Chris Chiffre

Chiffre 2.0


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ihr gegenüber, tja, das wird dann wohl sein Vater sein. Ich mustere ihn kurz. Seine – Amons – Züge sind in diesem Gesicht erkennbar, besonders die Stirn und die Wangen. Jedoch wirkt er viel weicher als sein Sohn, weniger streng. Ich blicke kurz, möglichst unauffällig, zum Vergleich in das Gesicht seiner Mutter. Die Augen hat er von ihr, auch die Form des Kinns. Doch auch bei ihr vermisse ich diese Kraft, die aus ihm strahlt, insbesondere aus seinem Blick. Es ist irritierend: Diese beiden Menschen hier an diesem Tisch sind zweifellos seine Eltern, die Ähnlichkeit ist nicht zu leugnen. Dennoch unterscheiden sie sich von ihrem Sohn in so vielerlei Hinsicht. Sie wirken freundlich, warmherzig, aufgeschlossen. Ich kann sie mir beim besten Willen nicht streng und herrisch vorstellen. Ihn jedoch kenne ich in keiner anderen Rolle als der des Bestimmenden. Dieses rotwangige ältere Ehepaar an diesem Tisch jedoch verströmt nur Wärme und Lebensfreude.

       War er früher auch so? Wurde er erst mit den Jahren so ernsthaft? Wie kam es dazu? Oder vielleicht war er auch von Anfang an so, vielleicht haben sich seine Eltern sogar Sorgen um ihr Kind gemacht? Tüchtig und erfolgreich zwar in der Schule, aber nie ausgelassen oder auch mal über die Stränge schlagend, wie es für Jungs eigentlich normal wäre?

       Unweigerlich muss ich grinsen über meine wirren Gedankengänge: Ich male mir in abstrusen Spekulationen aus, wie er wohl als Kind gewesen ist und ob er diesen sympathischen, lieben Menschen hier Kummer bereitet hat. Das alles kommt mir absurd vor.

       »Eva?« Ich schrecke auf. »Eva! Sie waren ja einen Moment ganz abwesend! Sind sie sicher, dass es Ihnen schon wieder gut geht?«

       Wenn ich eben aus Überraschung unsicher und verlegen war, so ist es jetzt wirklich peinlich geworden: Ich war anscheinend so in Gedanken, dass ich gar nicht mitbekommen habe, dass sie schon wieder zu mir gesprochen hat.

       »Oh es geht schon, danke«, antworte ich und winke sogar ab, mit einer gespielten Lässigkeit, die ich wenig überzeugend finde, sie aber wohl beruhigt.

       »Mit Migräne ist nicht zu spaßen.«

       Migräne. Das ist es also, was die beiden wohl glauben. Die perfekte Ausrede, warum ich verspätet zu einem Dinner komme, um endlich seine Eltern kennen zu lernen.

       Wie vom Blitz getroffen reiße ich die Augen auf, als es mir klar wird: Er präsentiert mich hier als seine Freundin!

       »Grundgütiger, was haben Sie denn, meine Liebe? Sie starren ja, als hätten Sie ein Gespenst gesehen!«

       »Was?«, frage ich nur blöd. Seine Freundin ...

       »Hier ...«, sie greift nach der kristallenen Karaffe auf dem Tisch und schenkt mir ein Glas Wasser ein. Brav trinke ich es, ich leere es in einem Zug. Und dann versuche ich mich zu fassen. Die müssen mich langsam für verwirrt halten, denke ich, weniger an Migräne leidend, vielmehr im Fieberwahn.

       »Danke«, sage ich artig. »Es geht schon besser.«

       Seine Freundin ... kreist es die ganze Zeit in meinem Kopf. Sie werden mich jetzt bestimmt ausfragen wollen, wo ich her bin, was ich beruflich mache, wie wir uns kennen gelernt haben ... Was soll ich nur darauf antworten? Dass ich einen Vertrag unterzeichnet habe, mich ihm bedingungslos unterzuordnen und dass ich schon erste Lektionen in Demut und auch Schmerz hatte?

       Ich versuche die Flucht nach vorn, indem ich den Spieß umdrehe: »Ich freue mich auch, dass wir uns endlich kennen lernen«, sage ich im Plauderton, als habe es die peinlichen Momente zuvor gar nicht gegeben, »Amon erzählt leider gar nichts über seine Eltern.« Dabei werfe ich ihm einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu. Er hält ihm ausdruckslos stand.

