Klaus-Dieter Müller

Zukunft möglich machen


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könne aber unmittelbarer Zwang ausgeübt werden, und zwar auf Grundlage der gesetzlichen Vorschriften zur Notwehr und Selbsthilfe und Verhütung von Sachbeschädigung. Direktor Schallehn verteidigte erneut seine Position, dass es Fälle gebe, „wo die Anwendung der körperlichen Züchtigung unbedingt nötig sei.“ Auch Oberin Rothe wollte auf das letzte Mittel für besondere Fälle nicht verzichten. Sie hielt Fälle für möglich, „wo durch einen solchen scharfen Eingriff der Ausbruch einer Geisteskrankheit geradezu verhütet werden könne.“ Sie sei „jedoch nicht bereit, eine körperliche Züchtigung selbst vorzunehmen.“ Für Befremden sorgte in der Sitzung die Äußerung des Direktors Schallehn, dass in den Strafordnungen nur die schweren Züchtigungen aufgenommen seien, nicht die leichten. Dies war ein deutlicher Hinweis darauf, dass es zwar keine Stockschläge mehr gab oder geben sollte, aber der Klaps oder die Ohrfeige weiterhin als legitim betrachtet wurden.

      Direktor Hellmann plädierte ebenfalls für die Abschaffung der körperlichen Züchtigung. Er vertrat die Auffassung, dass der Zögling „die Züchtigung als Akt der überlegenen Gewalt [empfinde], der er sich fügen müsse. Es bleibe bei ihm die Abneigung bestehen und die Unerziehbarkeit werde verstärkt.“ Er ging auch auf die Ausführungen der Oberin ein: „Niemals könne eine Züchtigung eine Vorbeugung sein gegen Störungen des Nervensystems.“ Ein leitender Arzt der psychiatrischen Anstalt Friedrichsberg habe vielmehr „die Frage gestellt, ob nicht durch eine verkehrte Behandlung in der Erziehungsanstalt geistige Erkrankungen geradezu gefördert seien.“ Diesem Standpunkt schloss sich auch die Abgeordnete Stengele an. Dann entließ man die beiden Anstaltsleitungen und beschloss im engeren Kreis der Kommission, der Behörde vorzuschlagen, „die körperliche Züchtigung in beiden Strafordnungen zu streichen“ und dem Personal die Vorschriften für unmittelbaren Zwang zur Abwehr von Gefahren mitzuteilen. Das lang diskutierte Thema der Prügelstrafe war vom Tisch gefegt worden. In der darauffolgenden Sitzung der Behörde, an der auch der neue Direktor der Jugendbehörde, Dr. Wilhelm Hertz, teilnahm, wurde das Ergebnis bestätigt. Er machte deutlich, dass es bei den Disziplinarmaßnahmen nicht um Sühne, sondern um Verwaltungszwangsmaßnahmen gehe. Diese juristische Sichtweise mag für die behördliche Betrachtung des Gegenstandes hilfreich gewesen sein, für die erzieherische Praxis war sie es nicht.

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      Die Weimarer Republik mit dem erstmals in freien, allgemeinen Wahlen gewählten Reichstag war zweifelsohne eine ‚neue Zeit‘, insbesondere was sozialpolitische und speziell jugendpolitische Ambitionen anbelangt. Bereits 1921 lag ein Entwurf für ein „Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt“ vor. Er beginnt mit der Formel: „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf körperliche, geistige und sittliche Erziehung.“{87} Das war ein Paradigmenwechsel, denn Kinder galten bislang als Objekt erzieherischen Handelns, nicht als Träger eigener Rechte. Im ersten Paragrafen heißt es weiter: „Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird, (…) tritt öffentliche Jugendhilfe ein“. Auch wenn diese Generalklausel zum Recht des Kindes auf Erziehung ‚nur‘ einen Grundsatz formuliert, so wirkte er dennoch inspirierend für Reformvorhaben in der erzieherischen Praxis.

      Das Gesetz entstand in einer für die Reichsregierung und das Parlament höchst schwierigen Zeit. Politische Umsturzversuche und die Nachkriegsnot der Kriegsheimkehrer und weiter Teile der Bevölkerung, die schleichende und später galoppierende Inflation waren die Probleme, die das politische Handeln in den beginnenden 1920er Jahren beherrschten. Es verwundert daher nicht, dass das Gesetz überhaupt nur durch eine überparteiliche Initiative von Frauen zustande kam{88} und 1922 zwar verabschiedet wurde, aber erst mit einem Vorlauf zur Vorbereitung auf die neuen Aufgaben am 1. April 1924 in Kraft trat.

      Es war vor allem ein Gesetz zur Organisation der Jugendbehörden, zur Festlegung ihrer Aufgaben und Kompetenzen und der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. Auf kommunaler Ebene waren Jugendämter zu schaffen, auf Landesebene Landesjugendämter und im Bereich der Reichsverwaltung ein Reichsjugendamt.

