Klaus-Dieter Müller

Zukunft möglich machen


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in Hamburg liegenden Torpedoboote und die vereinigten Arbeiter und Soldaten übernahmen wichtige Schaltstellen des öffentlichen Lebens. Am 6. November verkündete der provisorische Arbeiter- und Soldatenrat vor 40 Tausend Hamburgern, dass er die politische Macht in Teilen übernommen habe. Am 12. November war sie vollends in seiner Hand. Der Weg zu einem demokratischen Hamburg war geebnet. Im Februar 1919 verkündete der Arbeiter- und Soldatenrat im Amtsblatt der Freien und Hansestadt Hamburg die Neuwahl der Bürgerschaft. Am 16. März1919 fand die erste allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Bürgerschaftswahl für Männer und Frauen statt. Wahlsieger war die SPD mit 50,4 Prozent der abgegebenen Stimmen. In dieser ersten, demokratisch gewählten Bürgerschaft mit 160 Abgeordneten hatten auch 17 Frauen Mandate inne. Das neue Parlament war das erste in Deutschland, das von einer Frau, der Alterspräsidentin Helene Lange, eröffnet wurde. Die gewählte Volksvertretung arbeitete eine neue Verfassung aus, die 1921 in Kraft trat. Die Bürgerschaft war nun alleiniger Gesetzgeber, der neben dem Budgetrecht die Wahl des Ersten Bürgermeisters und die Kontrolle des Senats oblag.

      Eine neue Zeit

      Der politische Neuanfang war im Deutschen Reich und auch in Hamburg von Unruhen begleitet. Die Stadt steckte 1919 in einer schweren Versorgungskrise. Im Vergleich zur Vorkriegszeit betrugen die Milchlieferungen beispielsweise nur noch 20%. Waren wurden dem normalen Handel für Geschäfte auf dem Schwarzmarkt entzogen. Im Juni 1919 musste sogar die Reichswehr anlässlich der „Sülze-Unruhen“ ordnend eingreifen: Die Bevölkerung protestierte gegen den Verkauf verdorbenen und minderwertigen Fleisches. Die Arbeitslosigkeit war dramatisch angestiegen. Auch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm des Senats hatte nur eine geringe Wirkung. Die Kassen der Stadt waren leer, die Verschuldung hoch und damit der politische Handlungsspielraum des Senats gering. Auch wenn es in den Folgejahren einen konjunkturellen Aufschwung gab, blieb es unruhig: 1921 besetzten Kommunisten die Werft Blohm & Voss, um einen republikweiten Aufstand zu unterstützen. Doch dieser fiel in sich zusammen. 1923 verschärfte sich die wirtschaftliche Situation durch eine Hyperinflation. Auf deren Höhepunkt erfolgte ein weiterer Versuch, die Macht zu ergreifen: Kommunistische Kampfgruppen stürmten in den Morgenstunden des 23. Oktober im Osten Hamburgs Polizeireviere. Doch der Aufstand scheiterte an der Übermacht von 5000 Polizisten. Auch Putschversuche von Rechts bewegten Hamburg. Am 13. März 1920 versuchten Rechtsextremisten in Berlin die Reichsregierung zu stürzen. Dieser Umsturzversuch, der „Kapp-Putsch“, wurde jedoch durch einen Generalstreik vereitelt, an dem sich auch Hamburger Arbeiter beteiligten. Zu dieser Zeit bildeten national gesinnte, stellungslose Offiziere und Soldaten den Kern nationalistischer und republikfeindlicher Gruppierungen, die eine Reihe von Anschlägen auf liberale und kommunistische Einrichtungen und Personen verübten. In Hamburg war eine von ihnen die personell noch sehr kleine Ortsgruppe der NSDAP, die aufgrund des 1922 erlassenen Republikschutzgesetzes verboten wurde. Mit der Hyperinflation im Jahr 1923 endete der kurze wirtschaftliche Aufschwung in erneuter Not für weite Bevölkerungskreise. Der Preis für ein Brot lag bei 17 bis 18 Millionen Reichsmark und der für ein Pfund Butter bei 60 Millionen. Die Arbeitslosigkeit war hoch und jene, die Arbeit hatten, bekamen keine Löhne. Streiks, Krawalle und Plünderungen von Lebensmittelgeschäften waren die Folge.{77} Fragen der Jugendhilfe standen in diesen Krisenjahren nicht an erster Stelle auf der politischen Agenda. Sie wurden aber von engagierten Abgeordneten der neu gewählten Bürgerschaft dennoch aufgegriffen.

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      Oberin Rothe hielt das an sie gerichtete Kärtchen der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge in der Hand, als sie sich am 17. März 1921 auf den Weg zur außerordentlichen Sitzung der Behörde im Hamburger Rathaus machte. Das prachtvolle Gebäude war erst 1897 nach 10-jähriger Bauzeit im Stil der Neorenaissance fertiggestellt worden. Das in voller Breite auf den Rathausmarkt ausgerichtete Gebäude mit seinem über hundert Meter hohen Turm prägt das Bild der Innenstadt bis heute. Ort der Sitzung war der Phoenixsaal im Rathaus. Der Name ist dem Mythos vom Vogel Phönix entlehnt, der sich aus der Asche erhebt und neues Leben symbolisiert. Der Saal erinnert an das Trauma des großen Brandes von 1842, der weite Teile der Stadt zerstörte, dem aber der erneute Aufstieg folgte. Konferenzteilnehmer betreten noch heute den Saal durch die zweiflügeligen, schweren Türen, über denen das geschnitzte Stadtwappen prangt. Zwei hohe Fenster sind zum Rathausmarkt ausgerichtet und beleuchten den Raum. Auf dem Bild über dem Kamin entsteigt Hammonia – Hamburgs Schutzpatronin – der Asche. Die dagegen kleinen und beinahe demütig wirkenden Ölgemälde grauhaariger Männer mit Halskrause erinnern an die Honoratioren der Stadt.

