Alfons Winkelmann

ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT


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d’ Leut’.

      Der Weltkuchen Marke Sacher groß genug auch für den zahnlosen Greis im schlotternden grauen Anzug am Ende der Kärtnerstraße, nahe am Opernhaus. Ziehharmonika, Andeutung von Musik. O sole mio im Diskant. Ein Wunder, dass der Greis das schwere Instrument überhaupt schleppen kann. Zittern über die Tasten und Knöpfe seine Finger. In der Tasche rote Rüben – für die Stimme. Wild beknipst.

      Ist das wirklich Freiheit? Zumindest ist es die Freiheit von der wohlbehüteten Tretmühle eines Fast-Book-Shops. Sicheres Brot, sicher. Nicht.

      „Fräulein Bellinger, können Sie sich vorstellen, Tag um Tag auf der Kärtnerstraße zu stehen und um ein Stückchen vom Weltkuchen zu betteln?“

      Sie lacht, ja, sie lacht. Ihr langer Zopf hängt ihr weit über die Brüste, sie wirft ihn auf den Rücken, bevor sie antwortet: „Warum fragen Sie? Geht das Geschäft so schlecht, dass ich mich auf eine Kündigung einrichten muss?“ Keck ist sie, frech, immerhin ist Herr Börries ihr Chef. (Und die Wahrheit ahnt sie ja noch gar nicht, kann sie gar nicht ahnen.)

      „Nein, natürlich nicht. Außerdem würden Sie ja rasch wieder etwas Neues finden.“ Erst jetzt beantwortet sie seine Frage.

      „Nein, ich könnte es mir nicht vorstellen. Davor hätte ich Angst. Gewiss, jetzt im Sommer mit all den vielen Touristen und der Sonne mag’s ja angehen, aber was dann?“ Sie wird nachdenklich. „Ja, was dann?“ Denkt sie an ihren Geliebten? An Peter Piechowiak?

      Die entstandene Stille scheint Herrn Börries peinlich zu sein, seine Hände befingern die Krawatte. Fräulein Bellinger kaut an ihrem Zopf. Sie muss Peter Piechowiak wirklich sehr gern haben, wenn sie sich so viel Sorgen um ihn macht, denkt Herr Börries. Er wundert sich, dass ihr, obwohl sie so blond ist, das weiße Sommerkleid so gut steht. Vielleicht liegt’s an ihrer gebräunten Haut. Erneut wirft sie ihren Zopf auf den Rücken. „Ich glaube, ich sehe mal nach, was wir sonst noch nachbestellen müssen“, sagt sie, bevor sie im Büro verschwindet. Der Laden scheint kälter geworden zu sein.

      Unterdessen hat Peter Piechowiak keine Lust mehr zu singen. Er packt seine Gitarre in den schwarzen Kasten, nachdem er zuvor das gesammelte Geld in seinen Hosentaschen verstaut hat. Wozu nachzählen!

      Er schlendert Richtung Opernhaus. Kauft sich erneut ein Hot-Dog, mit süßem Senf, bitte. Lehnt sich an die Würstlbude, kaut, betrachtet die eilenden Leute, betütet und unbetütet. Sommereleganz. Fühlt sich sicher genug, müßig zu beobachten. Ist warm genug zum Wohlfühlen. Denkt häufig an Christine. Christine Bellinger Engel. Lacht. Sieht ihn der leichte Sommeranzug mit dem Paar Frankfurtern ein bisschen verwundert an. Hat der Sommeranzug ganz bestimmt ganz andere Sorgen. Sonst viele Sommerurlauber. Ist Peter Piechowiak auch ganz einer der Sommerurlauber, trotz seiner Gitarre. So durch Wien zieh’n. In Buch-Antiquariaten stöbern, Perutz suchen, nur ein bisschen was finden. Durch eine Toreinfahrt zum Karl-Lueger-Platz kommen, dort das Café Die Kaiserin von Österreich. Da Platz nehmen und träumen, einen Einspänner trinken. Nebenan spielen s’ Tarock. Peter Piechowiak kauert sich tiefer ins ausgelatschte Sofa. Kippt sich keine Zeitungsmeldungen ins Gehirn. Denkt vielmehr über sich nach, über Göttingen, von wo aus er vor noch gar nicht so langer Zeit aufgebrochen ist. Vor noch gar nicht so langer Zeit? Ihm kommt’s vor wie vor einer großen Ewigkeit. Heute wieder ganz gut eingenommen. Wäre in Göttingen nie gelungen. Davon eine Weile ganz gut leben. Und dann? Und dann … die Tage werden selbst hier in Wien kürzer. Aber die Liebestage länger. Peter Piechowiak hat Vertrauen, wichtig in diesem Leben! Muss keinen Einspänner nachbestellen.

      Zwei Schatten über dem Tisch. Das sind wir, Willi Be und ich. Hier konnten wir uns einfach so materialisieren, haben ansonsten niemanden erschreckt. Ist sowieso die Frage, ob uns die anderen Gäste überhaupt sehen.

      „Herr Piechowiak?“

      Fährt hoch. Beruhigt sich rasch.

