fallen. Adam nimmt eine angebrochene Flasche Gavi aus dem Kühlschrank, schenkt sich ein Glas ein und geht damit an den Küchentisch. Er setzt die Kopfhörer auf und lauscht dem unfassbar süßen Sopran der Sängerin: »Porgi Amor … Hör mein Flehn, o Gott der Liebe …«
Er denkt an die Frau ohne Namen. Sie hat sich in seine Seele gebrannt. Immer wieder hört er sie leise lachen. Sieht ihren forschenden Blick.
Seit er Ben bei sich hat, ist Adam oft allein. Es überrascht ihn, wie sehr ihm dieses Leben gefällt. Sein Handy leuchtet auf. Christina! Auf dem Bildschirm erscheint ihr Gesicht. Das Foto hat er selbst gemacht. Sie lacht ihn an, ihr langes Haar flattert im Wind und verschwimmt im gleißenden Gelb des Rapsfeldes im Hintergrund. Er hat sie nicht vergessen, sie passt nur nicht mehr in sein Leben. Keine Frau der Welt hält einen Mann aus, auf dessen Hüfte oder Schultern über Wochen ein kleines Kind hockt. Das hat sie ihm bei ihrer letzten Begegnung sehr deutlich gemacht. Er setzt die Kopfhörer ab und nimmt den Anruf an.
»Adam, bist du das?« Ihre Zunge stolpert.
Sie ist betrunken, denkt er. »Christina.«
»Ich will dich wiedersehen.«
Er denkt an die letzten Auseinandersetzungen. »Ich glaube, das ist keine gute Idee.«
»Aber ich vermisse dich.«
Dieses andere Gesicht schiebt sich über das Christinas, nicht so jung, aber faszinierend. Das Gesicht einer Frau, die so präsent ist wie keine, die er kennt. Er hört sie leise lachen, die Namenlose. Ihr glänzendes Haar. Sein Puls beschleunigt sich.
»Adam, bist du noch dran?«
»Was?«
»Ich könnte morgen zu dir rausfahren. Lass uns reden.«
Er gibt nach. Dann legt er auf. Es ist fair, denkt er, mit ihr zu reden.
Adam starrt auf das Handy. Eigentlich weiß er, dass es nichts mehr zu sagen gibt. Als er aufschaut, steht Ben in der geöffneten Küchentür.
Adam nimmt den Jungen auf den Arm und geht mit ihm zum Fenster. Sie sehen beide hinaus auf die Apfelwiesen. Ein durchsichtiger Schleier aus Dunst liegt über allem. Die frühen Äpfel sind reif.
»Morgen pflücken wir Äpfel, Ben.«
Der Junge nickt verständig.
»Und jetzt gehen wir beide schlafen.«
Adam legt Ben in das altmodische Doppelbett, in dem seine Eltern schon geschlafen haben. Als er ins Bett kriecht, spürt er Bens tastende Hand auf seinem Gesicht. »Ich bin da, mein Kleiner.«
Gleich darauf hört er Bens ruhige Atemzüge.
Auf dem Dielenboden leises Klacken von Bellas Krallen. Ein Mann, ein Junge und ein kleiner Hund. Mit den Gedanken an die Arbeit morgen schläft er ein.
Das Rattern des Traktors weckt Adam in der Frühe. Er hält direkt vor der Haustür.
Das muss Hannah sein. Hannah ist Hinnerks Tochter. Sie ist neunzehn. Ein hübsches, kräftiges Mädchen, das nie weit über die Marsch hinausgekommen ist. Sie ist eigenwillig und wissbegierig. Ihr Vater hält sie für schwer erziehbar. Seit dem Tod der Mutter versorgt sie ihren Vater und hilft Adam bei der Ernte. Hinnerk ist ihm dankbar, dass er seine Tochter beschäftigt. Hannah kennt sich aus mit Pflanzen und weiß, wie man Äpfel pflückt, ohne den Baum zu beschädigen. Allerdings ist ihm ihre Anhänglichkeit manchmal zu viel.
