Liesa-Maria Nagel

ANGEL


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Ellbogen waren seine Arme blutig. Mit den Fetzen seines Shirts hatte er sich die Hände verbunden. Immer noch glommen goldene Funken im tiefen Braun seiner Augen.

      Ich musste mich räuspern, bevor ich auch nur einen Ton hervorbrachte.

      „Guten Morgen“, begrüßte ich ihn leise und meine Stimme schnitt durch die Stille.

      „Morgen“, erwiderte Seth rau und blieb einige Schritte vor mir stehen. Die Hitze, die sein Körper ausstrahlte, war atemberaubend. Ich wusste nicht genau, wie ich mit seinen Gefühlen für mich umgehen sollte. Ich wusste ja nicht einmal, wer ich war und wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen.

      Seth war das egal. Das hatte mir Nick gestern gesagt. Er dachte wie ein Tier. Wenn er etwas wollte, dann kämpfte er darum. Er würde auch um mich kämpfen, sollte dort jemand sein, dem ich gehörte.

      Eine kleine Ewigkeit stand er schweigend da und sah mich an. Irgendwann setzte er sich neben mich.

      „Heute Nacht“, begann er, räusperte sich und begann von Neuem, „Heute Nacht ist Vollmond.“

      Ich sah auf, direkt in seine dunkelbraunen Augen. Ich war so sehr mit meinen Gedanken beschäftigt gewesen, dass ich überhaupt nicht mehr über eine Verwandlung nachgedacht hatte. Selbst Nick und Mark hatten gestern noch davon gesprochen und ich hatte trotzdem keinen zweiten Gedanken mehr daran verschwendet. Seth sah in mein erschrockenes Gesicht und lächelte.

      „Du hast nicht daran gedacht, was?“, brummte er leise und ich nickte. „Ist nicht schlimm. Mach dir keine Gedanken darüber. Du schaffst das, da bin ich mir sicher.“ Wieder dieses Lächeln. Warm und so vertraut. Gerade, als ich etwas erwidern wollte, stand er auf und ging an mir vorbei ins Haus.

      Ich sah ihm nach und seufzte traurig. Dieser Mann verwirrte mich. Auf der einen Seite fühlte ich mich zu ihm hingezogen. Er war attraktiv und stark, seine beschützende Art gefiel mir. Doch auf der anderen Seite ließ mich das Gefühl nicht los, dass ich nicht frei war. Nachdenklich und betrübt stand ich einen Moment später auf. Was blieb zu tun? Ich konnte entweder uns allen weiterhin das Leben zu Hölle machen, indem ich Seth auswich oder ich konnte mit ihm reden. Vielleicht verstand er meinen inneren Konflikt und hielt sich zurück. Ein Versuch war es mir wert. Diese Situation zwischen uns musste aus der Welt geschafft werden, Vollmond hin oder her. Wir mussten reden, und zwar sofort.

      Im Haus war es still. So früh am Morgen war für gewöhnlich selten jemand wach, denn als Nachtaktive schliefen die Mitglieder des Rudels um diese Zeit.

      Seth fand ich schließlich im einzigen Badezimmer des Hauses. Seine noch immer aggressive Aura konnte ich sogar durch die geschlossene Tür spüren. Wie glühende Kohlen, ein inneres, loderndes Feuer fühlte ich seine Nähe. Vor der Tür hielt ich inne und atmete noch einmal durch. Ich hatte das Gefühl Kraft sammeln zu müssen, ehe ich ihm entgegen treten konnte. Dann klopfte ich leise.

      „Gleich!“, bekam ich die gebellte Antwort. Statt zu warten, öffnete ich und spähte hinein. Seth saß auf dem Toilettendeckel und versuchte sich umständlich die Finger zu verbinden. Sein Gesicht war konzentriert und von Schmerz geprägt. Die Lippen hatte er so fest aufeinandergepresst, dass sie schon ganz weiß waren.

      Seufzend trat ich ein und schloss die Tür hinter mir. Erst da sah er auf. Sofort wurde sein Blick finster und die Temperatur im Raum schnellte in die Höhe. Mein Körper reagierte sofort; wie ein Magnet schien er mich anzuziehen.

      „Was willst du hier?“, fragte er grob und sah wieder auf seine Hände. Ich sparte mir jede Antwort und ging zum Medizinschrank neben dem Waschbecken. Nach kurzer Suche hatte ich alles, was ich brauchte.

      Mit frischem Verband, Jod und Wattepads in der Hand, kniete ich mich neben ihm auf die Fliesen.

