Klaus-Dieter Müller

Zukunft möglich machen


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sich zu einem hohen Anteil freiwillig für die völlig aussichtslosen Widerstandsaktionen gegen die bevorstehende Besetzung durch die Alliierten.{178} Bereits ab Februar 1943 wurden Oberschüler neben dem Unterricht, ab 1944 auch Lehrlinge als Luftwaffen- bzw. Flakhelfer in der Luftabwehr eingesetzt{179}, so zum Beispiel die Jungen der Albrecht-Thaer-Schule am Sievekingplatz, die auf dem Hochbunker an der Feldstraße eingesetzt wurden.{180} Bei den Flakhelfern stieß das Regime zum Teil auf das durch Heldengeschichten geprägte Prestigestreben der Jungen, aber auch auf Ablehnung. Wer sich dieser Rekrutierung entziehen konnte und auch nicht in einer Anstalt untergebracht oder einem Lager interniert war, musste untertauchen und hauste mit anderen in den Ruinen der Stadt.

      Der Stern des Regimes sank unaufhörlich. Nur noch wenige glaubten an den „Endsieg“, viele hatten sich schon lange von der nationalsozialistischen Führung abgewandt. Die Versorgungslage verschlechterte sich mit zunehmender Dauer des Krieges. Im Mädchenheim in der Feuerbergstraße sank die Zahl der Neuaufnahmen, weil junge Frauen dienstverpflichtet wurden. So musste das Personal des Heimes auch auf Hausmädchen verzichten, die bislang ihre Privaträume gereinigt hatten.{181} In den letzten Kriegsmonaten und über das Kriegssende Anfang Mai 1945 hinaus blieb die Versorgung mit Kohle und Gas immer wieder aus, auch die Lebensmittelversorgung war trotz intensiver Nutzung des Gartens weiterhin ein großes Problem. Täglich musste im Heim „für gut 300 Personen gekocht werden, für Säuglinge und Kleinkinder anders als für Erwachsene“, berichtete die Heimleiterin Cornils. Und in der Wäscherei, die auch für andere Heime arbeitete, wurde seit März kalt gewaschen: „Die Wäsche wird ‚glitschig‘, weil sie mehr und mehr verunreinigt, weil nicht gekocht wird und sie wird nicht mehr trocken.“{182} Die Arbeit der Mädchen wurde bis zum Schluss als „kriegswichtig“ eingestuft. Dies bedeutete zwar keine bessere Verpflegung, aber zumindest wurde die Einquartierung einer Kompanie des Volkssturms abgewendet. Senator Paul, „der in jeder Beziehung als Freund und Förderer des Volkssturms bekannt“ war, gestatte ihm im April 1945 nur die Nutzung zweier Räume.{183}

      Die Nachrichten, Gerüchte und Fantasien über den sich anbahnenden Zusammenbruch des Regimes und der öffentlichen Ordnung machten vor dem Heim Feuerbergstraße nicht Halt. Die Heimleiterin berichtete, dass „in den letzten Kriegswochen und in den ersten Wochen nach dem Umbruch eine schwere Beunruhigung und eine große Unsicherheit“ zu verzeichnen waren. Die Bereitwilligkeit zur Mitarbeit war einer, die Ordnung gefährdenden Aufbruchsstimmung gewichen: Bei einem Teil der Mädchen habe sich eine „Sensationslüsternheit“ breit gemacht, bei den meisten auch der Wunsch, nach Hause zurückzukehren „und dabei [zu] sein, wenn etwas los ist.“{184}

      Am Abend des 3. Mai 1945 war es so weit. Der für Hamburg zuständige, militärische Führer und Gauleiter, Kaufmann, hatte entschieden, Hamburg kampflos an das britische Militär zu übergeben. Am 4. Mai und in den darauffolgenden Tagen wurden die Nazi-Führer verhaftet.{185}

      Die Stadt befand sich in einem katastrophalen Zustand. 213 Fliegerangriffe waren im Krieg geflogen worden. 702 Mal verkrochen sich die Hamburger nach einem Fliegeralarm in Kellern und Bunkern.{186} Die Bombardements töteten, soweit dies überhaupt halbwegs genau feststellbar ist, 45 Tausend Menschen und hinterließen etwa 150 Tausend Verwundete. Die zweitgrößte Stadt Deutschlands mit knapp 1,7 Millionen Einwohnern im Jahr 1939 war bei Kriegsende ein Trümmerfeld, in dem etwa 1,1 Millionen Menschen hausten, nachdem durch zwischenzeitliche Evakuierungen im Jahr 1943 der niedrigste Stand bei 800 Tausend lag.{187} Fast 80% des Wohnungsbestandes des Jahres 1939 war bei Kriegsende beschädigt oder ganz zerstört. Wichtige öffentliche Einrichtungen, wie etwa Schulen und Krankenhäuser, aber auch Wirtschaftsanlagen, allem voran jene im Hafen, waren beschädigt oder vernichtet. Baudenkmäler lagen auch in Trümmern.{188} Die Gebäude des Waisenhauses auf der Uhlenhorst wurden beim Großangriff am 28. Juli 1943 schwer getroffen, darunter auch das Verwaltungsgebäude in der Averhoffstraße und das in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene Kleinkinderhaus am Winterhuder Weg.{189} Dagegen überstand das Mädchenheim Schwanenwik das Bombardement im Sommer 1943, obwohl es sich im Zentrum der Zerstörung befand. Und auch bei den nachfolgenden Angriffen bis zum Kriegsende blieb es nahezu unbeschädigt. 43 Millionen Kubikmeter Schutt bedeckten Straßen und Grundstücke. Allein für ihre Bergung veranschlagte man damals 18 Jahre. Man hoffte aber, die Trümmer mit erhöhten Anstrengungen bereits in zehn Jahren beseitigen zu können.{190} Die Versorgung der Bevölkerung war prekär und stellte die britische Militärregierung vor große Herausforderungen.

