Hündin sieht ihn aus hellblauen Augen an. Ein Ohr hängt bekümmert nach unten, das andere steht fragend in die Höhe. Sie zeigt ein schiefes Lächeln, wenn sie eine Lefze hochzieht.
Eine Schönheit ist sie nicht, denkt Adam. Aber seine Schwester mochte sie. Und auch Ben liebt sie. Er lässt ihn nur los, um hinter Bella herzulaufen. Das gibt ihm die Zeit, sein Müsli vorzubereiten. Wickeln, waschen, füttern, alles ist zur Routine geworden.
Vor der Tür wird es laut. Ein Moped rattert über den Hof.
»Hinnerk«, sagt Adam.
Ben nickt und schiebt sich einen Löffel Müsli in den Mund. Er spricht nicht viel.
»Moin, bin da.« Hinnerk steckt den Kopf durch die Tür, winkt kurz und geht in Richtung der Gewächshäuser. Auch Hinnerk spricht nicht viel.
Der Morgen ist noch frisch, aber die Luft erwärmt sich fühlbar. Es wird wieder ein warmer Tag werden. Ben kratzt sorgfältig seine Schüssel sauber.
Mehrmals hat eine Dame vom Sozialamt Adam besucht:
»Ben gehört in einen Kindergarten. Er ist in seiner Entwicklung zurück.«
»Was meinen Sie damit?«
»Er spricht nicht, geht nicht auf mich zu, wie … norm… andere Kinder es tun würden.«
Er verkniff sich eine scharfe Antwort. Ich würde auch nicht auf dich zugehen, Zicke. Er verkniff sich auch den Hinweis, dass Ben den Unterschied zwischen Salbei, Thymian, Rosmarin und noch so einigen anderen Kräutern kennt.
»Und, soweit ich sehen kann, ist er auch noch nicht trocken.«
»Das war ich in seinem Alter auch noch nicht«, sagte er. »Ich habe noch mit fünf in die Hose gepisst, und wenn mein Neffe das möchte, darf er das auch.«
Er grinst, als ihm diese Szene einfällt, und stellt Bens inzwischen säuberlich leer gekratzte Schüssel in die Spüle.
»Wir gehen jetzt arbeiten«, sagt er und hebt Ben vom Kinderstuhl.
Hinnerk ist dabei, die gepackten Kisten auf dem Pritschenwagen zu stapeln. Das Auto mit der Aufschrift: S. Frank Gartenbau steht jetzt vor den Glashäusern.
S. Frank steht für: Simon, seinen Vater, und Semele, seine Schwester. Er hat es nicht über sich gebracht, seinen eigenen Buchstaben davorzusetzen. Nicht einmal die Website hat er aktualisiert. Er vermisst sie beide noch zu sehr. Vielleicht würde eines Tages ein B für Ben dazu kommen.
»Ist das alles?« Hinnerk steht vor ihm und deutet auf die Kisten.
»Nein, eine fehlt.« Adam konsultiert ein kleines Heft, das er aus der Tasche seiner Jeans zupft. »Hier. Thymus praecox, weißer Thymian.«
Ben zieht ihn zielsicher in die richtige Richtung, dorthin, wo die vorgezogenen Thymianpflanzen stehen.
»Sehr gut, mein Kleiner.«
Hinnerk lacht. »Du musst ihm bald Gehalt zahlen. Auf mich kannst du dann verzichten.«
Adam nickt. »Nur das mit dem Führerschein muss noch warten.«
Er packt noch eine weitere Kiste mit den winterharten Pflanzen und klebt einen Zettel mit der Adresse an die Seite. Hinnerk ist schon immer hier gewesen. Er ist mit Leib und Seele Gärtner. Er wüsste nicht, was er ohne ihn tun sollte. Adam spürt ein Ziehen. Er wäre gerne selbst gefahren, aber das macht er nicht. Die Bestellungen auszufahren und die Bepflanzung der Stadtbalkone und Gärten überlässt er Hinnerk. Er fühlt Bens Hand in seiner. Es ist richtig, was er tut. Ben setzt sich nicht gerne in ein Auto.
