Liesa-Maria Nagel

ANGEL


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überließ mir für die Suche stets seinen Computer und ich suchte stundenlang das Internet nach möglichen Artikeln über Autounfälle oder vermisste Personen ab. Sogar alle Krankenhäuser, psychiatrische Anstalten und Pflegeheime in und um London hatte ich abtelefoniert. Ergebnislos. Niemand kannte mich oder suchte nach mir. Da war niemand, der mich vermisste. Nichts, was dieses Loch in meinem Herzen erklärte.

      Das Seltsame an meinem Gedächtnisverlust war, dass er sich lediglich auf meine persönlichen Erinnerungen bezog. Als hätte der Jemand, der mich beseitigen wollte, nur ganze bestimmte Bereiche ausgewählt und zerstört. Ich erinnerte mich nicht daran, wo ich aufgewachsen war oder wer meine Eltern waren, dafür aber sehr wohl an die Tatsache, dass ich ein Werwolf war. Mir fehlte das Wissen um mein eigenes Alter, aber ich erinnerte mich daran, wie es war zu jagen und zu töten. Nicht an die Verwandlung selbst erinnerte ich mich, aber ich kannte den Schmerz.

      Seufzend stützte ich den Kopf in die Hand und ließ das Buch über Feiertage und den heidnischen Kalender in meinen Schoß sinken. Wer nur könnte mir etwas so Schreckliches angetan haben? Und warum hatte dieser Jemand seinen Job dann nicht vollendet und mich gleich getötet?

      Die ersten Tage hatte ich mir das sehnlich gewünscht.

      Nun aber war ich nicht mehr allein. Mark hatte mich so freundlich in seinem Rudel aufgenommen, dass ich vor Kurzem beschlossen hatte, einfach hier zu bleiben. Hier war ich Willkommen und gewollt. Hier war ich sicher.

      Und dann war da auch noch Seth.

      Der rothaarige Mann war mir wohl am Nächsten von allen Rudelmitgliedern. Seit dem ersten Tag meines Hierseins war er an meiner Seite. Er versorgte mich, half mir, wo er konnte und fuhr mich in die Stadt, wann immer mir danach war.

      Nichtsdestotrotz blieb immer das leise Gefühl eigentlich nicht hierher zu gehören. Ich fühlte mich zwar wohl in dem alten, englischen Herrenhaus, aber zu Hause war ich hier nicht. Immer, wenn ich in den Spiegel sah, fragte ich mich, zu wem dieses Gesicht eigentlich gehörte. Angel war der Name, den ich im Kopf hatte, als man mich danach fragte, aber war es wirklich meiner? Den, den meine Mutter mir einst gegeben hatte? Hatte ich das lange, pechschwarze Haar und die dunkelgrünen Augen von ihr oder von meinem Vater? Sahen meine Hände den ihren ähnlich? Hatte ich vielleicht Geschwister? Kinder wohlmöglich? Einen Gefährten?

      So unendlich viele Fragen, auf die ich wohl nie eine Antwort finden würde …

      Werwölfe konnten sehr alt werden. Unsere natürliche Lebenserwartung lag bei mehreren Hundert Jahren. Am Tag unserer größtmöglichen Stärke hörten wir auf zu altern. Daher war es nicht möglich zu sagen, ob ich wirklich erst achtundzwanzig oder bereits achtundneunzig war. Vielleicht war meine Familie, so ich denn jemals eine gehabt hatte, längst tot.

      Tattoos besaß ich keine und auch meine Narben gaben keinen Aufschluss über meine Herkunft. Zwar war mein Körper übersät mit den Erinnerungen meiner Haut, aber keine war so besonders, dass man sie einem Kult, einem Land oder einem Volk zuordnen konnte. Wir heilten sehr schnell, weshalb Narben nur selten entstanden, aber Wunden, die durch Silber oder Salz verunreinigt wurden, hinterließen immer Spuren.

      Fast jeden Abend, wenn ich aufstand, sah ich mir mein nacktes Spiegelbild an und versuchte mich zu erinnern, woher all die Narben kamen. Schön fand ich mich nicht. Zwar hatte ich eine sehr weibliche Figur mit üppigen Rundungen, aber meine Haut war gezeichnet. Unter meiner linken Brust klaffte eine faustgroße Narbe, die so sensibel war, dass ich sie kaum berühren mochte. Arme und Beine, Rücken und Hals, überall erinnerte mich meine Haut an Verletzungen, die ich vergessen hatte.

      

      

      

      

       Kapitel II

      „Hey. Ich dachte mir, du könntest einen Kaffee gebrauchen?“ Seth´ Stimme war dicht an meinem Ohr und im selben Moment tauchte ein dampfender Milchkaffee vor meinen Augen auf.