      Neuanfang? Zurück in die 1920er

      Das nationalsozialistische Regime war beendet. Doch wie mit der Schreckensherrschaft umgehen, Täter identifizieren und verfolgen und Opfer entschädigen und rehabilitieren, wenn doch die Mehrheit der Bevölkerung Mittäter oder „Mitläufer“ waren? Wie das Chaos und Elend bewältigen? Wie einen Wiederaufbau in Gang setzen?

      Die Antwort auf diese Fragen musste der britische Stadtkommandant, Harry W.H. Armytage, beantworten. Um die dringendste Not zu lindern, bedurfte es einer Zivilverwaltung mit unbelasteten und kooperativen Personen. In einem ersten Schritt setzte der Stadtkommandant den 1878 geborenen Kaufmann Rudolf Petersen als Ersten Bürgermeister ein. Er war der Militärregierung unmittelbar unterstellt und hatte die Aufgabe, mit anderen Fachleuten die Zivilverwaltung zu leiten.

      Petersen schien in diesem Moment für diese Position besonders geeignet, weil er aus einer traditionsreichen, gut situierten Hamburger Familie stammte und im Dritten Reich keine Position im nationalsozialistischen Regime bekleidet hatte. Er war aber kein so begabter Politiker wie sein älterer Bruder, Carl Wilhelm, der in den zwanziger Jahren und zuletzt von 1932 bis 1933 das Amt des Ersten Bürgermeisters von Hamburg innehatte. Der parteilose Rudolf war dagegen politisch unerfahren und stand der Aufgabe zunächst auch skeptisch gegenüber. Als Hamburger Unternehmer stellte er sich in die Tradition der hanseatischen Kaufleute, der Elite der Stadt seit Jahrhunderten. Für ihn hing das Wohlergehen der Stadt von der Kraft der Wirtschaft und vor allem vom Außenhandel ab. Als unbelastetes, parteiloses Mitglied der gesellschaftlichen Oberschicht der Stadt bot er sich im Mai 1945 für die Briten als Bürgermeister an. Dass er den Nationalsozialismus als einen „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte und als ein Schicksal, das über das deutsche Volk hereingebrochen sei, bezeichnete, zeigte seine politische Naivität. Es ist ihm allerdings anzurechnen, dass er sich der Aufgabe stellte und sein Amt bis zur Wahl der ersten Bürgschaft und eines neuen Senats im November 1946 ausübte.{191}

      Zu den Fachleuten, die Petersen mit Billigung der Briten um sich scharte, gehörte zunächst auch Senator Oscar Martini, der seit 1920 und später auch im nationalsozialistischen Hamburg für das Wohlfahrtswesen zuständig war. Er wurde 1937 Parteimitglied der NSDAP und bekannte sich zur ausgrenzenden NS-Sozialpolitik, die auch die Euthanasie beinhaltete. Er wurde erst Ende 1945 von der britischen Militärregierung seines Amtes enthoben. Bereits am 20. Juni 1945 wurde Friedrich Ofterdinger entlassen und interniert. Er starb kurze Zeit später in der Haft. Er war im nationalsozialistischen Hamburg Generalkommissar für das Gesundheitswesen und oberster Organisator der Krankenmorde. Dagegen gab es auch neues Personal, das für die Bewältigung der Krise und einen Neuanfang erforderlich war. Zu den für die Jugendhilfe maßgeblichen Personen gehörte Heinrich Eisenbarth. Der Sozialdemokrat war bereits von 1925 bis 1933 Senator der Jugendbehörde und später zusätzlich der Sozialbehörde und wurde am 15. Mai 1945 erneut in dieses Amt berufen. Er gehörte dem Senat bis zu seinem Tod im Jahr 1950 an. Er übertrug Hermine Albers die Leitung des Landesjugendamtes. Die 1894 geborene Sozialwissenschaftlerin wurde 1928 für den Aufbau einer behördenübergreifenden Familienfürsorge in die Hamburger Sozialverwaltung berufen. Als sozialdemokratische Reformerin wurde sie 1933 aus dem öffentlichen Dienst entlassen und überstand als Wirtschaftsprüferin und Treuhänderin die Zeit bis zum Kriegsende. Sie arbeitete nicht nur in Hamburg mit großem Engagement an einem Wiederaufbau, sondern wirkte auch bundesweit am Aufbau der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und der 1949 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge“ mit. Als Mitherausgeberin der Fachzeitschrift „Unsere Jugend“ beeinflusste sie den Diskurs über die Fortentwicklung der Jugendhilfe in der Nachkriegszeit.{192}

      Unmittelbar nach Kriegsende stand zunächst die Aufgabe im Vordergrund, der Not in der städtischen und gesellschaftlichen Trümmerlandschaft zu begegnen. Die Briten hatten verständlicherweise