Adam nimmt sich den Ordner mit den Bildern. Von jedem der Balkone macht Hinnerk ein paar Aufnahmen, natürlich mit der Erlaubnis der Besitzerinnen, manchmal sogar mit einem Selfie seiner Kundinnen. Fast immer sind es Frauen, die sich an seine Firma wenden. In Gedanken fährt er mit Hinnerk durch Hamburg, liefert die bestellten Pflanzen aus und pflanzt sie auf Wunsch gleich in Kübel und Kästen ein. Soweit er sehen kann, hat er seit dem Tod seiner Schwester keine Kunden verloren. Hinnerk hat offensichtlich sehr gute Arbeit geleistet. Die Frauen mögen Hinnerk. Aber Adam hütet sich, das auszusprechen. Mit seiner tiefen Stimme und der ruhigen Art wirkt Hinnerk vertrauenswürdig. Er klappt den Ordner zu. Es gibt viel zu tun.
Er geht mit Ben zu dem kleinen, mit roten Ziegeln ummauerten Garten hinter den Glashäusern. Dort pflanzt er Heilkräuter an. Heilkräuter, die immer auch Giftkräuter sind. Deshalb schärft er Ben eindringlich ein, dass er nie, niemals ohne ihn, diesen Teil des Gartens betreten darf. Aber Ben geht ohne ihn nirgendwo hin. Darüber muss er sich noch keine Sorgen machen. Vor der roten Ziegelmauer blüht die schönste und höchste seiner Pflanzen, der tiefblaue Eisenhut, giftig bis in jede seiner Fasern.
Eine Giftpflanze mit krimineller Vergangenheit. Sie musste über Jahrhunderte als Mordinstrument herhalten. In all ihren Pflanzenteilen steckt Alkaloid Aconitin, das bereits in geringen Mengen tödlich wirkt. Die tödliche Dosis bei Erwachsenen liegt bei zwei bis vier Gramm der Wurzel. Das entspricht ein bis zehn Milligramm Aconitin pro Kilogramm Körpergewicht. Der Tod tritt meist innerhalb weniger Stunden ein, durch Herzversagen und Atemlähmung.
Der berühmteste Mord mit Eisenhut hatte sich wohl an Kaiser Claudius im alten Rom zugetragen. Seine Gattin und ihr Leibarzt sollen ihm giftige Pilze unter das Essen gemischt haben. Er konnte sich danach noch in seine Gemächer schleppen, in der Absicht, mit einer Vogelfeder einen Würgereiz hervorzurufen. Diese Vogelfeder allerdings war getränkt mit einem Extrakt aus Eisenhut, was letztendlich zu seinem Tod geführt haben soll.
Ben bleibt ein Stück weit davon entfernt stehen, wie Adam es ihm beigebracht hat. Selbst die Berührung ist gefährlich.
4 Juni
Valerie klopft, wartet aber nicht auf ein Herein, bevor sie die Tür öffnet. Viktor sitzt hinter seinem riesigen, unaufgeräumten Schreibtisch. Das Büro ist angenehm kühl. Er erhebt sich und schließt sein zweifellos nicht von der Stange gekauftes Jackett, als sie eintritt.
Wie gut er aussieht, denkt sie.
Mit einem kaum unterdrückten Tadel in der Stimme sagt er: »Du hast es mal wieder geschafft, uns alle in Atem zu halten.«
Valerie verzieht die Lippen.
»Das hält dich so unverschämt jung.«
Sie strahlt ihn an. Sie weiß, dass er sich ärgert, wenn sie Termine nicht einhält.
Er geht drei Schritte auf sie zu, küsst sie auf den Mund und legt eine Hand besitzergreifend auf ihren Rücken. »Wann sehen wir uns mal wieder außerhalb dieses Büros? Ich könnte heute in der Stadt bleiben.«