zur Tür hinaus. „Und vergiss morgen nicht deine Rechnung zu bezahlen“, rief er ihm noch nach. Nachdem der Wirt die Scherben beseitigt hatte, kam er zu Walter an den Tisch, entschuldigte sich für den Zwischenfall und sagte: „Es gibt überall so Rüpel, die immer gleich raufen müssen, auch bei uns in Harmonie.“
Die anderen zwei hatten sich immer noch nicht beruhigt. Offensichtlich waren sie noch mit dem Inhalt des Streites beschäftigt und gestikulierten dabei wild mit Händen und Füßen. Walter hatte alles aus der Distanz beobachtet und überlegte, ob er den Wirt wohl nach dem Grund des Streites fragen sollte. Aber er unterließ es, schließlich war er hier ja im Urlaub.
Olgas Tod
Olga lag auf dem Fußboden. Die geöffneten Augen waren hervorgetreten. Sie hatte gekämpft, hatte schreien wollen, aber der Knebel in ihrem Mund hatte es verhindert. Die Schlinge um ihren Hals hatte sich zugezogen, sie war erstickt. Sie atmet noch, dachte er als er sie losband, sie ist nur bewusstlos, sie lebt noch. Aber Olga war tot. Das Spiel war zu Ende, es gab kein Zurück. Als er merkte, dass es vorbei war, schloss er ihr ganz vorsichtig die Augen. Lange saß er neben ihr und dachte nach, was zu tun sei. Hier im Haus konnte er sie nicht verstecken, ein paar Tage vielleicht, aber irgendwann musste er doch eine endgültige Lösung finden. Sie im Garten zu vergraben erschien ihm auch keine gute Idee. Man würde sie ja vermissen, man würde nach ihr suchen. Womöglich würden Suchhunde eine Spur finden, die zu ihm führt. Er musste sie loswerden. Keine Leiche, kein Beweis. Am besten wäre es, wenn man sie irgendwo finden würde, draußen, im Wald. Er durfte nur keine Spuren hinterlassen. Dann sollte die Polizei ruhig suchen. Von seinem Versteck wusste niemand hier im Ort. Und solange man die Tote nicht mit ihm in Verbindung bringen konnte würde ihn auch niemand verraten.
Sein Auto stand hinter dem Haus. Der Kleinwagen war sicher nicht für den Transport einer Leiche geeignet, aber es musste sein. Als er sie in den Kofferraum legen wollte stieß er mit ihrem Kopf gegen den Kofferraumdeckel. Es durchzuckte ihn als ob er sich den Schmerz selbst zugefügt hätte. Als er noch über einen geeigneten Lagerplatz nachdachte fiel ihm die Feuerstelle unterhalb der Teufelskanzel ein. Das ist eine gute Idee dachte er. Man wird vermuten, dass sie dort hinuntergestürzt sein könnte.
Die Nacht neigte sich bereits ihrem Ende zu. Die Dämmerung kroch schon durch die Bäume. Er parkte seinen Wagen in einer kleinen Ausbuchtung weit vor der Feuerstelle und trug Olga das letzte Stück auf der Schulter. Sie war leicht wie eine Feder. Er bettete sie auf der Feuerstelle. Dann fiel ihm ein, dass sie es nicht gemocht hatte, wenn ihr die Sonne ins Gesicht schien. Darum drehte er sie vorsichtig um. Aber noch bevor er sich gebührend von ihr verabschieden konnte, hörte er ein Geräusch. Es kam vom oberen Weg. Er eilte zurück zu seinem Wagen und sah dort oben einen Mann. Gott sei Dank war es war nicht der Förster, denn dessen Hund hätte ihn bestimmt aufgespürt. Trotzdem war er sich nicht sicher, ob der Mann ihn von dort oben nicht doch gesehen hatte. Also schlenderte er mit gespielter Ruhe den Weg zurück, bückte sich nach einem Pilz und wartete, bis die Person da oben weitergegangen war. Dann ging er zu seinem Auto und ließ es den Weg hinab rollen. Erst kurz hinter dem Forsthaus schaltete er das Licht ein und ließ den Motor an.
Pilze
Es ist schon recht kühl für einen der ersten Herbsttage, dachte Hans Herwig und zog den Reißverschluss seiner Regenjacke nach oben. Aber Pilze gab es wenigstens reichlich. Das war seine Zeit. Schon seit Jahren kam er mit seiner Familie in den Herbstferien nach Harmonie. „Was für ein eigenartiger Name“ hatte seine Frau bei ihrem ersten Besuch gesagt. Aber der Ortsname war ihm egal. Er fuhr wegen der Pilze immer wieder hierher. So auch in diesem Jahr.
Es dämmerte erst, als er seinen Wagen am Forsthaus auf dem Parkplatz abstellte. Er nahm den oberen der beiden Wege, der zur Teufelskanzel führte. Er kannte sich hier ja inzwischen gut aus. Er wusste, dass es oben im Buchenwald Pfifferlinge gab und weiter hinten, in den Moospolstern unter den halbhohen Fichten, hatte er immer wieder prächtige Steinpilze gefunden.
