Klaus-Dieter Müller

Zukunft möglich machen


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Der kalte Krieg rückte dann schließlich die Westintegration der Bundesrepublik in den Vordergrund, so dass die Verfahren alsbald zugunsten eines Blicks nach vorn abgeschlossen wurden.

      Die Verfahren gegen einige Hamburger Funktionäre endeten mit befremdlichen Ergebnissen. Als unbelastet eingeschätzte Juristen aus der Zeit des Nationalsozialismus waren nun Richter, die über Verbrechen aus jener Zeit zu urteilen hatten. Bei den Prozessen gegen Euthanasieärzte trafen diese beiden Eliten des Regimes, Juristen und Ärzte, in unterschiedlichen Rollen aufeinander. Sie hatten aber während des „Dritten Reiches“ beruflich intensiv zusammengearbeitet, etwa als psychiatrische Gutachter bei Gericht.{219} Gutachter und Zeugen waren also oft Kollegen aus der gemeinsamen Vergangenheit. Sie waren vom Regime und seinen Maßnahmen überzeugt und bewerteten diese in der Nachkriegszeit zwar verhaltener, aber immer noch rechtfertigend. Im Prozess gegen die Ärzte und Schwestern in den Hamburger Kinderfachabteilungen kam es zu jahrelangen Untersuchungen, die von engagierten Verfahrensbeteiligten eingefordert wurden. Eine vorschnelle Einstellung des Verfahrens wurde damit verhindert. Im Februar 1949 legte die Staatsanwaltschaft dann eine Anklageschrift gegen 18 an der Euthanasie beteiligte Ärzte und deren Vorgesetzten vor, die Totschlag oder Beihilfe dazu zum Gegenstand hatte. Die Strafkammer entschied im April 1949 dann jedoch, die Hauptverhandlung nicht anzuordnen, weil den Angeschuldigten das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ihres Handelns nicht nachgewiesen werden könne.{220} Man gestand ihnen also zu, Kinder im guten Glauben und rechtmäßig getötet zu haben. Die Staatsanwaltschaft erhob keine Beschwerde gegen den Beschluss. Spätere Versuche, die Verfahren wieder aufzunehmen, scheiterten ebenfalls. „Die juristische Aufarbeitung der Tötungen an Kindern in Hamburg kann hinsichtlich einer Verurteilung von Beschuldigten als gescheitert erklärt werden. Keiner der Angeklagten wurde verurteilt, geschweige denn in einer Hauptverhandlung vor einem Gericht befragt,“{221} schließt Burlon seine Untersuchung aus dem Jahr 2009 in diesem Punkt ab. Auch im Bereich der Wissenschaft und der ärztlichen Standespolitik wurde die Frage der Euthanasie heruntergespielt oder verschwiegen.

      Die Verantwortung anderer, für die Jugendhilfe bedeutsamer Hamburger Funktionäre wurde ebenfalls nur oberflächlich bewertet. So wurde der Gauleiter Kaufmann im Entnazifizierungsverfahren als Minderbelasteter eingestuft, zwar vorübergehend mehrmals inhaftiert, jedoch nie angeklagt, und im November 1950 aus der Haft entlassen.{222} Auch Senator Oskar Martini, der nach Kriegsende noch im Amt belassen wurde, wurde im Entnazifizierungsverfahren entlastet. Der Psychiater Villinger setzte seine Karriere in der Nachkriegszeit fort. Otto Hülsemann, Leitender Psychiater im Landesjugendamt seit 1937, blieb bis 1963 in dieser Position, obgleich er Beisitzer beim Erbgesundheitsgericht war. Über seine Tätigkeit im Dritten Reich war darüber hinaus jedoch wenig bekannt, da möglicherweise aufschlussreiches Aktenmaterial in den Flammen der Bombennächte vernichtet wurde.{223} Der Journalist und Schriftsteller Ralph Giordano bezeichnete die Verdrängung und Verleugnung der „Schuld der Deutschen unter Hitler“ nach 1945 als „zweite Schuld“.{224} Das war 1987, in einer Zeit, in der das weite Feld der Machenschaften im Dritten Reich immer detaillierter von einer kritischen Generation aufgeklärt wurde.

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      Die „Jugendnot“ der Nachkriegszeit forderte von allen behördlichen und freien Institutionen der Jugendhilfe einen erheblichen Einsatz. Auch wenn die Kontakte untereinander erschwert waren, lebte das Verbandswesen wieder auf. Der „Allgemeine Fürsorgeerziehungstag“ (AFET) veranstaltete im Juli 1946 seine erste Hauptversammlung nach dem Krieg und im September 1947 fand die erste öffentliche Verbandstagung statt.{225} Zu den ersten Vorstandsmitgliedern gehörte die Leiterin des Hamburger Landesjugendamtes, Hermine Albers. Mit Max Zelck beteiligte sich die Hamburger Jugendhilfe im ersten Beirat am Aufbau verbandlicher Strukturen und der Entwicklung der Jugendhilfe.{226} 1949 gründete sich die „Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge“ (AGJJ). Mitglieder waren Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe, aber auch Vertreter der Heimerziehung, darunter der AFET, die Innere Mission, der Deutsche Caritasverband, Einrichtungen der Heimerziehung und weitere Institutionen. Die AGJJ verstand sich damals als „Ort des Zusammenwirkens der Jugendhilfe auf allen Gebieten der freien und behördlichen Arbeit“.{227} In der Broschüre zur Hauptversammlung 1950 wurde dieses Anliegen wie folgt beschrieben: „Dieses Miteinander soll aber nicht nur bestehen in der obersten Spitze der Jugendwohlfahrtsbehörden und der freien Organisation der Jugendpflege und Jugendfürsorge, es soll vielmehr zu einer Bewegung werden, die das letzte örtliche Jugendamt und die letzten örtlichen Jugendwohlfahrtsausschüsse erfasst“. Das „lebendige Jugendamt“ sei das Ziel, an dem alle Beteiligten „schöpferisch“ zusammenwirken.{228}

