was man an einem so schönen Nachmittag hier noch unternehmen könnte.
„Sie können ja wandern“, sagte sie, „vielleicht oben zur Teufelskanzel.“
Walter bedankte sich und ging in die Richtung, in die das Mädchen gezeigt hatte. Am Stadtrand fand er eine Informationstafel, auf der alle Wanderwege eingezeichnet waren, auch der „Teufelskanzel-Rundweg“, den man nach Eintragung der Wanderfreunde in etwa zwei Stunden umrundet haben könnte. Und er wäre durch stilisierte Teufelsköpfe gekennzeichnet.
Der Weg führte zunächst durch Mais- und Rapsfelder. Oberhalb der anschließenden Wiesen begann der Wald, Laub- und Nadelbäume, gemischt, dazwischen Unterholz, so wie sich nach neuesten Erkenntnissen ein natürlicher Wald selbst entwickeln sollte. Es ging stetig bergauf. Er ließ es langsam angehen, pflückte ein paar Blaubeeren, betrachte Pilze am Wegesrand, lauschte dem Gesang der Vögel und hatte schon bald die „Teufelskanzel“ erreicht. Es war die obere Kante eines alten Steinbruchs. Wahrscheinlich hatten hier vor Jahren die Menschen der umliegenden Orte die natürlichen Steinbrocken für die Fundamente ihrer Häuser genutzt. Das musste aber schon längere Zeit zurück liegen. Inzwischen wuchsen im Steilhang schon wieder Büsche und kleine Bäume. Ein provisorisches Geländer sollte wohl Wanderer vor dem Absturz bewahren. Aber diese Funktion erfüllte es schon lange nicht mehr. Die Stangen und Pfosten waren morsch und brüchig und gerade in der Mitte, der gefährlichsten Stelle, war es schon durchgebrochen. Walter trat ein paar Schritte vor und blickte vorsichtig hinunter. Es ging etwa zehn bis zwölf Meter in die Tiefe. Unten war ein freier Platz, etwa von der Größe eines Hauses. In der Mitte befand sich eine aus Natursteinen aufgeschichtete runde Feuerstelle. Wahrscheinlich feiern dort Jugendliche im Schein lodernder Flammen wilde Partys, überlegte er. Etwas oberhalb stand eine Bank die ihm sehr gelegen kam. Eine Pause konnte er jetzt gut gebrauchen. Er setzte sich und genoss die Aussicht. Warum dieser Platz hier oben „Teufelskanzel“ hieß, erschloss sich ihm allerdings nicht. Ich frag nachher mal das Mädchen vom Gasthof, beschloss er.
Hätte Walter zu diesem Zeitpunkt geahnt welch wesentliche Rolle dieser ausgediente Steinbruch mit seiner Abbruchkante in den nächsten Tagen in seinem Leben spielen sollte, er hätte wahrscheinlich nicht so versonnen ins Tal blicken können. Noch lag der Ort im Tal in der Abendsonne friedlich zu seinen Füßen. Er beendete seine Pause und machte sich auf den Rückweg. Da es ja ein Rundweg war, ging es jetzt kontinuierlich bergab. Während er noch über die Teufelskanzel nachdachte, die so gar nicht zu dem Ortsnamen Harmonie passen wollte, kam ihm eine Person entgegen. Offensichtlich ein Mann, wie Walter trotz der Entfernung deutlich erkennen konnte. Aber es war nicht der Förster und auch kein Jäger. Dazu fehlte ihm die übliche Ausstattung, Gewehr, Hut und Hund. Es schien aber auch kein Wanderer zu sein, denn einen Rucksack hatte er auch nicht bei sich. Eher ein Spaziergänger, so wie er selbst, dachte er. Gibt es hier Urlauber oder Feriengäste? Welcher Mensch der arbeitenden Bevölkerung kann es sich leisten, am Nachmittag eines Wochentages hier oben spazieren zu gehen? Als sie sich begegneten, trafen sich ihre Blicke für Bruchteile von Sekunden. Aber es reichte Walter, um sich ein umfassendes Bild des Fremden zu machen. Er mochte etwa 50 bis 55 Jahre alt sein, groß und kräftig gebaut, ein raues, etwas verwildertes Gesicht, Dreitagebart, Jeans, Anorak, Straßenschuhe. Als sie sich begegneten, grüßte Walter ihn, aber der andere nickte nur.
Walter war um halbsechs wieder an der Wirtschaft, wie er durch einen Blick auf die Kirchturmuhr feststellen konnte. Er setzte sich wieder an einen der Tische im Biergarten. Dasselbe junge Mädchen erschien und fragte: „Darf´s was sein, vielleicht wieder ein Bier?“
„Ja gern“, antwortete Walter.
