Klaus-Dieter Müller

Zukunft möglich machen


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organisatorisch einen Stand erreicht, der als Basis für die Fortentwicklung zur modernen Jugendhilfe angesehen werden kann, die bis in die 1980er Jahre hinein erkennbar blieb. In Hamburg im Besonderen hatte sich eine behördliche Struktur gebildet, die nicht nur administrierte, sondern die erzieherische und fürsorgerische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen weitgehend selbst übernommen hatte. Dass der Staat auch Heime betreibt, blieb als Grundprinzip – wenn auch mit fachlichen Veränderungen – bis heute erhalten.

      Aber auch andernorts hatte es eine Entwicklung bezüglich der Sicht auf die Aufgaben der Gesellschaft und des Staates gegenüber jungen Menschen gegeben. Bis zur Jahrhundertwende war es üblich, unter dem Begriff des Jugendlichen vor allem den aus armen Verhältnissen stammenden und kriminellen oder sonst „verdorbenen“ jungen Menschen zu verstehen, den man dem wachsenden Proletariat zuordnete. Für diese hatte man die Jugendfürsorge mit dem Instrument der Zwangserziehung geschaffen. Staatlichen Stellen wurde aber auch bewusst, dass man sich jungen Menschen und allem voran jungen Männern bereits im Kindes- und Jugendalter widmen musste, um sie von sozialistischen Organisationen fern zu halten und als fügsame Arbeiter und Soldaten zu gewinnen. Hierfür wurde 1908 das Reichsvereinsgesetz novelliert, das Personen unter 18 Jahren fortan die Mitgliedschaft in politischen Vereinen verbot.{69} Gleichzeitig förderte der Staat die von ihm gewünschten Jugendorganisationen unter dem programmatischen Begriff der Jugendpflege. Der diesbezügliche preußische Erlass wurde in einer Publikation des zu Preußen gehörenden Altona, einer Nachbarstadt Hamburgs, wie folgt beschrieben:

      „Die Jugendpflege will die Erziehungstätigkeit der Eltern, der Schule und Kirche, der Arbeitgeber und Lehrherren unterstützen, ergänzen und weiterführen zur Heranbildung einer frohen, körperlich leistungsfähigen, sittlich tüchtigen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten Jugend.“{70}

      Damit entwickelte sich neben der Jugendfürsorge die zweite Wurzel der modernen Jugendhilfe, auch wenn ihre Absichten aus heutiger Sicht alles andere als modern bezeichnet werden konnten. In der nur kurzen Zeit bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges hatte der zuvor negativ konnotierte Begriff des Jugendlichen eine „Umwertung“, eine „Image-Korrektur“ erfahren. „Nur wenn man die Proletarierjugend“ aus der Pauschalverdächtigung, ‚Jugendlicher‘ zu sein, entließ, konnte man erwarten, daß sie sich für die Interessen der privilegierten Stände einsetzte.“{71} Und das gelang für weite Teile der Jugend, die in den ersten Weltkrieg ziehen sollte.

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      Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Belgien herrschte im Deutschen Reich, ein „Hurra-Patriotismus“{72} in allen Schichten der Bevölkerung, der kritische Stimmen verstummen ließ. Die Straßen waren auch in Hamburg gesäumt von jubelnden Massen, die die zur Front marschierenden Truppen verabschiedeten. Auch die Sozialdemokraten im Reich wie in Hamburg schlossen sich dem Burgfrieden mit dem Regime für die Zeit des Krieges an, und brachten innerparteiliche Kritiker, darunter auch Vereinigungen der Arbeiterjugend, zum Verstummen.

      Bevor die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg nach den ersten Kriegsmonaten im Reich zu schwinden begannen, hatte die Hamburger Bevölkerung die Kriegsfolgen bereits zu spüren bekommen. Schon im August 1914 wirkte sich die britische Seeblockade verheerend aus: die Hafenwirtschaft brach in kurzer Zeit zusammen, die Arbeitslosigkeit stieg an. Arbeiteten 1913 noch rund 17 Tausend Personen täglich im Hafen, so sank die Zahl während des ersten Weltkrieges auf etwa drei Tausend ab. Ende August hatte sich die Zahl der Obdachlosen gegenüber dem Vormonat von sieben Tausend auf 16 Tausend mehr als verdoppelt. Am 21. August berichtete das SPD-Organ „Hamburger Echo“, dass in einzelnen Stadtteilen bereits gehungert werde. Die Situation verschlechterte sich zusehends, so dass im März 1915 in Hamburg die Lebensmittelversorgung rationiert und die „Brotkarte“ eingeführt wurde. Wie so oft in einer Notlage vor und auch nach dieser Zeit, stieg das Ausmaß der öffentlichen und freiwilligen Fürsorge für Arme und Schwache, zu denen auch die Kinder und Jugendlichen zählten, an. Im Juni versorgten bereits 58 öffentliche Kriegsküchen notleidende Menschen. Ein Jahr später waren es 70, zu denen täglich einhundert Tausend Menschen, darunter auch Kinder und Jugendliche, kamen. Viele Männer, also auch Väter, wurden zum Kriegsdienst eingezogen, Frauen nahmen im Verlauf des Krieges mehr und mehr ihre Stellung in der Produktion und im öffentlichen Leben ein. Kinder waren dadurch noch mehr sich selbst überlassen. Und einige verloren ihre Väter oder auch beide Elternteile.