       »Das sieht ihm ähnlich!«, entrüstet sie sich. »Dass Heinrich und ich lange außer Landes waren, hat er das wenigstens erwähnt?«

       »Flüchtig«, antworte ich lakonisch, in der Hoffnung, dass sie weitererzählt, und das Gesprächsthema nicht wieder auf mich zurückkommt.

       »Heinrich und ich haben eine Weltreise gemacht; acht Monate waren wird weg.«

       »Am allerschönsten war Indien«, höre ich Heinrich zum ersten Mal was sagen. Er hat genau die großväterliche Stimme, die zu seiner Erscheinung passt – noch ein Merkmal, das ihn deutlich von seinem Sohn unterscheidet.

       »Aber reden wir nicht von uns«, wendet sie kopfschüttelnd ein, als passe ihr die Wortmeldung ihres Mannes gar nicht, »vielmehr brennen wir darauf, was für ein Mensch es ist, der es geschafft hat, das Herz unseres Sohnes zu gewinnen.«

       Das hatte ich befürchtet.

       »Wir dachten schon, er ist vielleicht schwul.«

       »Heinrich!«

       »Nicht, dass es ein Problem wäre ...«, fügt er augenzwinkernd hinzu.

       Seine Frau bringt ihn mit einem eisigen Blick zum Schweigen. Das hat er also von ihr, denke ich dünn lächelnd: Anderen das Wort abschneiden, ohne selbst etwas zu sagen.

       »Entschuldigen Sie meinen Mann, er hat einfach keine Manieren ...«

       »Ach«, winke ich wieder ab und bin auf einmal ganz entspannt, »das macht doch nichts.«

       »Möchtest Du vielleicht auch noch was essen? Bist Du hungrig?« Amons Frage rettet mich.

       »Oh ja«, antworte ich mit übertriebener Begeisterung, »ich sterbe vor Hunger!« Hauptsache, ich gewinne Zeit, mir was Glaubhaftes zu überlegen, das ich jetzt über mich erzählen soll.

       »Vivien«, höre ich seine Mutter sagen, »trink nicht schon wieder so viel!«

       Ich sehe Vivi schon das zweite (oder gar das dritte?) Glas ansetzen und regelrecht runterkippen. Was hat sie nur? Sie zuckt gleichmütig mit den Schultern und erwidert noch immer unsere Blicke nicht.

       Ich nutze die Ablenkung und schaufle mir beherzt etwas vom Essen vor mir auf den Teller: blanchiertes Gemüse, Fisch mit einer Kräuterkruste und Kartoffelspalten an Rosmarin. Bevor mir irgendjemand noch irgendeine Frage stellen kann, stopfe ich mir mehrere Gabeln in dem Mund, dass meine Backen gebläht sind. Ich tue so, als sei ich völlig gefesselt von meiner Speise, kaue ... kaue ... stopfe schnell etwas nach, sobald ich den ersten Speisebrei heruntergezwungen habe, nur ja nicht den Mund wieder leerkriegen und was sagen können! Irgendwann muss ich doch wieder aufblicken und stelle fest, alle – sogar Vivien – starren mich etwas konsterniert an, sichtlich irritiert von meinen vorgespielten Fress-Flash.

       »Mmmmh!«, mache ich und rolle wie vor Wonne entzückt die Augen, »kööööschlisch!« Dabei spucke ich versehentlich ein kleines Stück auf meinen Teller. Da ich die Blicke nicht mehr aushalte und mich selbst nicht ertragen kann, wie ich mich gerade derart zum Idioten mache, blicke ich einfach wieder auf meinen Teller und stopfe weiter.

       »Amon«, meldet Heinrich sich wieder zu Wort, »was hast Du gemacht mit ihr? Sie schlingt ja, als hättest Du ihr seit Tagen nichts zu essen erlaubt.«

       Ich greife nach meinem Wasserglas, stoße es fast um dabei. Es ist leer. Ich fülle es erneut aus der Karaffe. Meine Hände zittern.

       »Sind Sie sicher, dass es Ihnen wirklich ...?«, setzt Amons Mutter noch mal an. Heftig kauend bringe ich sie mit einem Kopfgewackel, das eigentlich ein Nicken sein soll, zum Schweigen. Dann werfe ich den Kopf in den Nacken und kippe mir das Glas in den Rachen, als würde ich mir einen Schnaps genehmigen. Keine schlechte Idee, ich wünschte, ich wäre betrunken – dann hätte ich wenigsten eine Ausrede für mein peinliches Verhalten!

       Es hilft nichts, ich muss wieder was sagen.

       »Puh«, sage ich, »das hat gutgetan!