Klaus-Dieter Müller

Zukunft möglich machen


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selbst Not litt und zeitweise Lebensmittel rationieren musste. Die Lebensmittelversorgung war trotz aller Bemühungen zwischen 1945 und 1947 immer wieder prekär. Die täglichen Rationen lagen mit 800 Kalorien unter dem als Minimum anerkannten Wert von 1500 Kalorien. Die Briten lieferten Wellblechhütten, die auf Trümmergrundstücken aufgestellt wurden. Im bitterkalten Winter 1946/47, in dem mehrere Kältewellen von minus 20 Grad die Stadt wochenlang erstarren ließen, schafften sie Brennstoff heran, damit die Strom – und Gasversorgung zumindest für wenige Stunden am Tag aufrechterhalten werden konnte.

      Für alle britischen Militärangehörigen galt mit dem Einrücken in die Stadt ein striktes Fraternisierungsverbot. Kontakte waren nur aus dienstlichem Anlass erlaubt und standen im Übrigen unter Strafe. Die Soldaten verbrachten ihre Freizeit unter sich, in extra eingerichteten britischen Clubs, Lokalen und Theatern. Das britische und das deutsche Alltagsleben verliefen strikt getrennt. Zunächst jedenfalls, denn die britischen Soldaten vermochten es offenbar nicht, sich an das Verbot zu halten.{193} Da es zu Kontakten kam, vor allem auch zwischen Soldaten und den Hamburger Mädchen und Frauen, sah sich die britische Militärführung bereits im August gezwungen, das Verbot zu lockern. Man durfte sich auf Straßen und im öffentlichen Raum unterhalten. Faktisch war es aber Sex in Grünanlagen, wie die Polizei in einem Bericht festhielt: „Die Verbrüderung schreitet fort. Allerdings scheinen ‚Schwestern‘ gefragter zu sein als ‚Brüder‘. Hierbei entstehen Auswüchse, die sowohl im Interesse der deutschen als auch der britischen Verwaltung vermieden werden müssten. Auf Anlagen – mitten in der Stadt – wo noch dazu Schilder stehen mit der Aufschrift ‚betreten verboten‘ – liegen britische Soldaten und deutsche Mädchen in mehr als zweideutigen Situationen. (…) Immerhin muß man dabei geltend machen, daß es sich in erster Linie um sehr junge Mädchen handelt oder um solche, die hoffen, irgendetwas (Schokolade, Zigaretten usw.) von den Kavalieren zu erhalten.“{194} Viele Hamburger waren über diese Verhältnisse empört, behielten es aber weitgehend für sich. Aus den Kontakten entstanden Partnerschaften und Eheschließungen, uneheliche Kinder und Infektionen mit Geschlechtskrankheiten. Bereits kurz nach Kriegsende hat es in Hamburg Prostitution gegeben, und zwar nicht nur die professionelle, sondern auch die heimliche oder „Hungerprostitution“, die als Ursache für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten angesehen wurde. Die Behörden stellten fest, dass sich durch das „Fehlen familiärer und damit sittlicher Bindungen“ und aufgrund „des sinkenden Verantwortungsbewußtseins der Erwachsenen“ zahlreiche männliche Jugendliche auf dem Schwarzmarkt betätigten und nicht zur Arbeit gingen, und junge Mädchen in die heimliche Prostitution abglitten.{195} In einem Lagebericht der Polizei vom Juli 1945 heißt es dazu. „Die Gefahr der Verbreitung venerischer Krankheiten ist (…) durch den Zustrom weiterer Personen männlichen und weiblichen Geschlechts und den inzwischen ungebundenen Verkehr der Bevölkerung mit den Besatzungstruppen zu erwarten.“{196} Sowohl die Militärpolizei als auch die Hamburger Sittenpolizei griffen Frauen aus Bars und von der Straße auf, um sie zu untersuchen. Stellten sie sich als infiziert heraus, wurden sie in ein Krankenhaus zur Behandlung eingewiesen. Ein durchschlagender Erfolg war der Aktion nicht beschieden. Das offenbar rüde Vorgehen der Polizei geriet 1946 in die Kritik und veränderte das Vorgehen. „Durch die Initiative der Gesundheitsbehörde gelang es, anstelle der Razzien einen aus weiblichen und männlichen Fürsorgekräften bestehenden neuen Streifendienst einzusetzen“, berichtete der Senat rückblickend.{197} Er hatte auf der Grundlage eines von der Bürgerschaft beschlossenen Gesetzes umfassende Befugnisse zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Neben der Zwangsbehandlung Infizierter betrieb die Behörde Aufklärung in der Öffentlichkeit, um die Unkenntnis vor Gefahren und über den eigenen Schutz zu überwinden. Die Razzien wurden im Spätherbst 1947 schließlich aufgegeben.