      „Halt still“, sagte ich sanft und entwand seinen Fingern vorsichtig den alten Verband. Seth fluchte leise, ließ mich aber gewähren. Er zuckte nicht, als ich die offenen Stellen mit Jod abtupfte und anschließend verband. Nur zu deutlich spürte ich seine Blicke die ganze Zeit über meinen Körper wandern. Der kleine Raum wurde noch kleiner, als Seth wunderbarer Geruch ihn erfüllte. Mir wurde ganz schwindelig davon.

      „In ein paar Stunden wird das verheilt sein“, sagte ich und sah zu ihm auf. Wieder war dort dieser Ausdruck, den ich in der letzten Zeit so oft bei ihm sah. Verlangen. Begierde.

      Er seufzte tief. „Du machst es einem wirklich nicht leicht.“

      Immer noch lagen seine Hände in Meinen und ich stellte mir vor, wie es sich anfühlen würde, wenn er mich überall berührte. Ich versuchte ein Lächeln. „Es tut mir leid. Ich kann dir noch keine Antwort geben.“

      Ich konnte den Stich fast körperlich spüren, der sich in sein Herz bohrte.

      „Es ist schon gut“, brachte er dann hervor und lächelte mich an. „Du weißt, ich will dich nicht drängen, aber ich kann nicht ewig warten. Lass dir bitte nicht allzu viel Zeit mit deiner Entscheidung, ja? Sonst werde ich noch wahnsinnig.“

      Ich schmunzelte über seine Selbstironie und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als es an der Tür klopfte.

      „Angel? Bist du da?“, Nicks Stimme war ernst und irgendwie angespannt. Stirnrunzelnd stand ich auf und ging zur Tür. Wieso war er schon wach? Ich öffnete einen Spalt weit und steckte den Kopf heraus. „Ja? Was ist denn los?“

      Nick trat draußen auf dem Flur unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Mark will dich sehen“, sagte er und wies zur Treppe, „Im Arbeitszimmer.“

      „Okay, sag ihm, ich komme gleich runter.“ Er nickte kurz und machte auf dem Absatz kehrt. Ich sah ihm nach, wie er den Flur hinunter verschwand. Sein ganzer Körper war bis zum Zerreißen gespannt. Das musste am nahenden Vollmond liegen, überlegte ich. Seltsam, dass ich nicht ebenso aufgeregt war.

      Ich schloss derweil die Tür wieder und sah mich nach Seth um. Der saß immer noch dort, die Hände lose auf die Knie gebettet und starrte mich an. Sein Blick verriet seine Gedanken, als würde er sie aussprechen, als würde er mich mit seinen Augen ausziehen.

      „Mark will mich sehen“, wiederholte ich, obwohl er es wahrscheinlich ohnehin gehört hatte.

      *

      Gähnend streckte ich mich und ließ die Arme über die Sofalehne hängen. „Sind wir nicht bald fertig?“, nörgelte ich und sah Mark missmutig an.

      Er erwiderte nicht einmal meinen Blick. „Wenn wir mit dem Thema durch sind. Vielleicht.“

      Ich schnaubte. Seit dem frühen Morgen hockte ich in seinem Arbeitszimmer und diskutierte mit ihm über unsere Art. Mark hatte darauf bestanden, mich erneut über mein Wissen auszufragen. Er sagte, er wollte nur auf Nummer sicher gehen, aber ich glaubte, er wollte mich nur quälen. Diese Unmengen drögen, theoretischen Stoffs waren pure Folter.

      „Komm schon, Angel“, sagte er und ließ das Buch sinken, dass er gerade in den Händen hielt, „Stell dich nicht so an. Du weißt, wie wichtig es ist, dass wir alles bedenken. Wir wissen nicht, wie gut du deine zweite Gestalt unter Kontrolle hast. Sollte das nicht der Fall sein, könnte das für uns alle gefährlich werden. Also, weiter.“

      Ich verdrehte die Augen und seufzte. „Aber wir kauen das Thema jetzt schon seit drei Stunden durch. Ich glaube, ich kenne jetzt jedes Wort in jeder Sprache für 'Schmerz'. Ich weiß zwar nicht, wie gut und ob ich mich kontrollieren kann, aber ich erinnere mich doch an die Jagden. Ich erinnere mich an das Gefühl, verwandelt zu sein. Lass es uns doch einfach probieren und schauen, was passiert.“

      Jetzt war es Mark, der seufzte. Er musterte mich einen Moment, ehe er zum Fenster wanderte.

      „Ich fürchte, wir werden es tatsächlich einfach drauf ankommen lassen müssen. Es wird Zeit, dass wir zu den anderen gehen.“

      Mit einem Mal waren die Gedanken wie weggewischt. Mein Kopf schnellte herum und ich sah zum Fenster. Rotes Licht sickerte durch die Vorhänge. Die Sonne ging schon unter. Wo war nur der Tag geblieben?

      Neben