Klaus-Dieter Müller

Zukunft möglich machen


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gebe, um die „Nöte der Zeit zu [be]zwingen.“

      Der Bericht geht auf eine Aufforderung des für die Heime zuständigen Verwaltungsbeamten Röbiger zurück. Er hatte am 1. Oktober 1945 die Anweisung des Erstens Bürgermeisters Petersen weitergegeben, dass „von allen Ämtern und Behörden Tätigkeitsberichte für jeden Monat“ vorzulegen seien: „Bitte nicht schimpfen, der Bürgermeister hat befohlen!“, gab er die Berichtspflicht weiter. Im Zuge dieser Aufforderung erbat Röbiger auch Ausführungen zu einem besonderen Thema: „Interessieren würde mich – vom Standpunkte der Jugendpsychologie – wie Kinder und Jugendliche seelisch auf den Zusammenbruch des NSDAP-Regimes reagierten. Oder war das Gefühl, daß ‚endlich der Krieg aus war‘ so dominierend, daß andere Empfindungen dadurch verdrängt wurden?“{206}

      Die Heimleiterin Schulze versuchte hierzu eine Einschätzung zu geben. Die Kinder seien stark durch die Umgebungswechsel geprägt, berichtete sie{207}. Manche seien auf den Zusammenbruch innerlich vorbereitet gewesen, andere scheinen sich betrogen zu fühlen und zeigten Misstrauen gegenüber den Erwachsenen. „Einige Jungen haben sich mit Bravour darangemacht, alles ‚Nazimässige‘ zu suchen und es dem Untergang zu weihen.“ Allerdings stehe keine Einsicht dahinter, sondern nur das Neue der Zeit, das alle Jugendgenerationen jeweils bestimmen würde. Die jugendlichen Mädchen seien ganz „im Sinne der H.J. erzogen worden“. Sie äußerten sich wenig, weil sie bei Erwachsenen ohnehin auf eine andere Meinung stoßen würden. So sei es erforderlich, „in geschickter pädagogischer Führung diese Menschenkinder zur Kritik und über die Kritik zur Einsicht zu erziehen.“ Die Kinder würden eine Reaktion auf das Geschehene nicht unbedingt zur Schau tragen. Allerdings müsse man sich auch davor hüten, zu viel in die Kinder „hineinzusehen“. Sie schloss den Bericht mit der Einschätzung ab: „So sehr ich versucht habe zu ergründen, wie die Kinder auf den Zusammenbruch wirklich reagieren, so bin ich zu keinem klaren Bild gekommen.“

      Auch im Mädchenheim Feuerbergstraße herrschte materielle Not. Brennmaterial fehlte, die Ernährung war unzureichend. Die Mädchen dachten dauernd ans Essen, waren aber auch durch abenteuerliche Geschichten aus der Stadt und über die britische Besatzung aufgeregt. „Auch sonst ist die Steigerung des Genussbetriebes deutlich – möchten wieder tanzen, ausgehen, Kino, Schokolade, Bekanntschaften mit Engländern, um Vorteile zu haben“, berichtete die Heimleiterin Cornils.{208}

      Das Mädchenheim Schwanenwik wurde im Mai 1945 durch das britische Militär beschlagnahmt, aber bereits im Juni wieder freigegeben. In dieser kurzen Zeit wohnten dort britische Soldaten zusammen mit 100 Mädchen. Im Herbst wurde das Heim dann vollständig als Durchgangsheim für schulentlassene Mädchen und junge Frauen konzipiert.{209} Und von diesen gab es so viele, dass im Dezember dann schließlich eine Aufnahmegruppe in der Feuerbergstraße eingerichtet wurde, ein Provisorium, das als „Aufnahmegruppe Schwanenwik im Mädchenheim Feuerbergstraße“ bezeichnet wurde.{210}

      Mit der Zeit bildete sich wieder eine Normalität in den Heimen heraus, wie das Beispiel des Mädchenheims Schwanenwik zeigt, über das in einer Reportage im Hamburger Abendblatt vom 6. Juli 1949 berichtet wurde.{211} Zu diesem Zeitpunkt wohnten nur noch 46 Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren dort. Die neue, 30 Jahre alte Heimleiterin hatte die eisernen Gitterstäbe entfernen lassen und die Situation auch pädagogisch offenbar etwas liberalisiert. Das Heim war immer noch ein Durchgangsheim, also eine Erstaufnahmestation im System der Heime. Es gab aber nicht mehr so viele umherirrende junge Menschen, die Zeiten hatten sich in dieser Hinsicht beruhigt. Die Zahl der Entweichungen sank von 1947 bis zum Juli 1949 von 46 auf nur zwei. Die Heimleiterin teilte die Mädchen in „weiße“, „graue“ und „schwarze Schafe“ ein, also in nur „vorübergehend Gestrauchelte“, die bald wieder entlassen werden, jene, bei denen erst die Beobachtung eine Klärung bringen musste, und die Gefährdeten, deren weiterer Weg in die Feuerbergstraße führte. Noch immer spielten Bekanntschaften zu britischen Soldaten eine Rolle, das Umherirren in „Absteigequartieren und Bahnhofshallen“, Prostitution und kleinere Straftaten. „In ihren Augen stehen Erkenntnisse, die man in ihrem Alter nicht haben sollte“, heißt es weiter zu den biografischen Hintergründen der Mädchen, zu denen verstorbene Eltern und zerrüttete Familien ebenso gehörten wie Misshandlungen durch nahe stehende Personen und sogar Vormünder sowie Suizidversuche.