      „Danke“, murmelte ich und nahm ihm die Tasse ab. Sofort galt meine Aufmerksamkeit jedoch wieder der Anzeige einer Londoner Tageszeitung, die über einen Mord vor zwei Wochen berichteten. Seit dem frühen Abend saß ich vor dem PC und durchforstete das Netz. Geschlafen hatte ich keine Minute.

      „Ach, Angel!“, fluchte Seth leise und drehte den Schreibtischstuhl einfach herum. „Du musst eine Pause machen!“

      „Ich hab gerade gelesen!“ Ich versuchte mich wieder herumzudrehen, aber Seth ließ mich nicht.

      „Nein, du machst jetzt Pause! Trink deinen Kaffee und iss was. So geht das nicht weiter. Du sitzt schon die halbe Nacht an dem Ding.“

      Ich brummte leise und nahm einen Schluck aus meiner Tasse. Er hatte ja recht. Zumal diese Suche überhaupt nichts brachte. Aber ich konnte nicht aufhören. Dieses Loch in meinem Inneren musste gefüllt werden, es fraß mich sonst auf.

      „Komm schon.“ Seth schlug jetzt einen versöhnlicheren Tonfall an. Das konnte er besonders gut, hatte ich schnell feststellen müssen. Dauernd versuchte er mich mit seinem Charme um den Finger zu wickeln, und nicht selten gelang es ihm. „Lass uns hinuntergehen und ich mache dir etwas zu essen. Mark und Victor sind in die Stadt gefahren und den anderen beiden ist langweilig.“ Er zwinkerte mir zu und hielt mir auffordernd die Hand hin. Skeptisch musterte ich ihn. Ich hatte schon Hunger und auch Lust mit den Jungs irgendwelchen Blödsinn anzustellen, aber ich musste einfach weitersuchen.

      Als ich nicht gleich reagierte, seufzte Seth schwer und dann bewegte er sich so schnell, dass ich keine Gelegenheit bekam, zu reagieren. Er schob seine Arme unter mich und hob mich hoch, als wöge ich nicht mehr als ein Sack Federn.

      „Lass mich runter! Seth!“

      Ich versuchte mich seinem Griff zu entwinden, erreichte aber gar nichts. Seth trainierte regelmäßig, sein Körper war stark und muskulös. Und auch, wenn er nur wenige Zentimeter größer war als ich, war er um einiges stärker. Er achtete nicht einmal auf mich. Stur geradeaus blickend verließ er sein Zimmer und schlug den Weg zur Treppe ein. Auf halbem Weg gab ich meine Gegenwehr auf und ließ mich erschöpft gegen ihn sinken.

      „Hast du's endlich eingesehen?“, fragte er und grinste mich schelmisch an. Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust und schwieg. Seth kicherte daraufhin nur leise und nahm die ersten Stufen in Angriff.

      Erst da fiel mir auf, wie warm er war.

      Eine sanfte Wärme, die durch meine Kleider direkt in mein Innerstes vordrang. Es war das erste Mal, seit ich aufgewacht war, dass ich einem von ihnen körperlich so Nahe war. Beinah Haut an Haut. Das Gefühl seines Körpers an meinem löste eine Flut von Reaktionen in mir aus.

      Seth fühlte sich gut an. Seine starken Hände und Arme trugen mich behutsam und leicht. Unter dem dünnen Sweatshirt, das er trug, zeichneten sich kräftige Brustmuskeln ab. Das zerzauste rotbraune Haar fiel ihm bis in den Nacken und lockte sich leicht an den Spitzen. Und er roch so gut! Eine einzigartige Kombination aus Gewitterluft, warmem Holz und Lavendel. Betäubend und atemberaubend.

      Mir fiel gar nicht auf, wie ich mich an ihn schmiegte. Erst, als sich sein Griff um meine Hüfte und an meinen Schultern verstärkte, merkte ich, was ich tat. Sofort versteifte sich mein ganzer Körper und ich wandte mich von ihm ab.

      Was sollte er denn von mir denken, wenn ich mich so an ihn kuschelte? Es war zwar nicht so, dass ich auch vergessen hatte, wie sich die Anziehung zwischen Mann und Frau anfühlte, aber ich wollte ja schließlich nichts von ihm und er nicht …

      Ein neuer Geruch stieg mir in die Nase. Nur eine dezente Note unter seinem Körpergeruch. Süß und schwer und so intensiv, dass sich mein eigener Körper augenblicklich aufheizte.

      „Entschuldige“, sagte er leise und seine Stimme klang rau und tiefer als sonst. „Es fühlt sich nur sehr gut an, dich auf dem Arm zu tragen.“

      Ich