Kurt Pachl

Die Engel der Madame Chantal


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Sie hatten Fantasien, Wünsche und Sehnsüchte im Gepäck. Ein Großteil dieser Abenteuer- und Liebesvagabunden wollte nicht untergehen in dieser wabernden Masse lebenshungriger, seelisch leidender oder gar ertrinkender Seelen.

      Diese potentiellen Klienten waren sich dessen bewusst, dass sie für gehobene Dienstleistungen mehr, mitunter viel mehr, hinblättern mussten, als man in Frankfurt bereit war anzubieten; in den Saunen, Clubs, Puffs oder vielen anderen Etablissements; vor allem in der Elbe-, Weser- und Moselstraße.

      Zahlungskräftige Kunden – aber auch Kundinnen – suchten junge, attraktive, willige und ideenreiche Begleiterinnen oder Begleiter.

      Nach vielen Monaten atmete Chantal befreit auf. Endlich wieder Licht, Luft und Sonne. Endlich heraus aus dem stickigen Mief und dem Kunstlicht.

      Chantal, Iris und Manuela hatten den administrativen Aufwand einer Escortagentur unterschätzt. Nach wenigen Wochen stellte sich heraus, dass Chantal mit ihrer warmen, dunklen und rauchigen Stimme doppelt so viele Akquisitionen und Terminvereinbarungen vereinbaren konnte wie ihre Freundinnen. Darüber hinaus gelang es ihr, drei bis vier eigene Dates pro Woche wahrzunehmen. Damit erzielte sie viertausend oder sechstausend Euro pro Woche; vorausgesetzt sie stand für ihre Kunden auch an den Wochenenden „zur Verfügung“. Ein langes Wochenende mit einem Kunden war besonders lukrativ – aber auch besonders knisternd, unterhaltsam und wissenserweiternd.

      Zwei Jahre vergingen wie im Flug. Dann klopfte das Schicksal erneut an die Tür.

      Das Übernahme-Angebot von „Rendezvous“, einer großen Gesellschaft, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, ein europäisches Premium-Escort-Netz aufzubauen, konnten die drei Frauen nicht ablehnen. Selbstverständlich, und liebend gerne, wurden sie von dieser Gesellschaft als freie Mitarbeiterinnen übernommen.

      Kapitel 3

      Chantal war nun herrlich frei und ungebunden. Sie hatte sich vorgenommen, künftig noch überlegter und planvoller vorgehen.

      Zwei oder maximal drei profitable Dates pro Woche würden reichen. In den Zeiten dazwischen musste sie ihr Wissen erweitern und verfeinern. Ein schöner Körper allein durfte nicht mehr ihr alleiniges Kapital sein.

      Sie war vierunddreißig. Damit war sie zwar noch nicht alt. Aber in Frankfurt oder in den anderen großen Städten wuchs die Konkurrenz in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Außerdem hatte sie erkannt, dass die besonders spendablen Kunden in Frankfurt jenseits der vierzig oder gar der fünfzig angesiedelt waren. Und diese Klientel war nicht ausschließlich an Sex interessiert. An den Wochenenden die Zeit nur im Bett zu verbringen – das hatte sich als wenig praktikabel erwiesen. Die reiferen Männer wollten mit ihr etwas unternehmen. Hierbei hatten ihre Klienten recht klare Vorstellungen von einer kompetenten Begleiterin. Sie wollten mit ihr ins Theater gehen oder zu Geschäftsessen. An den Abenden waren sie daran interessiert, sich zu unterhalten oder unterhalten zu werden. Viele hatten geschäftliche oder private Probleme, die sie sich von der Seele reden wollten.

      Chantals Sprachkenntnisse waren exzellent. Sie konnte sich gut ausdrücken und war extravertiert. Aber das war es auch schon. Was wusste sie über Kultur, Wirtschaft und Politik? Viele Männer, aber auch Frauen, wünschten sich eine attraktive Begleiterin mit Ausstrahlung, Parkettsicherheit, Charme, Humor und mit einem gewinnenden Auftreten.

      Unzweifelhaft waren das wichtige Voraussetzungen, um künftig noch erfolgreicher zu sein. Männer mit Geld, viel Geld, erwarteten das. Unabhängig davon: Sie, Chantal, wollte endlich auch stolz auf sich selbst sein dürfen. Künftig würde sie darauf bestehen, „Madame Chantal“ genannt zu werden. Das sollte ihr Markenzeichen werden.

      Herrjeh. Auch für ihren Körper musste sie mehr tun als bislang. Hierbei war es nebensächlich, dass sie im Grunde genommen Sport hasste. Ihre Haut musste straff sitzen. Schließlich gab es noch junggebliebene Klienten; Männer, die auf 18-Loch-Golfanlagen zuhause waren; Männer, die eine Fitness-Anlage neben ihrem Schwimmbad installieren ließen; Männer, die sich aufgestauten Frust aus dem Leib vögeln lassen wollten. Da durfte sie nicht schlappmachen.

