Carsten Wolff

Weiß, Rot und Dunkel


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von dieser schwingenden Silhouette los und entschließe mich spontan, zur Reeperbahn zu fahren. Dort ist es um diese Zeit nie leer, während ich augenblicklich nur von leblosem Gestein umgeben bin, höchstens noch ein zarter Hauch des Paares auf meiner Iris silbern nächtlich ruht, der langsam zu verblassen droht. Dort ist auch niemand allein, denn um diese Zeit erwacht der Kiez aus seinem täglichen Schlaf und die geldgierige Maschinerie der Lust versprühenden Scheinwelt beginnt das Zepter über den Häuptern der fremden und einheimischen Begierden, der Suchenden, der Rastlosen und auch Neugierigen zu schwingen.

      Von überall erschallen die Lockrufe aus den Eingängen der Bars:

      »Na ihr Süßen! Kommt mal rein. Hier gibt es ALLES zu sehen, schöne Mädels, geile Ärsche, stramme Titten … da steht ihr doch drauf! Die Show beginnt gleich! Eintritt frei!«

      Und bereits stolpern die Animierten geradewegs hinein und werden so zu einem Teil des großen Freudenschlundes, des Molochs der Triebe, um erst Stunden später wieder auf die Straße zurückgespuckt zu werden, angetrunken torkelnd, partiell erleichtert, den frühen Morgen und der aufgehenden Sonne aus der Dunkelheit blinzelnd gegenübertretend, trunken von der Musik, der Show, dem Alkohol, noch weitestgehend der Verwirrung der Sinne erlegen, benebelt, glücklich.

      Der aus der Ruhelosigkeit geborenen Idee vereint mit angenehmen Gedanken an die Tanzenden besteige ich die Bahn Richtung Altona / Blankenese. Mein erster Blick schweift durch den fast leeren Waggon über die Sitze hinweg auf die Menschen, die dort auf ihren Plätzen lungern. War gerade meine Laune noch ungetrübt, gefriert das innerliche Hochgefühl augenblicklich wieder. Wohin bin ich nur geraten? Realität oder doch Scheinwelt? Umgeben von tristen, traurigen und irgendwie auch bemitleidenswerten Gestalten, die niedergeschlagen, passiv, teilweise alkoholisiert, ungepflegt dort in den Sitzen dümpeln, stehe ich hier wie deplatziert und verloren inmitten des städtischen Sumpfes des Tragikomischen an eine Haltestange geklammert und fühle mich wie eine Fehlinterpretation meines momentanen Schicksals. Jeder um mich herum verhält sich desinteressiert starrend, teilnahmslos, dumpf, schlafend oder gedankenlos verirrt, irgendwie verloren, erratisch, allein. Niemand von diesen Typen nimmt eine Notiz von mir, so als würde ich nicht existieren. Willkommen im Haus der Alleinstehenden, der Gedankentrödler, der Zeittotschlager, der armen Seelen, der Verloren gegangenen, die als Gruppe hervorragend in ein Theaterstück Brechts funktional eingebunden sein könnten und gerade jetzt von der Schicht kommend nach Hause fahren; nur eben ich passe nicht in die Szene, und bin nur von einem Gedanken beseelt, von keiner dieser Figuren angesprochen, angepumpt oder bedrängt zu werden, was sicherlich ohne Weiteres auch zu erwarten wäre. Eingeschüchtert suchen meine Augen den Nothilfeknopf für Passagiere und bleiben nach dem Auffinden wie bettelnd darauf kleben. Wäre es nur eine Szene aus dem besagten Theaterstück und keine Realität. Erst einmal fühle ich mich besser und stelle erleichtert fest, dass niemand etwas von mir will.

      Herausgeholt aus meiner Kontemplation werde ich erst wieder, als sich jetzt eine freundliche Damenstimme aus dem Lautsprecher meldet und die nächste Station ankündigt. Diese Stimme steht in einem krassen Gegensatz zu den Gestalten um mich herum. Keiner würde ich auch nur annähernd eine solche freundliche sanfte Stimme zutrauen, eher nur ein von Rauch und Alkohol geschwängertes Gekrächzte. Doch Theaterstück? Während die Stimme weiter weich aus dem Lautsprecher klingt und auch um mich abzulenken, stelle ich mir die Dame bildhaft vor. Sofort entsteht eine Figur vor meinen Augen. Mitte dreißig, blond, groß gewachsen, nicht ganz schlank, auf kräftigen Beinen mitten im Leben stehend und auf jedem Fall sehr vollbusig!