      Die bisherigen Entwicklungen in der Jugendhilfe der Länder des deutschen Reiches wurden dabei aufgegriffen. Offenbar war die Hamburger Jugendbehörde ein Vorbild für die gesetzlichen Regelungen, wie eine Abhandlung über die wirtschaftliche Lage Hamburgs aus dem Jahr 1921 zum Entwurf des Gesetzes bereits feststellte: Der Satz `Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf körperliche, geistige und sittliche Erziehung‘ stamme von Dr. Petersen, der das erste Jugendamt in Deutschland schuf. Es sei nun das Vorbild für „etwa 1000 Jugendämter in Deutschland.“{89}

      Das Gesetz enthält die in Hamburg bereits praktizierten Regelungen zum Schutz der Pflegekinder, zur Rolle des Jugendamtes im Vormundschaftswesen sowie zur öffentlichen Unterstützung hilfsbedürftiger Minderjähriger und speziell zur Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung. Die Länder wurden befugt, Ausführungsgesetze zu erlassen. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation zum Zeitpunkt des Inkrafttretens, wurden durch eine Notverordnung vom Februar 1924 Vorbehalte zur Durchführung des Gesetzes zur finanziellen Entlastung auf der Länder- und Kommunalebene formuliert.

      Hamburg hat hiervon keinen Gebrauch machen müssen, denn die behördlichen Strukturen der Jugendhilfe entsprachen hier bereits im Wesentlichen denen, die im neuen Reichsgesetz vorgesehen waren. In der Schrift „Öffentliche Jugendhilfe in Hamburg“ aus dem Jahr 1925 heißt es dazu:

      „So ist die Behörde für öffentliche Jugendfürsorge ausgerüstet mit großen Erfahrungen und mit dem gut organisierten Apparat, der zu ersprießlicher Arbeit nötig ist, im Jahre 1924 aufgegangen in Landesjugendamt und Jugendamt, ohne das Gesicht nach außen viel zu verändern, da im großen und ganzen – mit Ausnahme einiger Aufgaben des Landesjugendamtes - die heutigen Aufgaben der Jugendwohlfahrtsbehörden schon durchgeführt waren.“ {90}

      Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) und das Hamburgische Ausführungsgesetz legten als landesjugendamtliche Aufgabe fest, dass die Erziehungsanstalten vom Landesjugendamt zu überwachen waren. Bereits 1925 beschloss der Senat in einer Verordnung Grundsätze der Überwachung der Anstalten, die durch die zeitgleich erlassenen Richtlinien des Landesjugendamtes inhaltlich weiter ausgeführt wurden. Die „Heimaufsicht“ war ins Leben gerufen worden.

      In der Geschäftsstelle des Landesjugendamtes waren 1925 in 7 Abteilungen etwa 230 Beamte und Angestellte tätig, im Jugendamt einschließlich der Anstalten sogar 580.

      Doch nicht nur in Bezug auf die Verwaltungsstrukturen waren die Bedingungen in Hamburg für den Start des Reichjugendwohlfahrtsgesetzes sehr gut. Auch die Aufgabenwahrnehmung war bereits weiter fortgeschritten als anderswo. So gab es in Hamburg zum Beispiel bereits ein Mütterheim, das Marthahaus, in dem junge Mütter mit ihrem Kind aufgenommen werden konnten. „Nicht nur, daß dem Kinde hier in der Regel der Vorteil der Brustnahrung zu Teil wird: vor allem lernen Mutter und Kind sich hier eins fühlen, wenn sie einige Wochen im Heim waren.“{91}

      Hamburg war damals wie heute eine spannende Groß- und Hafenstadt, die junge Menschen, “seien es Arbeitsuchende oder Abenteurer und Bummler“, anzog. Für die in der Stadt gestrandeten männlichen Minderjährigen unter 18 Jahre stand eine Jugendherberge mit 870 Betten für den vorübergehenden Aufenthalt bereit, bis sie in ihre Heimat zurückgeführt oder in Arbeit vermittelt wurden. Zwischen 1920 und 1924 waren es immerhin 12721 jugendliche Zuwanderer, derer sich das Jugendamt annahm. Im Mädchenheim Alstertwiete fanden Mädchen Aufnahme, „die um Schutz nachsuchen oder die des Schutzes bedürfen.“{92} Der Aufenthalt sollte nur von kurzer Dauer sein und diente der Klärung der Situation und der Perspektive, die in der Rückführung in das Elternhaus oder dem weiteren Schutz in einer Einrichtung bestand. Im Jahr 1924 war diese Einrichtung mit 45 Plätzen der Zufluchtsort für 800 Mädchen. Damit verfügte Hamburg bereits über Anlaufstellen für junge Menschen in gefährdenden Lebenssituationen, die man heute als Notdienste bezeichnen würde.

      Eine weitere Besonderheit in Hamburg waren die Lehrlingsheime, in die Fürsorgezöglinge aufgenommen wurden, wenn sie eine Ausbildung begannen. Hamburg war mit seinem Ausführungsgesetz zum RJWG auch den Schritt gegangen, dass die Erziehungsberechtigten ihr Kind dem Jugendamt auf Antrag und ohne Gerichtsbeschluss zur Erziehung übergeben konnten. Die Strukturen der Fürsorgeerziehung hatten sich allerdings seit den Reformjahren nach 1900 nicht wesentlich geändert. Die Einrichtungen aus der damaligen Zeit waren noch