„Okay, okay, du hast recht.“ Also rief ich zwei an, mit denen ich mich dann auch traf.
Der Erste war mindestens zehn Zentimeter kleiner als er sich ausgegeben hatte. Er trug einen dunkelblauen Trenchcoat. Ich glaube, er war auch älter. Wir trafen uns in der Mittagspause, er holte mich vom Büro 33th Street/Madison Avenue ab. Wir gingen zu McDonalds um die Ecke. Ich war erstaunt, was er mir alles in kürzester Zeit, in nur 30 Minuten, über sein Leben erzählte, über seine Finanzen, sein Hab und Gut. Er spendierte eine Cola. Wir sahen uns nie wieder.
Dann war da noch Jürgen: Hallo, guten Tag, ich habe Ihre Anzeige gelesen, ich heiße Jürgen. Ich weiß nicht, ob ich verrückt genug für Sie bin, aber vielleicht. Bin groß und 50 Jahre alt, wohne in Manhattan, Upper West Side. Ich bin Informatiker. Ich kenne Berlin sehr gut. Interesse für Kino, Musik, Restaurants. Wenn Sie Interesse haben, rufen Sie mich an ... Telefonnummer — Dankeschön, tschüss.
Zwei Wochen später traf ich Jürgen. Kinderlos, nie verheiratet, hatte mal in einer kurzen Beziehung gelebt. Er lud mich in ein finnisches Restaurant ein. Es war edel.
Er saß an der Bar und wartete auf mich. Er sagte mir, ich würde ihn an der Brille erkennen. Er war sehr groß und hatte einen Anzug an. Wir lächelten uns an und verstanden uns sofort. Schon durch die zwei, drei Telefonate, die wir zuvor führten, kam es mir vor, als träfe ich einen alten Freund.
Wir tranken an der Bar einen Champagner und wurden dann an den reservierten Tisch geführt. Ich registrierte sofort, dass er gute Manieren hatte. Das Menü war exzellent, wir aßen beide Lachs. Die Rechnung war hoch.
Er war mein Pendant, denn sein Traum war es, einmal in Berlin zu wohnen. Jeden Morgen las er die Berliner Morgenpost im Internet. Mindestens zweimal im Jahr flog er nach Berlin. Er kannte Berlin besser als manch ein Berliner.
Durch die Arbeit und die Abzahlung des Kredits für das Apartment, das er sich vor Kurzem für 220.000 Dollar kaufte, war er gezwungen, seinen Traum auf später zu verschieben.
Seine Eltern waren von Schlesien nach New York gekommen, er sprach Deutsch und wollte seine Deutschkenntnisse verbessern, deshalb hätte er auf meine Anzeige geantwortet.
Wir wurden gute Freunde. Für meinen Sex hatte ich ja meine Lover — Jürgen wurde mein Freund für Kultur und Ausgehen. Er führte mich in viele etablierte und neue Restaurants, wir gingen ins Kino, zu außergewöhnlichen Konzerten, ich holte ihn von der Arbeit ab — er bezahlte alles. Er war Ingenieur, stieg dann aber bei einem Energieversorger als Softwareentwickler ein. Er hatte ein sicheres und gutes Einkommen. Ich mochte ihn, aber nur als Freund.
Als er mir sein schönes Apartment zeigte, war ich erstaunt. Als ich es betrat, roch es nach altem Mann. Es war nicht sehr sauber, besonders im Bad; im Schlafzimmer standen die Betten von seinen Eltern, im Wohnzimmer standen auch so alte Buffets und Tische von den Eltern. Auch das habe ich später öfter bei Junggesellen gesehen: Sie schliefen zum Beispiel auf der siebenunddreißigjährigen abgenutzten Ausziehcouch — man fiel immer zur Mitte — oder noch im Jugendbett, obwohl sie schon Millionen angespart hatten. Seltsame Männer! Wir setzten uns auf seinen Balkon, er bot mir was zu trinken an. Es war sehr laut; der Blick auf den Hudson war wunderschön, aber man hielt den Krach nicht aus. Er war schüchtern. Ich merkte, wie er auf meinen nicht gerade kleinen Busen starrte. Er hätte sich aber nicht getraut, mir zu nahe zu kommen. Komisch ... eine sehr ähnliche Geschichte erlebte ich 10 Jahre später in einer Großstadt der Schweiz.
Als Gegenleistung bot ich ihm an, mit mir nach Deutschland zu kommen. So flogen wir gemeinsam nach Berlin. Er buchte ein Hotel. Ich stellte ihn meinen Freunden vor, und er lernte die Stadt aus einer anderen Perspektive kennen. Er freute sich. Immer, wenn er dann nach Berlin flog, unternahm er etwas mit meinen Freunden, die auch seine Freunde wurden.
