Alfons Winkelmann

ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT


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diese jähe Niedergeschlagenheit? Das Pflaster federt nicht mehr unter den Turnschuhen, die Hauswände zerkratzen erbarmungslos die Haut, wenn er daran entlangstreift. Das Restaurant Almhütte, wo er hat essen wollen, natürlich geschlossen. Wien fällt über ihm zusammen. Was zu erwarten? Wie viel Tage bleiben zum Überleben? Eine Zeit lang könnte er die Banken noch mit ungedeckten Euroschecks täuschen. Wie schnell die Welt zusammenschnurren kann! Drei, vier Nächte, und das Essen aufs Frühstück zurückstutzen. Fünf Nächte bei gutem Verdienst in der Kärtnerstraße.

      Lacht er laut auf. Hat er sich bei seiner Kopfrechnung geirrt. Mark statt Schillinge gerechnet. Dennoch – mehr als fünfundzwanzig weitere Tage stehen ihm nicht mehr zur Verfügung. Fünfundzwanzig weitere Tage – die halbe Ewigkeit. Und die ganze – wo zu finden?

      Im Hotel wirft er sich aufs frisch gemachte Bett. Welch ein Tag! Oh, ist das eine Liebe, so tief aus dem Bauch heraus – sie geht wirklich durch den Magen.

      Er könnte heulen vor Glück und Elend. Und draußen vor der Tür wartet der Ernst, genannt das Leben. „Ich glaube“, sagt er vor sich hin, und er weiß es gar nicht, dass er es laut sagt, „wir können hinausgehen und uns ihm stellen, liebe junge Verkäuferin – vertrauen wir einander.“ (Wie absurd - kennen sie sich doch gar nicht.)

      Und weiter: „Versichern wir uns hier einmal nicht gegen Blitz und Hagelschlag. Versichern wir uns nicht. Seien wir unvorsichtig, gehen wir ohne Macheten in den brasilianischen Dschungel. Vielleicht küsst uns die schwarze Witwe ja nicht. Der Herr Kaiser – „Hallo, Herr Kaiser!“ – soll uns gestohlen bleiben. Gönnen wir uns die Verantwortung, uns! Sind wir denn dazu da, mühelos durchs Leben zu gleiten?“

      Und vom Hals der Rotweinflasche tropft der Wein wie Blut. Die Tür zum Hotelzimmer presst sich so bescheiden in die Ecke. Fürchtet sie sich vor den hohen Wänden und der Schmalheit? Vor dem alten, zerbrochenen Kronleuchter? Der fällt schon nicht herab. Etwa vor der Bibel? Sprich zur Weisheit: Du bist meine Schwester, und nenne die Klugheit deine Freundin, dass sie dich behüte vor der Frau des andern, vor der Fremden, die glatte Worte gibt.

      Wie kann so etwas zur Weltreligion werden? (Nach einer Literflasche Rotwein ist alles möglich.) Lass mich niemals so ’n geistiger Vorfurzer wer’n.

      Schrank verdoppelt, Kronleuchter verdoppelt, Tür verdoppelt, alles verdoppelt. Ich verdoppelt. Nur Liebe einzig.

      Dem Schaukeln nach zu urteilen befindet sich Peter Piechowiak auf dem Teppich des Abdullah im Prater. Warten auf den Überschlag. Zu viel Flüssigkeit im Bauch.

      Am Morgen kriecht ein dicker schwarzer Kater über die Bettdecke. Peter Piechowiak öffnet das Fenster, aber so schnell lässt sich das Vieh nicht vertreiben. Sein Kopf behäbig auf den Kissen.

      Nun gilt’s, täglich den Weg zu Maria am Gestade zu suchen. Und zwischendurch Buchhandlung Börries. Heute die junge Verkäuferin nicht da. Herr Börries weidet sich offensichtlich an Peter Piechowiaks Verlegenheit. Hat er doch kein Geld mehr für Bücher. Hat er eigentlich auch nie gehabt.

      „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“

      Natürlich sucht er etwas Bestimmtes. Aber das Bestimmte ist nicht da, und Herr Börries weiß es, natürlich. Oh, dieses falsche, falsche Lächeln.

      „Nein, danke, ich wollte mich nur ein wenig umsehen.“

      Wie ein geprügelter Dieb verlässt er das Geschäft. Gewitterdampf auf den Straßen. Das würde keiner der guten Tage werden. Geht Peter Piechowiak nicht in die Innenstadt, kehrt lieber in die Pension zurück – da putzen sie gerade die Zimmer. Wohin jetzt? Die Treppe wieder hinabgehen, sich den Kopf stoßen (zum wie vielten Mal?): Wohin sich wenden in dieser schweren Zeit? Vielleicht hinüber zur Strudlhofstiege? Setzt er sich in den Liechtensteinpark auf eine Bank und kann mit den Skulpturen vor sich auf dem Rasen nichts anfangen. Bleiben sie noch nicht einmal schemenhaft im Gedächtnis. Ob er nicht doch lieber nach Göttingen? Dort hätte er zur Not immer gewusst – jetzt hier. Und hier will er sein. Dösen. Während das Gemurmel der Stadt sich durchs Tor auch in seine Ohren drängt. Oder doch über die Porzellangasse treiben? Über den Broadway von Wien, wie lächerlich! Viel zu kurz zum Sammeln der Gedanken. Treiben wie das schmutzige Wasser des Donaukanals.

