen zwischen seinem Körper und dem Baum.

      Die Muskeln in seinen Armen wölbten sich, als er sich langsam vorbeugte, immer näherkam sein Gesicht meinem. Das Haar klebte ihm schweißnass an der Stirn. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Sein Geruch schien mich zu betäuben. Er war alles, was ich noch wahrnahm. Sein heißer Atem strich über meine Wange. Den Kuss erwartend, verharrte ich reglos. Was brachte es mir, mich dagegen zu wehren? Ich wollte bleiben. Wollte mehr von dieser Nähe, dieser Wärme, dieser Zuwendung.

      Seth' Lippen berührten meine nicht. So sanft, dass ein Schauer durch mich hindurchrann, küsste er die weiche Stelle unter meinem Ohr. Ich stöhnte auf. Ein lustvolles, dunkles Knurren kroch aus seiner Kehle und traf mich direkt in meinem innersten Kern. Mir wurde heiß und mein Atem geriet ins Stocken.

      „Du musst nur Nein sagen, Angel. Ein Wort und ich höre auf. Aber sage es jetzt, denn gleich wird es zu spät sein.“

      Ich würde ihn gewähren lassen, das wurde mir in diesem Moment klar.

      Weich und warm spürte ich seine Zunge an meinem Hals. Forschend erkundete er Zentimeter für Zentimeter meine Haut, fuhr die empfindliche Linie der Halsschlagader entlang. Ich zitterte. Es fühlte sich so gut an. Ich wollte mehr davon, aber war ich bereit dafür? Jetzt und heute?

      Langsam ließ die aggressive Spannung in Seth' Körper nach und er ließ sich gegen mich sinken. Sein schwerer Leib presste meinen gegen den Stamm. Seine nun wieder freien Hände fassten meine Hüfte und suchten sich langsam ihren Weg aufwärts. Jede seiner Berührungen verbrannte mich. Er weckte eine Leidenschaft in mir, die ich nicht kannte.

      Und was war, wenn dort doch jemand auf mich wartete?

      Ich stieß ihm beide Hände mit aller Kraft vor die Brust. „Nein!“ Seth taumelte zurück. Verwirrt sah er mich an. „Nein“, wiederholte ich noch einmal und lief los.

      Seth blieb allein und wütend zurück. Er folgte mir nicht. Sein frustrierter, zorniger Schrei begleitete mich fast bis zurück zum Haus.

      *

      Am nächsten Morgen saß ich schon früh draußen auf den steinernen Stufen, die vom Wintergarten hinunter in den Garten führten. Der Nebel der Nacht zog noch immer durchs Gebüsch und alles um mich war still. Kaum Geräusche, nur das leise Atmen der Pflanzen und Steine. Es war so ruhig, dass auch in mir alles schwieg. Selbst meine Gedanken.

      Der milde Morgen des ersten August ermöglichte es mir, bloß in Shorts und Top draußen zu sitzen. Doch auch die Hitze der letzten Nacht war noch in mir, hatte mich nicht schlafen lassen. Seth' enttäuschtes Gesicht hatte sich tief in mein Gedächtnis gebrannt.

      Leise Schritte und das harte Schlagen eines Herzens ließen mich aufschauen. Verhaltener Atem, schwer und angestrengt. Ich wusste schon, dass es Seth war, ehe er durch das schmale Tor am anderen Ende des kleinen Gartens trat.

      Wie jedes Mal, wenn er sich