      „Ach, Sie schon wieder.“

      Drückt sich zurück in die Sofaecke. Willi Bes Kamera surrt leise.

      „Immer noch nicht genug von mir?“

      „Was fühlen Sie jetzt?“

      „Freiheit. Grenzenlose Freiheit. Auf der Kärtnerstraße, wenn ich meine Lieder singe. Am Schottenring, wenn ich auf Christine warte. Sind Sie schon jemals so richtig verliebt gewesen?“

      „Sie wissen doch, wie unstofflich wir sind. Das kennen wir also nur vom Hörensagen. Dennoch – dieses Gefühl wird aber nicht für immer anhalten, oder?“

      „Na, und wenn schon. In mir, in meiner Erinnerung, bleibt’s für immer.“ Und gleich darauf: „Überhaupt, wer sagt Ihnen denn, dass das Gefühl nicht doch für immer bleibt? Liebe bis über den Tod hinaus. Meinen Sie etwa, das hat es noch nie gegeben?“

      Unser Gespräch stockt. Was sollten wir, gerade wir, schon darauf antworten? Willi Be hat die Kamera bereits abgestellt, sie surrt nicht mehr, obwohl gerade im Moment ein großer Rauchring vom Nachbartisch zum Kronleuchter hinaufschwimmt. Peter Piechowiak schlürft den Rest seines Einspänners. Daraufhin vertieft er sich wieder in seine Gedanken, gerade, als seien wir nicht vorhanden. Weiß nicht, dass Willi Be seine Gedanken dennoch aufnimmt.

      Erschrickt er manchmal, wenn er an Christine Bellinger denkt. Haben sie das Bett bereits miteinander geteilt. Hätte er nie geglaubt, dass das so bald.

      *

      Hätten sie es sich niemals träumen lassen, dass es ausgerechnet in ihrer Mittagspause geschehen könnte. Kein Tag, im Grunde, zum Lieben. Grau-dusseliges Mieswetter. Zu wenig für einen Regenschirm, zu viel für die nackte Gesichtshaus. Zu schnell umgeschlagen.

      „Ich glaube, mein Kleid ist völlig durch“, sagt Christine Bellinger und betrachtet sich kritisch vor dem großen Schlafzimmerspiegel. Peter Piechowiak tritt an sie heran und fühlt mit der Hand über ihre Schultern, über ihren Rücken, über ihren Po. Christine Bellinger sieht ihn im Spiegel an, Peter Piechowiak sieht sie im Spiegel an und beginnt, leise zu zittern, ebenso wie sie.

      „Ist dir genauso kalt wie mir?“, fragt Christine Bellinger. Peter Piechowiaks Finger gleiten über ihre Wirbelsäule, glatter Strich, nur kurz durch den BH unterbrochen. Sie wissen nicht genau, was nun zu tun ist. Der Wecker tickt Behaglichkeit ins Schlafzimmer. Sie frieren wegen ihrer Wärme. Von unten ertönen Flötenklänge. Vielleicht, vielleicht zögern sie deshalb noch. Christine Bellinger löst ihren Zopf, und ihr nasses Haar umfließt sie. „Ich glaube, ich muss mich erst mal abtrocknen, Peter.“ Sein Name nun der ihre. „Ja, sicher, Christine.“ Ihr Name nun der seine.

      Hinter ihnen das Bett, schmal, nicht schmal genug für sie beide. Es würde sich nicht wehren.

      Stille Erregung.

      „Ziehst du mir bitte den Reißverschluss auf?“

      Sanfter Mut. Peter Piechowiak schiebt vorsichtig das lange nasse Haar beiseite.

      „Du musst schon oben festhalten.“

      Sie lachen sich im Spiegel an. Das Kleid zerteilt sich, rutscht von den Schultern, fällt zu Boden. An der Wand neben dem weißen Schrank hängt ein Poster, weißes Pferd im vollen Galopp, Kopf gesenkt, Mähne flattert. Und vor sich Christine-Braune-Augen. „Trocknest du mich ab?“

      Peter Piechowiak hält ein Handtuch zwischen den Händen, als wäre es aus ihnen hervorgewachsen. Zwischen die nassen Haarsträhnen flechten sich Töne (Wenn Welt kristallisiert!). Auf dem Fensterbrett steht eine Glasvase, darin eine rote Rose und ein Rosmarin.

      „Aber du musst doch auch ganz nass sein.“

      Ja, der Stoff der Hose ist feucht, klitsche-klatsche feucht. Genau wie das Hemd. Peter Piechowiak lässt es sich geduldig aufknöpfen. Löst selbst den Gürtel der Hose, da kennt er sich einfach besser aus.

      „Du hast ja ganz kalte Füße.“

      Das Bett ächzt etwas. Für zwei ist’s wirklich nicht gedacht. Nein, sie dürfen sich nicht zu hoch aufrichten, wenn sie sich nicht den Kopf stoßen wollen. So warm ist ihr Mund, und so kalt sind noch immer ihre Leiber. Die Daunendecke und die Musik von unten sind