Alfons Winkelmann

ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT


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packt Peter Piechowiak in der Kärtnerstraße doch seine Gitarre aus dem schwarzen Gitarrenkasten. Gesellt sich zu den Übrigen und singt. Die Tage zu strecken. Vielleicht fünfundzwanzig statt vierundzwanzig. Sieht er viele Menschen vorüberziehen.

      Sieht er eine junge Frau mit langem blondem Zopf vorüberziehen, in Begleitung eines Mannes, der schon ein gutes Stück älter als sie ist. Der Mann trägt einen Anzug, ein weißes Hemd, Krawatte, die junge Frau ein weites buntes Sommerkleid. Sie wären ihm vielleicht gar nicht weiter aufgefallen, wenn nicht der Mann so abrupt stehengeblieben wäre und Peter Piechowiak so grimmig, grimmig, ja!, angesehen hätte, dass er aufmerksam werden musste. Die junge Frau lässt den Blick aus braunen Augen zwischen ihrem Begleiter und Peter Piechowiak hin- und hergehen. Sieht er sie erst jetzt richtig an.

      Das sind die Augenblicke, denkt er, da einem niemals das eine, das entscheidende Wort einfällt. Solange die beiden vor ihm stehen, vermag er nicht weiterzusingen. Er tut so, als müsse er die Gitarre nachstimmen. Ein Schatten tritt vor ihn auf den Boden. Der Schatten hebt die Hand und lässt eine Münze in den Gitarrenkasten fallen. „Danke“, haucht Peter Piechowiak schattengleich. Der Schatten wirf den langen Zopf auf den Rücken, bevor er verschwindet. Finger zittern, als sie die Saiten niederdrücken.

      Nun denn, ist die Stimme zittriger denn je, sind die Finger schweißfeuchter denn je, vergisst er öfter denn je den Text. Der Tag verdorben fürs Singen. Die Kärtnerstraße wie nicht vorhanden. Was ist das unter ihm? Straßenpflaster? Er bleibt stehen, bückt sich, betastet die Steine: heißes Straßenpflaster. Manche der Passanten schütteln den Kopf, die meisten nehmen ihn nicht wahr, nicht in ihr Gedächtnis auf – Kieselstein im Fluss.

      „Suchen S’ was?“

      „Ja, einen Schatten … nein, nichts, danke.“

      Das jähe Schaudern in der Hitze.

      Ist doch gar nichts gewesen, gar nichts weiter. Und noch lange nicht das Tagessoll erfüllt. Ein Schatten, mehr nicht. Stehenbleiben von Gedanken. Wie bewusstlos werden bei vollem Bewusstsein. Er weicht denen aus, die ihm entgegenkommen, er sieht nach links, bevor er die Einbahnstraße beim Stephansdom überschreitet, er registriert die Würstl-Bude weiter unten auf der Straße, er spürt seinen Hunger, er weiß, dass er ihn mit einem Hot-Dog oder ein Paar Frankfurtern annähernd, provisorisch, stillen könnte.

      Maria am Gestade. Vor sich die Börsegasse, die er bisher noch nie betreten hat. Breite Stufen hinab zur Straße. Wien-Teenies, die sich ihre Disco via Walkman in den Schädel hämmern. Hast du diesen Gedanken aufgenommen, Willi Be? Klar, wird sich in der Szene gut machen.

      Die Sonne brüllt gnadenlos aufs Pflaster, ein Gewitter scheint möglich – zunehmende Schwüle am Nachmittag. Zum Glück schirmen die Bäume die unmittelbare Glut ab. Vorüber am Rotbacksteinbau der Börse. Schottenring. Parkspur. Trambahnschienen. Straße. Trambahnschienen. Parkspur. Der Fußgängerüberweg direkt auf eine Buchhandlung: Buchhandlung Börries, von der anderen Straßenseite gerade noch lesbar. Eingeklemmt zwischen einem Modelleisenbahn-Geschäft und einem Münzgeschäft. Tabak gibt’s in der Trafik – Was interessiert Peter Piechowiak Tabak? –, Pelze in der Kürschnerei. Die Altkatholiken im dritten Stockwerk überspringt er gleichgültig. Nur die Buchhandlung. Kannst du dir denken, Willi Be, weshalb ihn gerade die Buchhandlung interessiert? Kann ich nicht, aber wir werden’s ja bald merken.

      Das Schicksal ein gütiges. Aber wer spricht denn hier von Schicksal? Wer glaubt denn noch daran? Das ist alles der purste Zufall.

      Dass Peter Piechowiak seinen Schatten in der Buchhandlung Börries wiederfindet – ausgerechnet hier.