Er war noch auf dem Weg, als er einen Eichelhäher krächzen hörte. Aber der Warnruf galt nicht ihm. Dafür war es zu weit entfernt. Es musste noch eine andere Person unterwegs sein, vermutlich weiter unten auf dem Weg zur Feuerstelle. Er blieb stehen und schaute nach unten. Und da sah er jemanden, kaum mehr als einen Schatten. Es war ein Mann in einem Mantel und einem Hut auf dem Kopf. Aha, dachte er, die Konkurrenz. Aber man kam sich ja nicht in die Quere. Er ging bergauf und der andere bergab.
Es schien ein gutes Pilzjahr zu sein. Pfifferlinge konnte er schon reichlich ernten. Steinpilze gab es erst nur vereinzelt Darum durchstreifte er den Wald bergauf Richtung Teufelskanzel. Es war doch anstrengend gewesen und darum war er froh, auf der alten Holzbank eine Pause machen zu können. Es musste kurz vor Sonnenaufgang sein. Der Nebel lag noch über dem Tal, aber hier oben war es schon taghell. Er saß gerne hier, nicht nur wegen der schönen Aussicht, sondern auch wegen der nahen Steilkante. Wenn er hinuntersah, stellte sich bei ihm immer ein eigenartig kribbelndes Gefühl in der Magengegend ein. Auch heute wollte er es wieder verspüren. Er trat an den Rand des kleinen Plateaus, blickte hinunter und erstarrte. Denn was er dort sah erschreckte ihn so sehr, dass er fast hinunter gestürzt wäre. Untern auf der Feuerstelle lag eine Person, eine Frau, wie er auf den ersten Blick erkennen konnte. Sie trug ein weißes T-Shirt, einen roten Minirock, keine Schuhe und lange blonde Haare. Sie lag nicht so da, als ob sie schlief, dazu wäre es an diesem Morgen auch zu kalt gewesen. Dann wurde es ihm schlagartig klar: Da unten lag eine Tote. Er trat unwillkürlich ein paar Schritte zurück und überlegte, was zu tun sei. Natürlich müsste er als erstes die Polizei benachrichtigen. Aber nicht von hier aus, besser erst aus der Pension . Nicht, dass man ihn noch mit der Toten in Verbindung brachte. Aber halt, schnell noch ein Foto mit dem Handy. Dann lief er zu seinem Auto und fuhr zurück. Erst vor seiner Haustür, noch vom Auto aus rief er den zuständigen Polizeibeamten an und informierte ihn über den gruseligen Fund. Seiner Familie sagte er nichts davon, denn er wollte sie nicht beunruhigen.
Kommissar Walter wurde am nächsten Morgen ziemlich unsanft aus dem Schlaf gerissen. Jemand klopfte sehr energisch an seine Zimmertür. Er setzte sich im Bett auf, schaltete die Nachttischlampe ein und stellte fest, dass es gerade erst kurz nach sechs Uhr war. „Was ist los?“, rief er.
„Ich bin´s“, meldete sich eine Männerstimme, „der Wirt. Hier ist ein Anruf für Sie.“
Walter verstand die Welt nicht mehr. Niemand konnte wissen, dass er sich hier aufhielt.
„Warten Sie, ich komme“, rief er noch vom Bett aus. Barfuß öffnete er die Tür.
„Entschuldigen Sie, Herr Walter, aber es muss sehr dringend sein“, sagte der Wirt und reichte ihm das Telefon. Walter meldete sich mit seinem Namen. Am anderen Ende sagte eine männliche Stimme: „Spreche ich mit Kriminalhauptkommissar Walter?“
„Ja“, antwortete er, „aber a.D. wenn´s recht ist.“
Der Anrufer reagierte nicht darauf sondern antwortete mit einem Redeschwall: „Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung. Hier ist Hauptwachtmeister Schuster von der örtlichen Polizei. Ich habe ein Problem. Bei mir ist eben ein Leichenfund gemeldet worden, im Wald oben an der Feuerstelle. Ich habe aber noch nie etwas mit einem Gewaltverbrechen zu tun gehabt. Und ich dachte, sie könnten mir mit Ihrer Erfahrung helfen, weil ich …“
Walter hörte kaum noch zu und dachte kurz nach. Eigentlich wollte er mit Verbrechen und deren Ermittlungen nichts mehr zu tun haben. Aber der Kollege schien wirklich verzweifelt zu sein. Na gut, dachte er, ich kann mir die Sache ja mal ansehen. Vielleicht kann ich ihm ja ein bisschen unter die Arme greifen.
„Holen Sie mich in 15 Minuten ab“, knurrte er und hatte es im selben Augenblick auch schon wieder bereut. Eine Viertelstunde später fuhr der Kollege mit Blaulicht und Martinshorn vor.
Als Walter die Beifahrertür geöffnet hatte sagte er als erstes: „Stellen Sie bitte sofort diesen Krach ab.“ Augenblicklich erstarb das Geheul und das Blaulicht erlosch. Walter stieg ein. Sie gaben sich flüchtig die Hand. „Guten Morgen“, sagte Walter. „Ja, ja“, antwortete der Kollege fahrig. Er fuhr los und schon nach wenigen Metern schimpfte er: „So eine Scheiße!“ Walter wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er sah sich den jungen Kollegen von der Seite an. Er mochte etwa 40 Jahre alt sein,