Einmal, als ich finanziell in der Klemme war, borgte er mir eine größere Summe für sechs Wochen. Das fand ich toll. Wir trafen uns in einem Café nahe seiner Arbeitsstelle. Er gab mir das Geld und ich gab ihm einen Scheck mit der Bitte, ihn erst in sechs Wochen einzulösen. Ich fragte ihn, ob er keine Angst hätte, dass er es nicht zurückbekäme. Er schmunzelte: Dann würde er einen Rechtsanwalt nehmen. Ich setzte alles daran, ihm das Geld pünktlich wiedergeben zu können. Ich hätte ihm kein Geld geborgt, denn ich hatte mit Geldverleihen nur schlechte Erfahrungen gemacht.
Später fragten mich meine Freunde immer, was er machen würde. Der Kontakt war eingeschlafen.
Einmal gab ich mal ein Kilo Jakobskaffee bei ihm in der Lobby ab, den hatte ich aus Deutschland mitgebracht, weil ich wusste, dass er ihn gerne trank — keine Reaktion.
10. Heute Nacht war es sehr heiß
Heute Nacht war es sehr heiß. Ich hielt es im Apartment nicht mehr aus und wollte an den East River.
Ich ging Richtung Park. Die Straßen waren feucht und warm; sie waren belebt wie immer in New York. Es war so gegen Mitternacht. Als ich den Park betrat, zögerte ich einen Moment und überlegte, ob ich ihn um diese Zeit durchqueren sollte, um ans Ufer des East River zu gelangen. Die wenigen Laternen brannten. Jemand sprach mich an, ein Mann in meinem Alter.
„Sie müssen keine Angst haben. Hier ist Polizei, die die Gracie Mansion, die offizielle Residenz des Bürgermeisters von New York, bewacht. Wenn Sie wollen ... kommen Sie, ich begleite sie ans Ufer. Ich will auch dorthin.“
Ohne zu zögern war ich einverstanden. Oh, war das angenehm, diese leichte Brise vom Atlantik zu spüren. Es waren nur 100 Meter durch den dunklen, etwas spärlich beleuchteten Park bis zum Wasser. Auf der Promenade begegneten wir vielen Leuten. Liebespaare saßen auf den Bänken. Es war wunderschön.
Mein Begleiter stellte sich vor: „Ich bin Kevin, geboren in Marokko, aufgewachsen in Frankreich, seit 20 Jahren in New York, Geschäftsführer eines Restaurants, geschieden.“
Typisch New York. Wir verstanden uns gleich und drehten eine gemeinsame Runde. Er kam von der Arbeit und konnte nicht gleich schlafen gehen. Er macht regelmäßig nach der Arbeit noch seine Spaziergänge. Er wohnte in der 90th Street. Er fragte, ob ich Lust auf ein Bier oder Wein hätte.
„Ja, warum nicht“, antwortete ich.
Wir entschieden uns dann, bei ihm vorbeizugehen und eine Flasche Wein und Gläser zu holen. Ich wartete vor der Haustür. Dann gingen wir wieder die 200 Meter zum Wasser, setzten uns auf eine Bank und tranken Wein. Er rauchte Haschisch und wir quatschten bis vier Uhr morgens. Wir stellten uns vor, unser Gespräch würde vom FBI abgehört werden. Der Blick aufs Wasser war so beruhigend.
Kevin begleitete mich nach Hause. Vor der Tür fragte er mich, was ich am heutigen Sonnabend machen würde. Ich antwortete: „Nichts Besonderes.“ Er unterbreitete den Vorschlag, gemeinsam zum Brighton Beach zu fahren. Ich stimmte zu. Gegen elf wollte er mich abholen. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus.
Ich war pünktlich um elf unten vor der Tür und wartete. Enttäuscht ging ich nach einer halben Stunde wieder nach oben. Kurz darauf klingelte es. Ich also wieder runter. Da stand er in seinen Shorts mit einem Rucksack voller Picknick. Auf dem Weg zur Metro kaufte er uns einen Kaffee und einen Muffin.
Wir hatten gute Laune. Er gab mir wertvolle Tipps, denn er lebte in diesem Kiez schon mehr als zehn Jahre. Wir nahmen den Train 4, stiegen um in den Q, das ist der Express, und waren in einer knappen Stunde da. Metro-Züge in New York werden nach Buchstaben oder Nummern benannt, es gibt Lokal- und Express-Züge. Kevin zeigte mir gute Läden, wo man frische Ware bekommt. So kauften wir beim Juden gebratenes Huhn, beim Araber holten wir Bier und Brot. Wir wanderten zum Strand.
Klein Odessa wird der Brighton Beach im Volksmund genannt, da er ganz in Russenhand ist. Ich kannte den Strand schon von meinem früheren Aufenthalt, damals wohnte ich 30 Minuten Fußweg entfernt. Der Strand war noch nicht zu voll. Menschen aus aller Welt traf man an diesem Strand, viele Farbige, Südamerikaner, laute Musik, hübsche Girls, Bierverkäufer. Die Bierverkäufer traf man nur am Brighton Beach. Normalerweise war es ja verboten, alkoholische Getränke in der Öffentlichkeit zu trinken, aber in Klein Odessa?