Ursula Tintelnot

Die Füchsin


Скачать книгу

tun. Und nun ist auch noch Hin­nerk aus­ge­fal­len.«

      »Wer ist das?«

      »Der Va­ter von Han­nah. Er hilft mir, die Be­stel­lun­gen zu den Kun­den zu fah­ren. Heu­te muss ich das selbst ma­chen, und ich bin schon spät dran.«

      »Dann ein an­der­mal«, sagt Chris­ti­na er­staun­lich sanft.

      Erst als er ih­rem Wa­gen nach­sieht, merkt er, dass sie ihn über­töl­pelt hat. Sie hat »ein an­der­mal« ge­sagt und da­mit einen nächs­ten Be­such in Aus­sicht ge­stellt. Er hat nicht nein ge­sagt. Wir Män­ner sind manch­mal er­staun­lich blöd.

      Adam nimmt Ben an der Hand und geht mit ihm in die Scheu­ne. Ohne Hin­nerk ist er auf­ge­schmis­sen. Die Kis­ten mit den Äp­feln kann er heu­te noch lie­fern. Aber die Kräu­ter und Bal­kon­pflan­zen müs­sen war­ten. Er wür­de je­den ein­zel­nen Kun­den an­ru­fen müs­sen, um die Lie­fer­ter­mi­ne zu ver­schie­ben.

      10 Au­gust

      Va­le­rie sitzt seit Stun­den am Com­pu­ter. Sie quält sich mit ih­ren Er­in­ne­run­gen, die nur spär­lich aus ih­rem Un­ter­be­wusst­sein tröp­feln. Nichts, das sie fest­hal­ten und auf­schrei­ben kann. Sie fühlt sich wie eine Ten­nis­s­pie­le­rin, die den Ball des Geg­ners mit er­ho­be­nem Schlä­ger er­war­tet, einen Ball, der im­mer wie­der im Netz auf der an­de­ren Sei­te hän­gen bleibt.

      Grace will sie nicht fra­gen. Sie wird ih­rer Mut­ter über­haupt nicht sa­gen, dass sie einen Ro­man schreibt, der au­to­bio­gra­fi­sche Züge trägt. Sie kann sich vor­stel­len, wie Grace re­a­gie­ren wür­de. Mit ei­ner Mi­schung aus Ei­tel­keit und der Furcht, dass Din­ge ans Ta­ges­licht kom­men könn­ten, die sie lie­ber im Dun­keln las­sen wür­de. Sie legt ihre rie­si­ge Le­se­bril­le ab und lehnt sich zu­rück. Wie schwie­rig es ist, ehr­lich zu sein, er­kennt Va­le­rie jetzt. Wie schil­dert man sei­ne Ge­füh­le, ohne sich völ­lig der Lä­cher­lich­keit preis­zu­ge­ben?

      Sie macht sich den drit­ten Be­cher Kaf­fee und geht da­mit auf den Bal­kon. Das gel­be Fahr­rad des Brief­trä­gers steht vor dem Haus. Sie über­legt, ob sie nach der Post se­hen soll. Die Brief­käs­ten für alle Haus­be­woh­ner hän­gen un­ten im Ein­gang.

      Es gibt nichts Frus­trie­ren­de­res, als vor dem Lap­top zu sit­zen und auf den viel zu hel­len un­be­schrie­be­nen Bild­schirm zu star­ren, wäh­rend man auf eine Ein­ge­bung war­tet. Va­le­rie geht am Lap­top vor­bei, ohne das Ge­rät ei­nes Bli­ckes zu wür­di­gen. Sie muss raus. Fri­sche Luft wird ihr gut­tun. Sie hat die Ein­la­dung zu ei­nem TV- In­ter­view noch nicht be­ant­wor­tet, den An­ruf ih­rer Mut­ter igno­riert und im Ver­lag noch nicht zu­rück­ge­ru­fen.

      Sie zieht die Kühl­schrank­tür auf. So gut wie leer. Nur ein hal­b­es Glas Bens Blü­ten­ho­nig, ein Ge­schenk von Mira, sieht ihr ent­ge­gen, sie starrt einen Mo­ment zu­rück, lässt die Tür zu­fal­len und stellt fest, dass sie hung­rig ist. Sie hat nicht mal mehr ein Stück Brot in der Brot­do­se. Va­le­rie öff­net den Kühl­schrank noch ein­mal. Ben. Kurz blitzt das Ge­sicht­chen des klei­nen Jun­gen auf Adams Schoß auf. Sie sieht eine Ap­fel­b­lü­te und eine win­zi­ge Kar­te auf dem Schild­chen des Ho­nig­gla­ses. Dem­nach ist der Ho­nig aus der Ge­gend hin­ter We­del. Hin­ter We­del am Deich ist auch Fähr­manns­sand.

      Wie lan­ge ist sie nicht mehr dort ge­we­sen?