Als sie das Bier brachte, sagte Walter: „Ich hätte da noch eine Frage. Ich bin ja Ihrer Empfehlung gefolgt und den Teufelskanzel-Rundweg gewandert. Warum heißt diese Felskante da oben eigentlich Teufelskanzel?“
„Ach, da gibt es viele Geschichten. Eine alte Frau soll mal erzählt haben, dass ihr der Teufel dort eine Predigt gehalten habe, weil sie am Sonntag nicht in der Messe war, sondern stattdessen da oben Holz gesammelt hat. Andere sagen, dass man in der Walpurgisnacht dort oben den Teufel persönlich predigen hören kann. Das wird halt so erzählt. In Wirklichkeit weiß wahrscheinlich niemand, wo der Name herkommt. Aber es ist manchmal schon ganz schön gruselig, wenn wir da oben an der Feuerstelle Partys feiern und der Schein der lodernden Flammen eigenartige Schatten auf die Felswand wirft.“
Das klingt ja wie aus einem klassischen Schauspiel, dachte Walter und er sagte: „Danke, das reicht mir schon.“
Sie putzte die Tische mit einem feuchten Tuch ab und wischte sie mit einem anderen Tuch trocken.
„Das ist ganz schön gefährlich da oben“, nahm Walter das Gespräch wieder auf, „ist da noch nie etwas passiert?“
„Nein“, sagte sie, „wenn wir da oben feiern, dann gehen wir ja sowieso nur bis zu der Feuerstelle.“
Vom Kirchturm schlug es sechs Uhr. Walter ging in den Schankraum und setzte sich so, dass er alles überblicken konnte, in die hintere Ecke, mit dem Rücken zur Wand. Zuerst erschien die Wirtin, groß und stämmig, wie man sich eine echte Wirtin vorstellt. Offensichtlich hatte das Mädchen sie schon informiert, denn sie hatte bereits den Anmeldeblock in der Hand.
„Wie lange wollen Sie denn bleiben?“, fragte sie geradeheraus.
„Ach, ich weiß es noch nicht. Vielleicht ein paar Tage.“
Sie setzte sich zu ihm an den Tisch.
„Wie heißen Sie denn?“
„Walter – so wie der Fritz.“
„Welcher Fritz?“
„Na, der Fritz Walter, der frühere Fußballbundestrainer.“
„Und, heißen Sie auch Fritz?“
„Nein, ich heiße Stephan. Brauchen Sie meinen Ausweis?“
„Ja, irgendwann schon.“
„Ich bringe ihn nachher gleich vorbei.“
„Ich gebe Ihnen Zimmer Nummer sieben. Es ist ein Eckzimmer. Da sieht man den halben Ort.“
„Ja, danke. Kann ich bei Ihnen auch etwas essen?“
„Natürlich, aber da ist mein Mann zuständig. Ich schicke ihn vorbei.“
Der Wirt erschien. Ebenso groß und kräftig gebaut, mit Halbglatze und dunkelweißer Schürze.
„Was soll ich denn für Sie brutzeln?“, fragte er salopp.
„Was ist denn Ihre Spezialität?“
„Alle Schnitzelarten, mit Pommes und Salat.“
„Also gut, einmal Jägersschnitzel mit Pommes und Salat und dazu ein Bier.“
„Kommt sofort, der Herr“, schnurrte er und verschwand hinter der Theke.
Um diese Zeit war es noch ruhig in der „ Traube“. Lediglich zwei Männer saßen an der Theke und tranken ein Bier zum Feierabend.
Während Walter auf das Essen wartete, kam ein weiterer Mann herein. Er setzte sich auch an die Theke, allerdings in einem gewissen Abstand und würdigte die anderen keines Blickes. Er bestellte ein Bier und einen Schnaps, kippte beides hinunter und bestellte sofort noch mal das gleiche. Bevor Walter mit dem Essen fertig war, hatte der neue Gast drei Bier und drei Schnäpse getrunken.
Die anderen beiden steckten die Köpfe zusammen. Plötzlich brüllte der dritte: „Ihr braucht gar nicht zu flüstern. Ich weiß genau, was ihr da zu reden habt. Aber ihr bekommt die Hütte nicht. Meine Mutter wollte es nicht und von mir kriegt ihr sie auch nicht. Nur über meine Leiche!“
„Das kannst du haben“, antwortete einer der anderen. Und eh´ Walter sich versah, war eine heftige Schlägerei ausgebrochen. Der dritte Gast stürzte sich auf einen der anderen und stieß ihn mit dem Barhocker um. Dessen Freund wollte ihm zu Hilfe kommen, stürzte dabei aber selbst und riss die beiden Biergläser von der Theke. Das Geräusch des splitternden Glases alarmierte den Wirt. Er kam aus der Küche gerannt, packte den Störenfried von hinten an der Jacke