Ursula Tintelnot

Die Füchsin


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hat er sie an­ge­se­hen. Sei­ne un­g­lü­ck­li­che Frau muss­te Jah­re auf das ers­te Kind war­ten, ein Mäd­chen, und be­kam dann in schnel­ler Fol­ge drei wei­te­re.

      Va­le­rie ahnt, wie sehr Mira un­ter ihm lei­det, kör­per­lich wie see­lisch. Aber Mira spricht nicht über ihre Ehe.

      Va­le­rie löf­felt Kaf­fee­pul­ver in einen Be­cher und gießt hei­ßes Was­ser und kal­te Milch dazu. Die Kat­ze be­kommt eine Hand­voll Tro­cken­fut­ter und fri­sches Was­ser. Der Bal­kon ist noch feucht vom nächt­li­chen Ge­wit­ter. Sie lehnt sich ans Ge­län­der und saugt den in­ten­si­ven Duft von La­ven­del und Thy­mi­an ein. Der Spiel­platz un­ter den Bäu­men liegt ver­waist. Über ihr, in der drit­ten Eta­ge, to­ben die Zwil­lin­ge, zwei Bu­ben. Sie fragt sich, ob die­se Kin­der je­mals schla­fen. Der Lärm stört sie nicht, aber sie be­nei­det die El­tern nicht um die bei­den.

      Aus dem ers­ten Stock dringt noch kein Laut. Das Paar hat sich wohl wie­der ver­söhnt, bis zum nächs­ten Streit.

      Ihr Smart­pho­ne stöhnt, ein Ton, den sie ih­rer Mut­ter zu­ge­ord­net hat.

      »Da ge­hen wir nicht dran«, sagt sie zur Kat­ze. Gleich dar­auf das Fest­netz.

      »Ich weiß, dass du zu Hau­se bist, Va­le­rie. Geh bit­te ans Te­le­fon. Es ist wich­tig.« Es ist im­mer wich­tig, wenn Grace an­ruft.

      Statt den An­ruf an­zu­neh­men, öff­net sie ihre Mails. Nur eine scheint in­ter­es­sant zu sein. Eine Ein­la­dung zu ei­nem TV-In­ter­view. Dar­über muss sie nach­den­ken. Vik­tor wäre be­geis­tert, wenn sie an­näh­me. So kurz vor Er­schei­nen ih­res neu­en Bu­ches wäre das die ide­a­le Wer­bung. Vik­tor hat vie­le Kon­tak­te. Hat er die Wer­bung lan­ciert? Egal. Sie macht sich einen zwei­ten Be­cher Kaf­fee und setzt sich an ih­ren Schreib­tisch, wie je­den Mor­gen.

      Sie starrt auf die lee­re Sei­te. Der Ro­man, den sie be­gon­nen hat, ist an­ders als sei­ne Vor­gän­ger. Das Smart­pho­ne ne­ben ihr stöhnt wie­der. Sie schal­tet es auf stumm. Es fällt ihr schwer, sich zu er­in­nern, in die ei­ge­ne Ver­gan­gen­heit ein­zu­t­au­chen, wenn die Frau, die ihr die­se Ver­gan­gen­heit be­schert hat, im­mer wie­der an­ruft. Wenn ihre Mut­ter nicht …

      Va­le­rie merkt, dass sie eine Schul­di­ge sucht. Im­mer wie­der kommt sie an die­sen Punkt, ob­wohl sie weiß, sie wird sich von Grace nicht lö­sen, so­lan­ge sie ihr die Ver­ant­wor­tung für ihr Le­ben in die Schu­he schiebt. Sie hat sich lan­ge ver­bo­ten, be­stimm­te Din­ge zu den­ken. Ver­drän­gen hilft nicht. Viel­leicht kann sie, in­dem sie dar­über schreibt, mit der Ver­gan­gen­heit ab­schlie­ßen? Viel­leicht hö­ren die Alb­träu­me dann end­lich auf, und die Angst­at­ta­cken?

      Ein lei­ser Schrei, ein zer­knit­ter­tes Ge­sicht­chen. Jah­re ist das jetzt her. Sie war vier­zehn, als ihre Mut­ter ihr den drit­ten Stief­va­ter be­scher­te. Grace er­war­te­te stets von ihr, dass sie ge­nau­so an­ge­tan von je­dem der Neu­en war und ist wie sie selbst. In­zwi­schen hat Va­le­rie vier Stief­vä­ter und hofft, dass Grace es da­mit ge­nug sein lässt. Die Iro­nie des Schick­sals ist, dass sie aus­ge­rech­net ih­ren bio­lo­gi­schen Va­ter nie ken­nen­ge­lernt hat. Ihre Stief­vä­ter ha­ben die­se Lü­cke mehr als aus­ge­füllt.

      Ha­ben sie das wirk­lich, oder re­det sie sich das nur ein? Ich habe ihn nie ver­misst, schreibt sie.