      Ihre neue Sedcard mit aussagefähigen Aufnahmen von Sven unterschied sich gravierend von ihrem ehemaligen Auftritt. „Madame Chantal“ selbst hatte die Texte kreiert – und ihre Seele mit einfließen lassen. Über Geld wollte sie später nicht mehr sprechen. Niveau hatte seinen Preis.

      Der Geschäftsführer von „Rendezvous“ entschuldigte sich bei „Madame Chantal“ gerne. Die Anfragen übertrafen jegliches Vorstellungsvermögen. Mehr denn je oblag es „Madame Chantal“ ihre Wahl zu treffen und Termine zu vereinbaren.

      Ihre neue Freiheit begann mit einem äußerst ungewöhnlichen Ereignis. Die volle Tragweite sollte sich erst viele Jahre später erweisen.

      Wie in all den Jahren zuvor hatte sich Chantal auf ihren nächsten Kunden informell und mental vorbereitet. Bereits als sie sich in das Portrait des Harald Lambers zu vertiefen versuchte, schrie eine Stimme in ihr:

      »Dieses Treffen darfst du nicht auf die leichte Schulter nehmen!«

      Das volle Haar und der gepflegte Vollbart dieses Mannes waren bereits grau meliert. Trotzdem wirkte der vierundfünfzigjährige Inhaber eines Chemie-Unternehmens jung und agil. Chantal konzentrierte sich auf seine Augen mit den buschigen Augenbrauen darüber. Diese Augen blickten energisch und anpackend in die Welt. Doch sie sah darin auch eine leichte Traurigkeit und Verletzlichkeit.

      Seven und der Privat-Detektiv hatten ganze Arbeit geleistet. Aus fünfzehn Seiten ging hervor, dass dieser Mann eine äußerst bizarre Kindheit hatte. Sein Vater war einer jener Arbeitstiere nach dem Zweiten Weltkrieg; fordernd und unnachsichtig. Die Mutter liebte Kultur und Musik. Sie achtete auf die notwendige Ruhe und Harmonie in der Familie. Der Nachkriegspionier starb früh, und Harald wurde ins kalte Wasser geschleudert.

      Umsatz und Gewinn von HARLAM-CHEM explodierten in den letzten fünfzehn Jahren. Die zehn Jahre jüngere Frau Isolde kam aus begütertem Hause. Vor zwei Jahren zog sie mit dem gemeinsamen Sohn Edward, er war bereits vierundzwanzig Jahre alt, aus der großen Villa im Frankfurter Nordend aus. Sie war in den letzten Jahren vollauf damit beschäftigt gewesen, ihre Erbschaft, die Eltern waren beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen, mit vielen Männerbekanntschaften in vollen Zügen zu genießen. Harald ersäufte seine Enttäuschung in Arbeit. Frauenbekanntschaften tauchten in seinem Leben fortan nicht mehr auf; zumindest waren diese nicht in Erfahrung zu bringen gewesen. Harald Lambers galt als äußerst durchsetzungsfähig, spielte Golf und liebte Musik; vornehmlich klassische Musik.

      Sie trafen sich in einem großen und altehrwürdigen Hotel in Würzburg; unweit der Marienburg und mit Blick über die Weinberge hinunter zum Main.

      Chantal erkannte ihn von Weitem.

      Mit einem »Einen schönen Tag Herr Lambers«, ging sie lächelnd auf ihn zu, und hauchte dem erwartungsvoll dreinblickenden Mann ein zartes Küsschen auf beide Wangen.

      Fast theatralisch wich er zwei Meter zurück. Mit betont beeindruckter Miene musterte er das vor ihm stehende Wesen. Er ließ sich Zeit; viel Zeit.

      »Es gefällt mir, was ich sehe. In Natura sind sie noch weitaus schöner als auf dem Foto«, sagte er mit einer warmen Stimme, die ganz und gar nicht zu einem Manager passte.

      »So direkt hat mir das bislang noch kein Mann gesagt«, flötete Chantal. »Lachen Sie jetzt nicht, wenn ich rot wie ein Teenager werde. Oh Gott. Dieser Tag verspricht interessant zu werden.«

      »Dieses Wochenende!«

      »Entschuldigung. Natürlich dieses gesamte Wochenende«, verbesserte sie sich. »Das Wetter verspricht himmlisch zu werden. Da es in erster Linie Ihr Wochenende ist, sollten Sie mich überraschen, was wir gemeinsam daraus machen.«

      Er schlenderte mit ihr durch die Residenz. Gemeinsam bestaunten sie den in voller Blüte stehenden riesigen Residenzgarten.

      Nein. In die Innenstadt wollte die attraktive Frau nicht so gerne. Stattdessen besichtigten sie die Marienburg, um sich anschließend auf die große Terasse des Hotels zu setzen. Sie ließen ihre Blicke hinunter zum Main