      Im Anfang schuf Peter Piechowiak Himmel und Seele. Und die Seele war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Peter Piechowiaks schwebte über dem Wasser des Donaukanals. Und Peter Piechowiak sprach: Es werde Licht.

      Und es ward Licht?

      Und Peter Piechowiak sah, dass das Licht gut war. Da schied Peter Piechowiak Göttingen von Wien und nannte Wien Tag und Göttingen Nacht. Da ward aus Abend und Morgen die Liebe.

      Jeder hat nur eine Liebe, auch wenn er oftmals liebt.

      Niemals hat er seine Stümpfe kauterisieren lassen, wie so viele seiner fortschrittlichen Freunde und Freundinnen. Ein Fossil, ein Relikt, eine Unmöglichkeit in den elysischen Gefilden unserer schönen neuen Welt. Gut genug für den Zoo.

      Tina: „Ja, ich liebe dich, aber das will weiter nur so viel bedeuten, dass ich genauso gut mit Reinhard eine Nacht oder einen Tag im Bett verbringen kann. Garantieren kann und will ich dir nichts. Ich spüre so viel Liebe in mir, dass sie für mehr als einen allein ausreicht.“

      Karina: „Ich möchte mich mal wieder so richtig verlieben. Dass mir die Tränen kommen, von mir aus, dass ich mich unglücklich fühle, aber ich will wieder lieben, Peter. So, wie’s bei uns zu Beginn war.“

      Günther: „Diese bürgerliche Einehe war doch sowieso sofort zum Scheitern verurteilt.“

      Peter Piechowiak hört nicht mehr weiter hin. Ist ganz unbewusst in die Kärtnerstraße zurück. Den geöffneten Gitarrenkasten umlagern einige frühzwanziger Alternativ-Tripler. Peter Piechowiak singt forsche Freiheitslieder, die tief betroffen machen – und alles nickt Beifall. Nur Knete gibt’s keine.

      Bald entlädt sich – endlich – das Gewitter. Peter Piechowiak flüchtet nicht wie die Übrigen, sondern rafft erst mal die paar Schillinge zusammen, verstaut seine Gitarre, die darf nicht nass werden.

      Maria am Gestade, Börsegasse. Die Haare klatschnass im Nacken, Hemd und Hose völlig durch. Der Guss schon wieder vorbei. Auf dem Schottenring glitzert die Stadt. Buchhandlung Börries. Herr Börries noch immer allein im Geschäft.

      Willi Be: Der Typ langweilt mich allmählich.

      Ich: Halt den Mund, Willi Be, da geschieht noch was, ich hab’s im Urin.

      Willi Be: Ferkel.

      Ich: Siehst du?

      Peter Piechowiak will gerade wieder gehen, da kommt die junge Verkäuferin auf ihn zu. Sie will an ihm vorübergehen, stutzt, und dann lächelt sie. Sie kann bezaubernd lächeln.

      „Ach, Sie.“

      Wieder nicht das rechte Wort finden, welch ein Tölpel er manches Mal ist.

      „Wollen Sie zu uns?“

      „Ja, nein, nicht direkt …“

      „Ich habe im Augenblick keine Zeit“, sagt sie, „wenn Sie so gegen ein Viertel sieben kommen wollen?“

      Verschwindet sie im Geschäft. Peter Piechowiak wie betäubt von ihren Worten. Sie fand die rechten. Geht er langsam um die Ecke, wird er dort beinahe von der Automeute an der Kreuzung überfahren. Das Pensionszimmer wieder frei.

      Drei Stunden müssen die Uhrzeiger nun abfahren. Am Tisch sitzen, die Uhr vor sich, beobachten, wie lange hält er das aus? Kein Gedanke. Das Schlagen der Gardine hinter ihm. Die Luft merklich frischer nach dem Guss. Das Knarren von Schritten draußen im Flur. Gelächter, Worte in einer Sprache, die er nicht versteht. Und die Zeiger kommen nicht voran. Ja, die Zeit, die trägt zweierlei Schuh', in dem einen hinkt sie, in dem anderen springt sie. Rollt offenbar eine Tram über die Porzellangasse. Fahren, denkt Peter Piechowiak, fahren. Vielleicht geht’s dann besser. Bleibt sitzen. In einem Irrgarten auf der Stelle treten.

      Alle alten Ängste holen ihn ein (Hat er sie nicht in Göttingen zurücklassen wollen?): Das