      Va­le­rie hebt den Kopf und sieht durch die of­fe­ne Bal­kon­tür die Kat­ze auf dem Git­ter ba­lan­cie­ren. Wür­de eine Kat­ze einen Sturz aus dem zwei­ten Stock über­le­ben? Ein Mensch si­cher nicht.

      Das Dis­play ih­res Han­dys öff­net sich. Mira, Bru­nos Frau, lä­chelt ihr ent­ge­gen. Va­le­rie nimmt den An­ruf an. Sie darf sich eine Pau­se er­lau­ben. Tau­send Wör­ter pro Tag hat sie sich ver­ord­net. Ihr heu­ti­ges Pen­sum hat sie al­ler­dings noch nicht ge­schafft. Sie si­chert ih­ren Text und klappt den Lap­top zu.

      »Mira, du ret­test mich.«

      Mi­ras hel­les La­chen. »Wo­vor?«

      »Vor mei­nen Er­in­ne­run­gen.«

      »So schlimm?«

      »Schlim­mer.« Va­le­rie lacht. »Nein, nicht wirk­lich. Ich den­ke an die vier Stief­vä­ter, die Grace mir in­ner­halb der letz­ten drei­ßig Jah­re prä­sen­tiert hat.«

      »Die wa­ren doch ganz nett?«

      »Je­den­falls war kei­ner je­mals so takt­los wie mei­ne Mut­ter.«

      »Möch­test du …«

      »Nein, Mira, ich habe schon bei Ruth Dampf ab­ge­las­sen. Sag mir lie­ber, war­um du an­rufst.«

      Mira seufzt. »Kön­nen wir uns zum Lunch tref­fen?«

      Im Hin­ter­grund hört Va­le­rie Kin­der­stim­men.

      »Na­tür­lich.« Va­le­rie schiebt ih­ren Stuhl zu­rück und nimmt ih­ren lee­ren Be­cher mit zum Kü­chen­tre­sen. »Wo?«

      »Im elv? Wenn es dir recht ist. Bei dem Wet­ter kön­nen wir drau­ßen sit­zen und eine Klei­nig­keit es­sen.«

      Zwei Stun­den spä­ter sitzt Va­le­rie mit ih­rer Freun­din auf der Ter­ras­se des Re­stau­rants an der Elb­chaus­see. Das Was­ser der Elbe plät­schert ge­müt­lich ge­gen die Stei­ne des Ufers. Va­le­rie isst ka­na­di­schen Räu­cher­lachs in Ho­nig-Dill-Sau­ce mit Kar­tof­fel­rös­ti. Mira sto­chert in ei­nem ge­misch­ten Sa­lat mit ge­grill­ter Hähn­chen­brust. Sie macht tap­fer die tau­sends­te Diät, denkt Va­le­rie. Für Bru­no muss sie nicht nur Kin­der ge­bä­ren, son­dern auch noch schlank sein. Ihr Blick wan­dert über den fast schmerz­haft silb­ri­gen Strom zum an­de­ren Ufer. Sie wühlt in ih­rer Ta­sche, bis sie die Son­nen­bril­le fin­det.

      »Also, sprich mit mir«, for­dert sie ihre Freun­din auf. »Was ist los?«

      Mira legt die Ga­bel auf ih­ren Tel­ler. »Er will noch ein Kind.«

      Va­le­rie hört auf zu kau­en. »Bit­te?«

      »Du hast ganz rich­tig ge­hört. Vier sind drei zu viel. Und dann noch eins, das ist eine Zu­mu­tung.« Mira seufzt.

      »Er kann dich kaum zwin­gen, Mira. Wach auf! Das ist doch auch dei­ne Ent­schei­dung.«

      »Ja, aber …«

      »Nix aber, ich wür­de ihn in sei­ne Blü­ten­blät­ter tre­ten.«

      Mira reißt die Au­gen auf und bricht in schal­len­des Ge­läch­ter aus.

      »Bru­no soll­te mal eine Wo­che mit dir ver­hei­ra­tet sein.«

      Va­le­rie macht eine ab­weh­ren­de Ges­te. »Lie­ber nicht. Wir hat­ten heu­te schon das Ver­gnü­gen. Eine hef­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung we­gen mei­nes neu­en Tex­tes für die nächs­te Aus­ga­be von Herz und Hirn

      Mira be­stellt Cham­pa­gner, ihr Lieb­lings­ge­tränk, dem Va­le­rie nicht so viel ab­ge­win­nen kann. Sie trinkt ihn Mira zu­lie­be.

      »Ich könn­te heim­lich die Pil­le neh­men und be­haup­ten, un­frucht­bar zu sein.«

      Va­le­rie schüt­telt den Kopf. »War­um sagst du nicht ein­fach die Wahr­heit? Wenn es denn die Wahr­heit ist.«

      »Was meinst du da­mit?«

      »Viel­leicht willst du doch noch ein­mal schwan­ger wer­den?«

      »Nein«, sagt sie, »das will ich wirk­lich