      Dass hier auch Mädchen aus Heimen involviert waren oder nach einem Aufgreifen dorthin gebracht wurden, ist wahrscheinlich. Zumindest galten die als „verwahrlost“ geltenden Mädchen in den Heimen als vergnügungssüchtig und sexuell enthemmt. Daher gehörten in den Mädchenheimen nicht erst seit Kriegsende, sondern bereits zuvor gynäkologische Untersuchungen zur Feststellung von Geschlechtskrankheiten zum Aufnahmeprozedere. So berichtete eine im Jahr 1942 15-Jährige im Mädchenheim Schwanenwik, dass sie in das Arztzimmer geleitet wurde, in dem sich die Heimleiterin, eine Krankenschwester und ein Arzt befanden, der unter seinem Kittel Uniform trug. „Und dann ging’s auf den Tiroler“, den gynäkologischen Untersuchungsstuhl, auf dem das Mädchen einer schmerzhaften Untersuchung unterzogen wurde.{198}

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      „Es gibt keine verlorene Generation“. Mit diesen Worten beginnt der Rückblick des Senats auf die „Arbeit für die Jugend“ seit dem Kriegsende bis 1949. „Das natürliche Grundelement des Jugendlebens ist immer wieder das der Hoffnung“, denn dem jungen Menschen bleibe „immer die Möglichkeit, doch die Zukunft und die ganze Welt zu gewinnen.“{199} Pathetische Worte, die angesichts der „Jugendnot“ auch nötig waren, um die Kraft für die Bewältigung dieser Krise aufzubringen: „Politischer Zerfall und Auflösung der wirtschaftlichen Ordnung, Ernährungsschwierigkeiten, Elternlosigkeit und Verlust der Heimat brachten viele Tausende von Jugendlichen in eine Lage, der sie seelisch nicht gewachsen waren.“{200} Die Versorgung junger Menschen, aber auch die Förderung ihrer Erziehung innerhalb und außerhalb der Familie waren die Schwerpunkte der Jugendpolitik in der Nachkriegszeit.

      „Nach der Kapitulation strömten Massen flüchtender, vertriebener Jugendlicher aus dem Osten in die Westzone ein. (…) An einer einzigen Auffangstelle in Hamburg zählte man monatlich viele Hunderte“, berichtete der Senat.{201} Die Jugendbehörde errichtete Durchgangslager, in denen die jungen Menschen versorgt und die Rückkehr zu den Eltern, Verwandten oder ihrem Heimatort organisiert wurde. Sie schuf auch „Jugendwohnheime für heimat-, eltern- und obdachlose Jugendliche“. 1945 gab es bereits 13 Heime, 1949 dann 18 mit 949 Plätzen. „Auch in zahlreichen Erziehungsheimen mussten Durchgangsgruppen gebildet werden, die monatlich 80-120 Kinder aufnahmen.“{202}

      Die Erziehungs- bzw. „Jugendamtsheime“ sahen sich nach dem Zusammenbruch mit einem Neuanfang konfrontiert. Bei Kriegsende gab es elf Erziehungsheime, neun wurden in kurzer Zeit neu geschaffen, so dass der Bestand 1949 bei 20 lag. Die materielle Not machte in diesen Jahren vor ihren Türen nicht Halt. Personal fehlte für die große Zahl an zu betreuenden Kindern und Jugendlichen. Konzeptionell bestand erneut die Erwartung, „den früheren Charakter der Fürsorgeanstalt“ zu überwinden{203}.

      Einen Einblick in den Heimalltag jener Zeit gewähren die Aufzeichnungen aus dem Jugendheim Gojenberg im Südosten Hamburgs. Die Einrichtung war 1939 als Erziehungsheim für „schwierige, aber erbwertige Kleinkinder und kleinere Schulkinder“ klassifiziert worden. Sie befand sich in der Hitlerstraße 104 in Hamburg-Bergedorf.{204} Während des Krieges wurde das Heim mit seinen Kindern nach Thüringen verlegt. Die Heimleiterin, Hertha Schulze, die bis zu seiner Schließung das Kinderheim „Seestern“ in Grömitz geleitet hatte, begleitete die Kinder zunächst in das thüringische Heim, dann im März 1945 nach Niendorf an der Ostsee und von dort Ende Mai nach Hamburg zurück. Das Gebäude war allerdings noch bis zum Sommer 1945 von einem Säuglingsheim in Beschlag genommen, so dass die Kinder und das Personal zunächst an unterschiedlichen Orten untergebracht wurden und das Heim erst im Juli seine Arbeit wieder aufnehmen konnte. „Die wirtschaftlichen Sorgen waren nicht gering“, erinnerte sich die Heimleiterin im Oktober 1945 in einem rückblickenden Bericht.{205} Die Lebensmittelreserven waren verschwunden, „Feuerung zum Kochen war nicht vorhanden“, „es fehlt an warmer Bekleidung“ und „das Schuhzeug ist trostlos.“ Auch die Kinder helfen mit, Holz zu sammeln, das aber vermutlich nur zum Kochen und nicht für das Heizen im bevorstehenden Winter ausreichen würde. „Durch Aussaat von Salat, Mangold und Bohnen konnten wir die spärlichen Erträgnisse des Gartens etwas verbessern.“ Trotz der schwierigen Versorgungslage war der Gesundheitszustand der Kinder „bisher recht gut“. Das Haus war im Oktober 1945 mit 114 statt 85 Kindern überbelegt. Zu ihnen gehörten 15 Kleinkinder, je 45 Schuljungen und ‑mädchen sowie 9 jugendliche Mädchen. Der Schulunterricht wurde im Heim abgehalten, weil die öffentlichen Schulen „mit dem augenblicklichen Kindermaterial“ nicht belastet werden könnten. Die Zusammensetzung der Kinder im Heim entspreche einem „rechten Durcheinander von Typen“. Dies sei dem starken Zustrom an Kindern geschuldet, die in einem Heim unterzubringen seien. „Erschütternd