Leise steht er auf. Ben schläft zusammengerollt wie ein Welpe. Adam steigt in seine Hosen und läuft barfuß zur Tür.
Hannah schenkt ihm ein strahlendes Lächeln. Der Wind zerrt an ihrem weiten Blaumann und reißt ihr fast das Tuch vom Kopf. »Moin, Adam.«
»Moin, Hannah.«
Er hebt den Kopf. Weiße Sommerwolken ziehen schnell über den Himmel. »Wenn wir Glück haben, hält das Wetter.« Adam begrüßt auch die beiden Männer, die vom Traktor springen.
»Piet, Jan.«
»Moin.«
»Fangt auf der hinteren Wiese an und nehmt den Hänger aus der Scheune. Ich bin in einer halben Stunde bei euch.«
Ben wird gleich aufwachen. Adam geht in die Küche, setzt Kaffeewasser auf und nimmt Joghurt und Milch aus dem Kühlschrank. Danach schält er einen Apfel und schneidet ihn in kleine Stücke. Die Milch füllt er in einen Becher. Joghurt und Apfelstücke mischt er in einer Schüssel und gibt eine Handvoll Rosinen darüber.
»Dada!« Ben nennt ihn selten beim Namen.
Adam lächelt. Dada klingt wie eine Mischung aus Papa und Adam.
»Moin, Kleiner. Ausgeschlafen?« Er nimmt Ben auf den Arm und geht mit ihm ins Badezimmer. Die Windel ist seit ein paar Tagen trocken. Er wagt nicht, es anzusprechen, deshalb fragt er ihn: »Möchtest du eine neue Windel haben?«
»Ne!« Ben schüttelt energisch den Kopf.
»Gut.« Adam nimmt Bens winzige Latzhosen und hilft ihm beim Anziehen.
»Apfel flücken?« Ben schaut ihn fragend an. Er hat es nicht vergessen, und er hat gesprochen.
Das wird ein guter Tag, denkt Adam.
»Erst frühstücken, dann arbeiten«, sagt er.
6 Juli
Valerie bezahlt den Chauffeur und steigt aus dem Taxi. Die Front des Hauses ist erleuchtet. Sie fragt sich, ob das nötig ist und beantwortete sich die Frage gleich selbst mit einem klaren Nein. Es gibt ein Wort dafür: Lichtverschmutzung.
Die Mauern der beiden ersten Etagen sind cremefarben gestrichen und noch ohne Graffiti, die oberen drei leuchten in einem kräftigen Rot, nur unterbrochen von weißen Fensterrahmen. Es ist ein schönes altes Mietshaus. Vier kleine Balkone, schwarz umgittert, hängen an der Vorderseite. Ihr Balkon, sie hat Glück, hängt an der Seite. Von dort hat sie den Blick auf einen begrünten Platz mit hohen Bäumen, einem Kinderspielplatz und den Eingang. Sie bleibt einen Moment auf dem gepflasterten Vorplatz stehen. Nur zwei Wohnungen sind noch beleuchtet. Ihre eigene im zweiten Stock und die darunter, in der das junge, ewig streitende Paar wohnt.
Sie kramt in ihrer Tasche nach dem Haustürschlüssel, schließt auf und tastet nach dem Lichtschalter. Dann hört sie Lärm. Sie bleibt stehen und lauscht. Sekunden später wird über ihr eine Tür aufgerissen. Der junge Mann aus der Wohnung im ersten Stock rennt, ohne sie wahrzunehmen, an ihr vorbei. Langsam steigt Valerie die Stufen hinauf. Wieder bleibt sie stehen. Sie hört die Frau schluchzen. Soll sie fragen, ob sie Hilfe braucht? Valerie seufzt. Sie möchte nichts als einen ruhigen Abend, den sie nutzen will, um ihren Artikel zu schreiben. Ihr Finger legt sich ganz ohne ihren Willen auf die Klingel neben dem Schild, das verkündet,