      Erst 1954 wurde die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hatte, „den fachlichen Standard in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe zu sichern und weiterzuentwickeln, zu einer bundesweit einheitlichen Ausgestaltung der Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe beizutragen und sich für die Belange junger Menschen und ihrer Familien einzusetzen.“{229} An der Entstehung der Arbeitsgemeinschaft war die Leiterin des Hamburger Landejugendamtes, Hermine Albers, maßgeblich beteiligt.

      Die Themen, die in diesen Zusammenschlüssen bearbeitet wurden, umspannten die gesamte Jugendhilfe, so dass auch die Heimerziehung immer wieder auf der Tagesordnung stand. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren erörterte man die Überfüllung der Heime und ihre materielle Notlage sowie die Unterfinanzierung. Besondere Sorge bereiteten die Kinder und Jugendlichen in Heimen, bei denen die Kriegserlebnisse ihre Spuren hinterlassen hatten und die neben materieller auch seelischer Fürsorge bedurften. In diesem Zusammenhang wurde auch die fehlende Qualifikation des Personals angesprochen. Sie sei ein Problem, wenn die Heimerziehung zum Wohl der Kinder und Jugendlichen beitragen wolle.{230} In den 1950er Jahren befasste sich auch der AFET mit der Heimerzieherausbildung. Aus einer Untersuchung zur „Lage der Heimerzieher“ leitete er Forderungen zur Ausbildung und zu den Arbeitsbedingungen ab, die dem Beruf einerseits eine Kontur und Attraktivität geben und andererseits eine positive Wirkung auf den pädagogischen Alltag entfalten sollten.{231} 1961 folgte dann eine ausführliche Darstellung zum „Berufsbild des Heimerziehers“ und ein Jahr später ein Vorschlag für eine Ausbildungs- und Prüfungsordnung und ein „Stoffplan“, ein Curriculum für „Schulen der Heimerziehung“.{232} Die Anforderungen an den Beruf wurden in den Diskussionen der Fachverbände hoch gesteckt. Die erzieherischen Kräfte sollten gut ausgebildet sein und nicht nur über Grundsätze der allgemeinen Pädagogik und Heilpädagogik sowie über die Erkenntnisse der modernen Psychologie genauestens Bescheid wissen“, sondern auch „das nötige Berufsethos“ haben. Damit war gemeint, dass sie die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, „die bisher an der Schattenseite des Lebens groß geworden sind, als eine Aufgabe ansehen, für die es sich lohnt, ein ganzes Leben einzusetzen.“ Gefragt waren „lebendige Persönlichkeiten“, die sich den Beruf zur Lebensaufgabe machen.{233} Das Personal wohnte in aller Regel „aus erzieherischen Gründen“ im Heim. Der AFET formulierte in seinen „Forderungen in Leitsätzen“ daher auch, dass für das „Geborgenheitsgefühl des Erziehers“ eine angemessene Unterbringung in einem Einzelzimmer erforderlich sei. „Schlafzellen für Erzieherinnen innerhalb großer Schlafsäle“, die der AFET bei seiner Untersuchung vorgefunden hatte, seien eine „Überforderung der menschlichen Nervenkraft“.

      Diese, von Verlautbarungen über hehre Ziele getragene Aufbruchsstimmung nutzten einzelne Fachvertreter, die Strukturen der Heimerziehung in Frage zu stellen. Zu den Protagonisten gehörte der Heil- und Sozialpädagoge Andreas Mehringer, der 1945 die Leitung des Münchner Waisenhauses übernahm und dort das „Familienprinzip“ einführte.{234} Darunter verstand er kleine Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die einer Familie ähneln sollten. Bereits in den Nachkriegsjahren stellte er öffentlich fest, dass Anstaltskinder oft im Leben versagen würden. In den Anstalten seien besonders „starke, ausgeprägte, originelle Naturen“ gefährdet, denn diese würden den Anstaltsbetrieb stören und zu ihrem Ausschluss zwingen. Er sprach auch die künstlichen Trennungen nach Alter, Geschlecht und erzieherischer Bedarfseinschätzung sowie die zu großen Gruppen als Hauptprobleme an. Möglichen Reformen würde aber der Traditionalismus in der Heimerziehung entgegenstehen. Damit waren die gewachsenen Strukturen des Anstaltslebens und das Selbstverständnis der Heimleitungen und des Personals angesprochen, die eher in scheinbar „boshaften, unerziehbaren“