Carsten Wolff

Weiß, Rot und Dunkel


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sondern nur das synchrone und asynchrone Wogen und Wabbeln der Fettpolster nimmt mein volles Interesse in Anspruch. Und je aufgeregter die Menschen sprechen, umso hektischer sind auch ihre Polster in Bewegung. Dieses Spiel ist so faszinierend, dass sich meine Hände sogleich ins Zentrum des Geschehens einbringen möchten, ich sie leider im Zaum halten muss, um nicht sofort aufzuspringen und der betreffenden Person unter das Kinn an das rollende Fett zu greifen, solch einen großen Reiz übt diese simple Rollbewegung auf mich als Fetischist aus.

      Im Bekanntenkreis spreche ich nicht darüber, vermutlich würde ich für absonderlich erklärt, wobei anzumerken ist, eine Marotte oder wie ich es zu nennen pflege »einen besonderen Handlungsbedarf«, besitzt nahezu jede Person, einschränkend jedenfalls jede aus meinem Bekanntenkreis. Schließlich halte ich meinen Bekannten auch nicht ihre Marotten vor wie beispielsweise ehrfurchtsvoller wöchentlicher Autoputz oder manischer Kaufzwang in den Geschäften der Hamburger Innenstadt. Wie einfältig und wenig konstruktiv sind doch diese Handlungen, sich an lackiertem Blech eingehend zu ergötzen oder Käufe tätigen zu müssen, gegenüber diesen zeitintensiven und immens wichtigen Beobachtungen der sehr speziellen Charakteristiken von menschlichen Unterkinnfettrollen. Beobachtungen des lebendigen Spiels der Haut vice versa Mysophobie (bekannt geworden unter anderem durch Howard Hughes) wie auch Oniomanie. Man stelle sich vor: Wie friedlich die Welt sein könnte, würde es mehr Leute wie mich geben, anstatt mit Äußerlichkeiten oder Besitztümern zu protzen und Missgunst zu provozieren oder zu sähen. Aber genau das bleibt den Ignoranten verborgen.

      Als erfolgreichen Ausweg aus dieser Situation erscheint die Einrichtung eines Internetportals zu sein, um eine Plattform für dieses extrem wichtige, leider viel zu wenig beachtete, Merkmal zu erhalten und dort gleichsam zur Diskussion zu stellen. Was könnte dort beispielsweise präsentiert werden? Die verschiedenen Ausprägungen der Fettansammlung beispielhaft in Bild, Wort und auch als Video, ein Forum zur Äußerung über Erfahrungen mit diesen speziellen Rollen, Glücks- oder Unglücksäußerungen (wobei das Letztere eher unwahrscheinlich ist, wenn man eben wie ich die Menschen beobachtet) der stolzen Träger über dieses überproportionale Fettphänomen, weltumspannende Untersuchungen der verschiedenen Menschen, historische Vergleiche aus der Geschichte der Menschheit, spezielle Mode für diese Kinnregion, praktische Tipps im bestmöglichen Umgang mit der Fettrolle, sowie Pflege (Rasur, Cremes, Kosmetika) und zum Schluss vielerlei Tipps für ein spezielles Fitnesstraining dieser sensiblen Gesichtsregion. Unglaubliche Möglichkeiten erscheinen durch diese Veröffentlichungen möglich zu werden, immer verbunden mit einem Aufruf zu Kreativität im Umgang mit der partiellen Fettleibigkeit. Menschheit verständigt euch mittels eurer Unterkinnfettrollen, anstatt euch in unnötigen, strapazierenden und ewig im Kreis drehenden Diskussionen aufzureiben!

      Selbstverständlich ist dieses Wissen auch meinem vor Weiblichkeit strotzenden Gegenüber verschlossen, was sie dort für einen Schatz unter ihrem Kinn trägt, und so überlege ich mir, ob ich nicht trotz der fortgeschrittenen Stunde missionarisch tätig werden sollte.

      Deshalb erst einmal zurück zu ihrer Frage.

      »Nein. Kaufmann und Gelegenheitsschreiber. In schlechten Zeiten muss man flexibel sein. Und du kommst bestimmt nicht aus Hamburg, eher zugereist oder auf Suche?«, spekuliere ich, in freudiger Erwartung ihrer Antwort mitsamt dem Spiel ihrer gepolsterten Kinnpartie.

      »Auf Suche! Das würde es wohl am ehesten treffen«, erwidert sie mir und ihre Rolle läuft dabei vor Entzücken mehrfach hin und zurück.

      »Ich komme aus Berlin!«

      Und um es zu beweisen, verfällt sie vorübergehend in den Dialekt.

      »Aber dort ist die Situation schlechter, hat man mir erzählt«, entgegne ich ihr.