      Liebe Leser! Fragen sie jetzt nicht danach, warum ich mir die Dame so vorstelle, und intonieren sie nicht die Psychologie des Busens in Bezug auf Männerträume (oder auch Albträume!). Weiter: Angezogen im schlichten Stadtstil mit einem Kleid von sehr kräftiger roter Farbe. Ja, das Kleid sollte sehr satt rot leuchten, damit es ihre weiblichen Konturen nachdrücklich unterstützt und auch ihre Stimme viel eindringlicher, nachhaltiger und vor allem viel reizvoller zur Geltung bringt, als es jetzt augenblicklich aus dem schmaltonigen Lautsprecher klingt. Verheiratet? Kinder? Das kann ich ihren Lauten nicht entnehmen, ist eigentlich auch egal. Ach ja, beinahe hätte ich ihre Schuhe vergessen. Es müssen unbedingt … doch weiter komme ich nicht mit meinen Gedanken, denn der Zug bremst plötzlich stark ab und die Haltestelle Reeperbahn ist bereits nach wenigen Sekunden erreicht. Ein wenig enttäuscht bin ich schon über die Bahn, während ich bereits die ersten Schritte auf den Bahnsteig setze. Diese hätte mir noch gern einige Augenblicke gewähren können, weiter über die nette Blonde und vor allem über die fehlenden Schuhe wie etwa über gewagte hochhackige Pumps, flache Ballerina, vielleicht sogar Stiefeletten sinnieren zu lassen? Leider ist keine Zeit mehr für gedankliche Umziehaktionen dieser Art vorhanden, und so bleibt für den Augenblick die Lautsprecherstimme erst einmal unfertig und barfuß, denn jetzt erreiche ich bereits die Stufen zum Ausgang Nobistor und kann von dort die Reeperbahn stadteinwärts zurücklaufen.

      Frischer Wind vom Hafen empfängt mich, als ich wieder auf der Straße stehe, und auch der Geruch vom Wasser der Elbe umspült meine Nase. Eine lebendige, typische und kräftige Hamburger Mischung aus Stadt und Elbwassergerüchen, die frische Gedanken und neue Kräfte entfachen lässt. Wie erwartet ist viel Bewegung auf der Straße. Kreuz und quer laufen junge Leute vor meinen Augen herum. Hastig, rastlos getrieben, so als würden sie etwas verpassen, zumeist gut und nach der neuesten Mode gekleidet, soweit ich es beurteilen kann. Vermutlich beruht diese Hast auch auf der Tatsache, dass diese jungen Menschen von der Suche nach einem schnellen Erlebnis getrieben werden, wobei ich gedanklich in mich hineingrinsen muss und mich selbst in ihnen wiedererkenne. Davon, dass ich in diesem Alter genauso unstetig gewesen bin, es damals noch nicht antizipiert habe, dass es auf diese Art und Weise nicht mit der »Liebe« klappen kann. Weibliche Intuition sieht sofort das blinkende Schild mit den großen Lettern auf der Stirn der so genannten Häscher »ich will dich rumkriegen, flachlegen« und schaltet augenblicklich auf gelangweiltes Desinteresse um. Die homozygote XX-Kombination will umhegt und geschmeichelt und nicht im Sprung begattet werden. Gerade jetzt geht solch kleine Gruppe hungriger Wölfe an mir vorbei. Ich spüre, ja, ich rieche die Aura des Verlangens nach der Jagd, die mit dem Wittern der Beute beginnen und mit dem Einkreisen und erbarmungslosem Zuschlagen enden soll. Unverständnis! Denn bei mir schindet diese Windbeutelei keinen Eindruck, sondern ruft eher das Gefühl von Souveränität hervor.

      Vereinzelt tauchen zwischen den Gruppen immer wieder die ganz »armen Teufel« auf, die im wahren Sinne des Wortes sich auf dem Boden der Realität befinden und in den Eingängen und Ecken der Straßen lagern. Heruntergekommene, Penner, Bettler, Säufer jeglichen Alters, aus welchen Gründen auch immer Gestrandete und Gescheiterte, die sich von den Vergnügungssuchenden eine Spende erhoffen, zumeist um davon Alkohol zu kaufen, obgleich auf deren aufgestellten Schildern regelmäßig zu lesen steht: Bin hungrig, habe nichts zu essen, bin wohnungslos! Jedenfalls deutet alles auf das Erstgenannte hin, denn neben ihnen stehen bereits etliche geleerte Flaschen alkoholischer Getränke. Aus den offenstehenden Mündern weht der Geruch von billigem Fusel zu mir herüber, während gleichermaßen die frische Hafenluft für diesen Atemzug zurückgedrängt wird.

      Am Hans-Albers-Platz kenne ich eine kleine Bar, die um diese Uhrzeit ähnliche Typen wie mich zu ihren Gästen zählt, und vermutlich sind auch heute Nacht wieder jede Menge Schlaflose anzutreffen. Als ich nach dem Griff taste und die Tür aufziehen möchte, verlässt ein Paar die Kneipe und so schlüpfe ich durch den geöffneten Eingang ins Innere. Der Raum ist gut gefüllt, wie ich mit einem Blick feststellen kann und wie ich es auch nicht anders erwartet habe. An der Bar ist keine Lücke zu entdecken, schade eigentlich, und so steuere ich auf den nächsten freien Platz gegenüber dem Tresen zu. Alkohol trinke ich nicht und bin damit eher deplatziert, denn als nennenswerten Umsatzträger kann ich mich als Cola-Light-Trinker nicht gerade auszeichnen, und genau das provoziert, während ich meine Bestellung aufgebe, regelmäßig spitze Bemerkungen.

      Mit dem Rücken an den Tresen gelehnt entdecke ich eine Blondine in einem roten Kleid mit einem erstaunlich tiefen Ausschnitt (wobei es für diesen Ort nicht erstaunlich ist). Eigentlich sollte dieses dralle Weib Sorge haben, dass sich ihr Busen jederzeit bei einer schnellen Bewegung verselbstständigen und heraushüpfen könnte (hat sie selbstverständlich nicht!), worauf vermutlich mehrheitlich die männliche Kundschaft spekuliert, wie leicht an den teils versteckten und andererseits offen zutage