      Seit dem Kriegsbeginn stieg die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die der Behörde zugewiesen wurden. Ende 1914 waren es 6617, fast 300 mehr als Ende 1913 mit 6334, wobei das Gros in Familienpflege untergebracht war oder unter Erziehungsaufsicht stand. Die Erziehungsanstalt für Mädchen in Alsterdorf hatte seit ihrer Betriebsaufnahme 1911 eine Ausweitung der Zahl der Betreuten auf 160 zu verzeichnen, während die Anstalt für Knaben einen leichten Rückgang auf 136 erfuhr. Das Waisenhaus mit der Aufnahmestation war mit einem deutlichen Zuwachs konfrontiert und musste daher Ausweichquartiere beziehen.{73} Für die Erziehungsanstalt für Mädchen war bereits nach ihrer Eröffnung schnell klar, dass sie einen Erweiterungsbau benötigte, der in Auftrag gegeben und dann 1915 eingeweiht wurde. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen in öffentlicher Erziehung in Anstalten stieg von 1913 mit 1400 bis zum Kriegende 1918 auf 2400 an. In einer Schrift zur wirtschaftlichen Lage Hamburgs aus dem Jahr 1921 heißt es dazu: „Die Zunahme der Zahl der Anstaltszöglinge ist eine bedauerliche Folge der wirtschaftlichen Verhältnisse, die die Bereitwilligkeit der Familien, Kinder in Pflege zu nehmen, immer mehr schwinden läßt.“{74} Auf Antrag der Eltern wurden im Jahr 1913 225 Minderjährige in Fürsorgeerziehung genommen und 1918 510.

      Für die Erziehungsanstalten war es bereits ab 1913 und besonders im Krieg schwierig geworden, geeignetes Personal zu gewinnen. Männliche Aufseher wurden nach und nach zum Kriegsdienst eingezogen, so dass der Anteil der Frauen im Personalkörper der Anstalten stieg. Die Zahl der Betreuten war hoch, so dass immer wieder die Überfüllung der Anstalten beklagt wurde. Im Krieg kamen die Lebensmittelknappheit und Rationierung als Erschwernis hinzu. So bat die Oberin der Erziehungsanstalt für Mädchen im März 1917 ihre Behörde, „dass wir hin und wieder, vielleicht 1 oder 2 mal wöchentlich, für unsere 170 Zöglinge Magermilch bekommen. (…) Die uns von der Knabenanstalt gelieferte Menge Milch ist zu gering, seit 14 Tagen täglich durchschnittlich 7 Liter, früher weniger oder gar nichts, wovon für die Angestellten täglich 3 Liter abgehen.“{75}

      Am 1. Dezember 1916 berichtete die Oberin in einer Besprechung der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge, dass es in den Kriegsjahren zu vermehrten, kritischen Situationen gekommen sei, die in erhöhtem Maß Disziplinarstrafen erforderlich gemacht hätten. Als Ursache beschrieb sie den in den letzten Jahren „tieferen geistigen und sittlichen Standpunkt“ der überwiesenen Zöglinge, aber auch die gestiegene Zahl an „Fluchtversuchen“. Auch sei eine gewisse „Kriegsnervosität“ festzustellen, „die die Zöglinge anstaltsmüde mache und die durch die in die Anstalt eindringenden Gerüchte, dass draussen in Fabriken für Mädchen Arbeit in Hülle und Fülle vorhanden sei, noch verstärkt werde.“{76} Der hier beschriebene Widerstand und das Entweichen der jungen Menschen war eine Bedrohung für die Ordnung in den beiden Anstalten. Und sie war ein Thema in den damals geführten Debatten zur Ausgestaltung von Strafen und der Züchtigung als Erziehungsmittel. Die Verantwortlichen haben auf diese Herausforderung in den Kriegsjahren keine befriedigende Antwort gefunden. Dafür brauchte es einen freiheitlichen Geist, der in jener Zeit in der Anstaltserziehung nicht zu finden war.

      Der Zusammenbruch der alten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung war aber nur eine Frage der Zeit. Im August 1916 jährte sich der Kriegsbeginn zum zweiten Mal, an dem erstmals Proteste gegen den Krieg und das Elend öffentlich zum Ausdruck gebracht wurden. Zum Jahresbeginn 1917 hatte sich die Versorgungslage weiter verschlechtert. Kartoffeln gab es kaum noch, stattdessen Steckrüben. Andere Lebensmittel wie Butter und Milch waren ohnehin selten geworden. Die Situation eskalierte. Geschäfte wurden geplündert, Unruhe beherrschten die Straßen in den Arbeitervierteln, die nur mit bewaffnetem Militär im Zaum zu halten war. Anfang 1918 streikten die Werftarbeiter und die Arbeiter der Zulieferbetriebe. Der Streik brachte das Fass der unhaltbaren Zustände aber noch nicht zum Überlaufen. Hierfür bedurfte es des Kieler Matrosenaufstandes, der am 3. November nach ersten Meutereien auf Kriegsschiffen begann. Wenige Stunden nach dessen Bekanntwerden, beschlossen