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      Nachdem bereits in den ersten Tagen nach der Kapitulation die britische Militärregierung den Hamburgern die zivile Verwaltung unter ihrer Aufsicht übertragen hatte, erfolgte im September 1945 der erste Schritt zur Demokratisierung des Gemeinwesens. Die Militärregierung wollte einen Ratsausschuss berufen, dessen Zusammensetzung sie vorgab: Die Mitglieder sollten nach einem vorgegebenen Proporz aus dem Senat, Parteien, den Kirchen, den Gewerkschaften, aus Handel, Gewerbe, Landwirtschaft und Grundeigentümerschaft und anderen Berufsgruppen. Hinzu kamen Hausfrauen, Vertreter aus Harburg und Bergedorf und aus dem Kreis der politischen Gefangenen und Verfolgten. 50 Organisationen und Einrichtungen wurden aufgefordert, Vertreter für den Ratsausschuss zu benennen. Der aus 81 Mitgliedern bestehende Ratsausschuss, der schließlich den Namen Bürgerschaft führte, konstituierte sich am 27. Februar 1946 und war das „Vorparlament“, das bis zur ersten Nachkriegswahl der Hamburgischen Bürgerschaft am 13. Oktober 1946 im Amt war.{212} Die Wahl brachte ein deutliches Ergebnis für die SPD, die zusammen mit der KPD und der FDP eine Koalition bildete. Die neu gegründete CDU schnitt zwar als zweitstärkste Partei ab, konnte sich aber nicht auf eine Große Koalition mit der SPD einlassen. Der erste gewählte Nachkriegsbürgermeister war der Sozialdemokrat und ehemalige Oberbürgermeister von Altona, Max Brauer. Er war nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in die USA geflohen und stand nun für die Politik in Hamburg wieder zur Verfügung. „Brauer konnte als Emigrant und bis vor kurzem noch amerikanischer Staatsbürger den Engländern mit einem Selbstbewusstsein gegenübertreten, das andere Deutsche damals kaum aufzubringen vermochten.“{213} Der neue Bürgermeister stellte sich als tatkräftig und krisenfest heraus. Er bewältigte die erste große Herausforderung, indem er zusammen mit der britischen Militärverwaltung die Energie- und Lebensmittelversorgung im Kältewinter 1946/47 auf einem Mindestniveau absicherte. In Brauers Senat fand sich auch Eisenbarth als Sozialsenator wieder. Für die Aufgaben der Jugendhilfe wurde ein eigenes Ressort geschaffen, an deren Spitze „die einzige Frau im Senat und erste Senatorin in der Geschichte Hamburgs überhaupt“{214}, Paula Karpinski, berufen wurde. Die damals 49jährige Sozialdemokratin sollte die Jugendbehörde bis zum Dezember 1961, mit einer Unterbrechung zwischen Dezember 1953 und Dezember 1957, leiten.

      Der Senat leistete eine enorme Aufbauarbeit, die er am Ende seiner Amtszeit in der Schrift „Drei Jahre Arbeit für den Wiederaufbau der Freien und Hansestadt Hamburg“{215} eindrucksvoll darstellte. Begünstigt wurde die Tätigkeit mit wachsender Verantwortung auch durch den Rückzug der britischen Militärverwaltung und ihrer Funktionsoffiziere zugunsten eines zivilen Gebietskommissars.{216} Der Zusammenschluss der westlichen Besatzungszonen, die Währungsreform von 1948 und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 förderten den Wiederaufbau erheblich.

      Die Aufbruchsstimmung ließ die Bewältigung der Vergangenheit schnell in den Hintergrund treten. Die „Entnazifizierung“ war ein zentrales Ziel der Alliierten nach dem Krieg. Verbrecherische Nationalsozialisten sollten aufgespürt, ihre Taten aufgeklärt und bestraft und ihre Übernahme in Ämter in der öffentlichen Verwaltung unterbunden werden. Die Alliierten klagten Kriegsverbrecher, Ärzte und andere maßgebliche und hochrangige Funktionäre des Regimes an, und machten ihnen noch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren den Prozess. In Hamburg verfügte der von der britischen Militärverwaltung eingesetzte Senat 1945 zunächst, dass „alle Beamten, Angestellten und Arbeiter zu entlassen seien, die der NSDAP (oder der SA oder SS) vor dem 1.Mai 1933 (das heißt vor der Mitgliedersperre, die bis 1937 galt) beigetreten waren. Ferner war zu entlassen, wer zwar später eingetreten war, aber eine höhere Funktion bekleidet hatte.“{217} Bereits bis zum August 1945 wurden auf dieser Grundlage rund 20% der höheren Beamten und jeweils 6% der anderen Beamten und Angestellten verhaftet oder entlassen. Bis Dezember waren von 48000 Bediensteten der Verwaltung 35000 durch die Militärregierung überprüft und von diesen 8700 entlassen oder verhaftet worden.{218} Aber auch die nicht öffentlich Bediensteten mussten sich in einem Fragebogen zu ihrer Vergangenheit äußern und einer Überprüfung unterziehen. Die Verfahren