      Der Ge­dan­ke an Brat­kar­tof­feln lässt sie bei­na­he ohn­mäch­tig wer­den. Zu­letzt hat­te sie dort mit Stief­va­ter Num­mer zwei Brat­kar­tof­feln ge­ges­sen. Sie war noch in dem Al­ter, in dem man Dra­chen stei­gen lässt, er schon wie­der. Sie er­in­nert sich gut an ihn und ger­ne. Ein net­ter Mann, reich, auf arme Män­ner ließ ihre Mut­ter sich nicht ein, und sehr viel äl­ter als Grace. Er ist schon lan­ge tot. Auf ihn folg­te Stief­va­ter Num­mer drei, an ihn er­in­nert sich Va­le­rie nicht so ger­ne. Er war zu jung für ihre Mut­ter und zu alt für ihre Toch­ter.

      Va­le­rie sitzt zu ih­rer ei­ge­nen Ver­blüf­fung nach dem Fund des Ho­nig­gla­ses wie­der am Com­pu­ter und dies­mal flie­gen die Ge­dan­ken un­ge­fil­tert über das Netz zu ihr. Sie hackt die Buch­sta­ben förm­lich in die Tas­ten, spürt kei­nen Hun­ger mehr, denkt nicht an die Post und un­be­ant­wor­te­te Mails, igno­riert Te­le­fon­an­ru­fe. Sie kann die­sen Text ih­rer Mut­ter nie­mals zei­gen …

      Sie wäre ent­setzt. Auch wenn sie be­stimm­te Din­ge si­cher nicht mehr nur ahnt, son­dern weiß, hat sie im­mer ver­mie­den, dar­über zu spre­chen. Sie ist im Ver­drän­gen noch bes­ser als sie selbst.

      Nach dem Vor­fall, wie Grace es nennt, wird Ehe­mann Num­mer drei schnell zum Ex. Nicht, ohne eine be­trächt­li­che Ab­fin­dung zu hin­ter­las­sen. Grace‹ Schei­dungs­an­walt, Ge­org, wur­de Stief­va­ter Num­mer vier. Und da­mit hof­fent­lich der letz­te. Grace ist über sech­zig. In die­sem Al­ter las­sen sich wohl­ha­ben­de Ehe­män­ner nicht mehr so leicht auf­trei­ben. Ihre Mut­ter ist ihr ein Rät­sel. Ohne Ehe­mann ist sie eine Su­chen­de. Mit ei­nem Mann an ih­rer Sei­te be­ginnt sie zu leuch­ten. Eine hin­ge­bungs­vol­le Ehe­frau, bril­lan­te Gast­ge­be­rin, per­fekt in je­der Be­zie­hung. Nur das Müt­te­r­li­che müss­te man ihr noch bei­brin­gen. Die Durst­stre­cken zwi­schen den Ehe­män­nern wa­ren, dem Him­mel sei Dank, nur kurz. Grace war und ist im­mer noch eine be­ste­chend at­trak­ti­ve Frau.

      Va­le­rie streckt sich, si­chert den Text, und greift nach dem letz­ten tro­ckenen Keks ne­ben dem Ge­rät. Sie über­legt ob sie nach Fähr­manns­sand fah­ren soll. Der Abend ist mild und sie hat Hun­ger. Viel­leicht mit Ruth …? Va­le­rie be­sitzt kein Auto. Mit dem Rad ist sie in der Stadt mo­bi­ler. Au­ßer­dem, wozu gibt es Ta­xis? Sie ist so hung­rig, dass sie die Kat­ze fres­sen könn­te. Nein, sie muss so­fort … Be­vor sie nach dem Te­le­fon grei­fen kann, klin­gelt es Sturm. Und Sturm ist im­mer Ruth. Sie drückt auf die Sprech­an­la­ge und öff­net gleich­zei­tig die Tür.

      Ruth mit ei­nem Ta­blett Su­shi. »Das müs­sen wir schnell es­sen, sonst wird es schlecht.«

      »Du ahnst nicht, wie schnell ich es­sen kann.« Va­le­rie um­armt die Freun­din. »Wo­her wuss­test du, dass ich am Ver­hun­gern bin?«

      Sie geht in die Kü­che um Glä­ser und Weiß­wein zu ho­len. Als sie zu­rück­kommt, er­starrt sie. Ruth steht vor dem Lap­top und sieht auf den Schirm. Sie wen­det sich ihr zu. »Was ist das für ein Vor­fall, von dem du …«

      Mit zwei Schrit­ten ist Va­le­rie bei ihr und klappt den Lap­top zu. Ruth weicht einen Schritt zu­rück.

      »Das ist nichts, nichts, was ich mit mei­ner Lek­to­rin schon be­spre­chen möch­te.«

      So ab­wei­send hat Ruth Va­le­rie sel­ten er­lebt. »Ent­schul­di­ge, der Kas­ten stand of­fen ich dach­te nicht, dass …«

      »Ver­giss es, ich bin noch nicht so weit, um über den Text zu spre­chen.«

      »Ver­ste­he.«

      Va­le­rie stellt die Glä­ser ne­ben das Ta­blett mit Su­shi. Und lässt sich in einen der be­que­men Bal­kon­stüh­le fal­len. Sie stöhnt auf, als sie das ers­te Fisch­röll­chen in den Mund schiebt. »Du ret­test mir das Le­ben.«

      »Darf ich dich dar­an er­in­nern, dass der Ver­lag drin­gend auf den nächs­ten Ro­man von dir war­tet. Das al­lein ist der Zweck die­ser Le­bens­ret­tung.«

      Va­le­rie lacht und greift nach ih­rem Glas.