      »Ich versuche es gerade herauszufinden. Und so schlage ich mich hier in Hamburg durch.«

      Habe ich also recht gehabt, denke ich mir und fixiere ihr Gesicht. Für ihr rundes Antlitz ist ihre Nase ein wenig zu schmal. Ihre Augen sind durch einen kräftigen schwarzen Lidstrich und die aufgetragene Farbe betont und künstlich vergrößert. Die Lippen sind mit einem leuchtenden Rot besonders stark hervorgetönt. Dieses blendende Rot ist nicht nur ein Signalgeber für Fantasien, sondern auch ein Magnet für männliche Augen, eine Bastion der Verführung. Tief in die Stirn hinein gekämmt hängt ihr Pony und soll so vermutlich das wahre Alter verdecken helfen. Diese kleinen, gemeinen Kunstgriffe der Damenwelt, nur um vom kalendarischen Alter abzulenken und um ein paar Jahre zu erbetteln! Sie mag etwa dreißig Jahre alt sein, möglicherweise die Dreißig bereits überschritten haben. Hat sie solche Tricks überhaupt nötig?

      Für viele Männer ist Janine gewiss sehr reizvoll und attraktiv. Sehr weiblich, sehr ausgeprägte Kurven, die klassische Coca-Cola-Flaschen-Form, und eben diese große Oberweite mit D plus. Was mich an ihrem Aussehen stört, sind die billig gefärbten, blondierten und aufgebauschten Haare. Da kommt die Rückständigkeit der Provinz zum Vorschein, nicht jedoch die Großstadt und schon gar nicht Berlin. Aber ich bin ja hier nicht auf einer Model-Party, sondern inmitten des Amüsierviertels von Hamburg auf dem Hans-Albers-Platz nachts um 2 Uhr, wo die Damenwelt in der Mehrheit sehr leicht umfallend ist. Dennoch bin ich erpicht darauf, den Hals und die Hände zu erkunden, eigentlich mehr als Spiel angedacht und nicht aus irgendeinem weitergehenden Interesse heraus. Und so frage ich unverblümt nach:

      »Hast du heute schon etwas gegessen?«

      »Etwas ja!«

      »Etwas wenig ja«, füge ich an.

      »Wenn du den Schampus ausgetrunken hast, spendiere ich dir noch ein Essen. Aber nicht hier, nur ein paar Schritte weiter.«

      Mittlerweile wirkt der Alkohol bereits deutlich. Ihre Bewegungen werden ausladender und auch ihr Mund steht nicht mehr still. Immer wieder fallen Sätze: wie »ungerecht die Welt doch sei, welch schweres Schicksal sie doch habe« und so weiter. Ich höre nur mit halbem Ohr zu, sind mir diese Phrasen doch sehr geläufig. Währenddessen pendeln meine Gedanken hin und her zwischen den Warnungen der Mutter: »Du wirst doch wohl nicht ein unbekanntes Frauenzimmer mit nach Hause nehmen wollen!« und Worten der Heilsarmee, die ihre Vertreter speziell auf die sündige Meile schickt und die dort von Brüderlichkeit, Nächstenliebe und überhaupt von Liebe zwischen den Menschen singt und spricht (und eher nicht von käuflicher Liebe redet).

      Kaum sind wir auf der Straße (ich stütze meine betrunkene Bekanntschaft), da laufen wir geradewegs einer der vorgenannten missionarischen Abordnung direkt in die Arme, worauf die Damen und Herren sich unverzüglich veranlasst sehen, ihren Singsang anzustimmen. Und wie das so ist mit Wein, Weib, Gesang und Heilsarmee und vor allem Brüderlichkeit, läuft es wieder nur darauf hinaus, dass ich mein Portemonnaie zücke und der fröstelnden Kapelle ein paar Taler zustecke. Auch meine Partnerin meldet sich lautstark beim Anblick der Truppe in Schwarz zu Wort und fängt beherzt an, diese Leute zu dirigieren und dann auch noch selbst zu tirilieren. Wozu tue ich mir das eigentlich an? Habe ich nicht genügend eigene Probleme, frage ich mich bei dieser Betrachtung und schrägen Klangvielfalt. Schnell ziehe ich meine neue Bekanntschaft an mich heran, bevor sie noch bekehrt bei diesen Leuten bleibt, obgleich es ihr nach ihrem vorherigen Gejammer nicht schaden könnte.

      »Es gibt doch gute Menschen«, säuselt sie mir ins Ohr.

      »Ich denke, einen davon hast du im Arm!«

      »Das kann ich noch nicht beurteilen. Aber wir wollen etwas essen gehen.« »Richtig! Essen und nicht philosophieren oder gar die Welt verbessern wollen. Das machen bereits die Damen und Herren vis-à-vis von uns.«

      Noch nicht genug damit! Von Weitem hören wir jetzt ein Gegröle aus rauen Männerkehlen. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Zeit. Hinter einer Häuserecke tauchen sechs Matrosen auf, ausgelassen singend und tanzend mit ihren Mädchen im Arm.

      Die 6 grölenden Matrosen (Teil I)

       Ob Hamburg, London, Tokyo, Schanghai---i (Refrain)

       Das ist uns Sechsen einerlei---i

       Wir sind die grölenden Matro---osen

       Mit starken Armen, strammen