      In dieser Atmosphäre sollte ein ernstes Thema behandelt werden: Die von den Abgeordneten Stengele und Reiche der Hamburgischen Bürgerschaft aufgedeckten Missstände in den beiden Erziehungsanstalten, der Anstalt für Mädchen in der Feuerbergstraße und der für Jungen in Ohlsdorf. Die SPD-Abgeordnete Ida Stengele war Mitglied der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge. Sie hatte die beiden Erziehungsanstalten inspiziert und wollte über ihre Beobachtungen und vor allem die von ihr entdeckten Missstände berichten. Die 1861 in der Schweiz geborene Stengele war bis zu ihrer Heirat mit Gustav Stengele im Jahr 1894 als Erzieherin in Österreich, Frankreich und Italien tätig. Danach lebte sie als politisch interessierte Hausfrau an der Seite ihres Mannes in Hamburg. Gustav Stengele war Redakteur des Hamburger Echos und sozialdemokratischer Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft. Er starb 1917. Von politscher Seite erhob sich damit eine in der Pädagogik nicht unerfahrene Stimme. Ihre 1875 in Hamburg geborene Fraktionskollegin, Adele Reiche, war von 1896 bis 1907 Volksschullehrerin und von 1915 bis 1918 als Kriegshilfslehrerin in Hamburg tätig und ebenfalls Mitglied der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge. Zu ihr waren Beschwerden über die Behandlung der jungen Menschen in den Erziehungsanstalten vorgedrungen, die ebenfalls angesprochen werden würden.

      Um 14:15 Uhr eröffnete Staatsrat Lohse die Sitzung, zu der die genannten Kommissionsmitglieder, Direktor Heskel, zwei Ärzte, einige Beamte, Direktor Schallehn der Knabenanstalt und Oberin Rothe anwesend waren. Stengele erhielt das Wort und berichtete über zwei Besuche in der Knabenanstalt im Februar. Sie war dort auf verschmutzte Bettwäsche und Kleidung, Hygienemängel und unzureichende Kost, insbesondere auch für kranke Zöglinge, gestoßen. Weiterhin hatte sie die Überzeugung gewonnen, „dass in der Anstalt noch in den alten Bahnen fortgearbeitet würde und dass die Anstalt noch nicht von modernem Geiste durchdrungen sei.“{78} Sie schloss ihren Vortrag mit der Forderung zur Erneuerung durch eine familiärer geprägte und freiheitliche Erziehung sowie der gründlichen Berufsausbildung der Zöglinge sowie der Erzieher. Der Behörde waren zudem Beschwerden über Misshandlungen zugetragen worden, und dass „in der Erziehungsanstalt noch die Anwendung der sogenannten Gruppenkeile üblich sei.“{79} Die Vertreter der Anstalten und Beamten der Behörde widersprachen den Vorwürfen weitgehend. Die Behörde beschloss, von einem häufigeren Wäschewechsel abzusehen. Auch die Frage einer besonderen Verpflegung für Kranke ließ man auf sich beruhen. Allerdings wurde das Bestreben beschlossen, das allgemeine Niveau der Ernährung zu verbessern. Dabei sollte auch „die Frage der Herbeiführung des gleichen Essens für Angestellte und Zöglinge“ geprüft werden, denn die Beratung hatte zutage gefördert, dass die Angestellten getrennt von Zöglingen aßen und auch eine bessere Kost erhielten.

      Zum Abschluss wurden Beschwerden in Einzelfällen besprochen, darunter der Einschluss von Mädchen in der Feuerbergstraße in Arrestzellen, die nach Aussage der Oberin jedoch auf eigenen Wunsch der Zöglinge erfolgt seien. Insgesamt waren die Beamten wenig offen für die vorgebrachte Kritik. Der zweite Direktor, Riebesell, fühlte sich durch die Kritik verletzt und stellte sein Amt zur Verfügung, wenn die Behörde dies wünsche. Der Leiter der Knabenanstalt gab zu Protokoll, dass „von den von Frau Stengele gegen seine Amtsführung erhobenen Angriffen nichts an ihm hängen geblieben sei.“{80}

      Die von Stengele angeschnittene Frage der „Einführung eines freiheitlichen Geistes“, die eng mit der Strafordnung in den Anstalten verbunden ist, wurde auf eine spätere Sitzung verschoben. Und diese sollte auch nicht die letzte zu diesem bedeutsamen Thema sein.

      Es wurde eine „Kommission zur Abfassung einer Strafordnung in der Erziehungsanstalt für Mädchen“ einberufen, die sich jedoch grundsätzlich mit den Strafordnungen in allen Anstalten befasste. Zur Vorbereitung der ersten Kommissionssitzung wurden die Anstaltsleitungen