      „Sie wünschen?“

      Von nun an gibt’s kein Zurück mehr. Einmal diese braunen Augen, einmal dieses bezaubernde Lächeln gesehen, auch wenn's lediglich geschäftsmäßig gemeint ist,– dort draußen vor der Tür liegt Wien, und hier drinnen die Ewigkeit.

      Dreh die Blende gut zu, Willi Be, so viel Pathos führt leicht zu Überbelichtungen!

      „Haben Sie Bücher … Bücher …“

      „Natürlich haben wir Bücher.“

      Diese urherzliche Ironie, dieser labende Spott.

      Peter Piechowiak bringt es fertig zu lachen.

      „Das weiß ich, dass Sie Bücher haben.“

      Die junge Verkäuferin lacht mit.

      „Sie meinen natürlich ganz bestimmte.“ (Oh Herrlichkeit der Trivialität!)

      „Ja, nämlich von einem gewissen Perutz, wie die Filmmarke.“

      Willi Be grunzt. Von der hält er überhaupt nichts.

      Die junge Verkäuferin geht an den Regalen entlang – Alphabetismus. Rasch bei „P“ angekommen. Bückt sie sich, zieht zwei Bücher heraus. „Ja, hier, sehen Sie? Das ist aber leider auch alles, was wir momentan vorrätig haben. Wenn Sie einen bestimmten Titel wünschen, können wir ihn natürlich bestellen. Morgen ist er da.“

      Sie reicht ihm die beiden Taschenbücher. „Zwischen neun und neun“, „Nachts unter der Steinernen Brücke“. Peter Piechowiak hätte die Bücher gekauft, selbst wenn er sie schon neun Mal besessen hätte. Er besitzt sie jedoch nicht.

      „Kennen Sie die Bücher?“

      „Nur das eine, das von der Steinernen Brücke. Rose und Rosmarin, eine wunderschöne Geschichte.“

      Willi Be, Kamera drauf: In ihren Augen glitzert’s verdächtig. Romantik, vor allem romantische Mädchen machen sich in einer Reportage immer gut.

      „Ich nehme die beiden Bücher.“

      „Kommen Sie bitte mit.“

      Er geht hinter ihr, riecht den leisen Schweißgeruch. Und erst jetzt fällt ihm auf, dass da neben der Kassa ein Mann steht, in einem Anzug, und dass dieser Mann ihn offensichtlich missvergnügt ansieht. Er versteht das Missvergnügen nicht, hat er doch gerade zwei Bücher gekauft.

      Die Finger der jungen Verkäuferin gleiten geschickt über die Tasten der Kassa.

      „Macht hundertzehn Schillinge.“

      Peter Piechowiak kramt in den Taschen seiner Jeans, zieht ein paar zerknüllte Papiertaschentücher ans Licht, einen Radiergummi, ein Plektron und endlich, endlich, einige Scheine. Der Mann im Anzug, wahrscheinlich Herr Börries, denkt Peter Piechowiak, rümpft die Nase, und Peter Piechowiak stopft hastig die zerknüllten Papiertaschentücher zurück in die Hosentaschen.

      „Das ist aber nicht genug.“

      „Wie bitte?“

      Die junge Verkäuferin hat die Scheine glattgestrichen.

      „Das sind erst neunzig Schillinge.“

      „Entschuldigen Sie. Ich bin noch nicht sehr lange in Wien und komme mit den Schillingen immer noch nicht so ganz klar.“

      Er kramt weiter, stößt auf Münzen, sammelt sie in die hohle Hand, zählt nach, wobei er ab und zu eine Münze genau betrachtet. „Ich glaube, jetzt reicht’s.“

      Die junge Verkäuferin zählt nach.

      „Ja, stimmt. Und jetzt müssen wir uns eine Weile auch nicht mehr ums Kleingeld sorgen.“

      Peter Piechowiak errötet. Sie bemerkt’s, ja, sie bemerkt’s. Wenn man noch mehr könnte als erröten, jetzt geschähe es Peter Piechowiak. Aber sie lächelt wieder ihr bezauberndes Lächeln (tatsächlich rein geschäftsmäßig?), und er erträgt’s.

      Als Peter Piechowiak das Geschäft verlässt, nur einen Gedanken: Wie würde das werden? Das Funkgerät mit größter Kraft senden lassen, und drüben kein Empfang, weil sie ihrerseits woandershin mit voller Kraft sendet? Und empfängt? (welcher Doppelsinn!) Oder überhaupt nicht sendet? Oder gar nicht senden will? Jähe Trauer. Er hat er vergessen, einen Stamm zu gründen. Rechtzeitig. Seine Tage sind doch schon längst vorüber. Was jetzt noch kommen kann, ist lediglich kindischer Nachschlag: Sie wollen in den Gesellschaftswagen der