Isabella Kubinger

Raunen dunkler Seelen


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würde es kein Problem darstellen, dieses großherzige Mädchen in alles Wichtige einzuweihen, und ich schätze, dasselbe galt für Suna. Bei Onkel Tamo war ich mir sicher, dass er seine Nichte ebenbürtig behandeln würde. Nur bei Corvin wusste ich nicht so recht, wie er mit unserem neuen Familienmitglied umgehen würde. Ich kannte meinen jüngeren Bruder gut genug, um zu wissen, dass es einige Zeit dauern würde, bis er Reena offenherzig entgegenkommen würde.

      Misstrauen. Etwas, das in jedes Menschen Herzen schlummert. Manchmal eine finstere Macht, die das komplette Kommando über jede einzelne Entscheidung übernimmt. Ein tiefsitzender Instinkt, der schon so manche Menschen in den Wahnsinn getrieben hat, sogar ganze Völker dem Untergang geweiht hatte. So schwarz, so dunkel. Hat es einmal seine dreckigen Klauen in ein Herz gekrallt, ist ein Entkommen beinahe schon unmöglich.

      Mir schien es, als hätten wir, meine Familie und alle meine Freunde, diese Balance zwischen gesundem Misstrauen und endgültigem Vertrauensverlust gut im Griff. Hingegen schien mir der wahnsinnige König aus Aronien nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben. Wenn man meinem unguten Bauchgefühl Glauben schenken wollte, würde es definitiv darauf hinauslaufen, König Kan als Irren zu bezeichnen und als einen der neuen Gezeichneten der Dämonen. Sein unzerstörbarer Hass konnte einfach keinen natürlichen Ursprung besitzen.

      Meine rasenden Gedanken sprangen von Thema zu Thema, fanden Verbindungen, wo ich beim besten Willen vorhin noch keine gesehen hatte. Diese ganze Erkenntnis, oder besser gesagt, meine unausgereifte Idee über die tiefsitzenden Wurzeln von König Kans Hinverbranntheit, würde ich dann, sobald wir sicher in Hevin angekommen wären und uns mit den restlichen Fürsten Morodeks ausgetauscht hätten, kund tun. Bestimmt würde der eine oder andere meine Meinung teilen.

      „Lorca?“ Reenas fragende Stimme riss mich aus meinen gedanklichen Diskussionen mit mir selbst.

      „Mmh?“

      „Ist Corvin dein richtiger Bruder? Also nicht, dass Suna keine richtige Schwester für dich ist, oder sowas, ich meine nur, seid ihr blutsverwandt? Oder seid ihr euch auf der Straße begegnet?“ Schüchtern sah sie zu mir zurück, als könnte diese halb gestotterte Frage einen wunden Punkt treffen. Natürlich wäre diese fälschliche Annahme verständlich, da ich im Sommer bei unserer ersten Begegnung kein Wort über meinen Bruder verloren hatte. Wenn ich ehrlich war, hatte ich mich grundsätzlich ziemlich zurückgehalten, was persönliche Informationen anging. Schließlich dachte ich zu dieser Zeit, ich würde diesem hilfsbereiten Mädchen nie wieder begegnen.

      „Corvin und ich sind richtige Brüder, wenn du es so betiteln willst. Unser Vater war kurz nach seiner Geburt an einer seltenen Krankheit verstorben. Auch wenn ich ziemlich klein war, kann ich mich noch mehr als deutlich an Mutters Kummer erinnern. Er hatte sie innerlich aufgefressen. Eines Tages kam sie dann nicht mehr von der Arbeit nach Hause. Ich habe bis heute keinen blassen Schimmer, was mit ihr geschehen war. Ob sie sich das Leben genommen oder uns einfach verlassen hatte. Beides wäre möglich. Danach lebten wir auf der Straße, bettelten, stahlen. Wir waren kaum von den dreckigen Ratten zu unterscheiden. Jede Nacht sah ich zitternd zu, wie uns die ekeligen Viecher in den dunkeln Bereichen unseres Landes nur mit viel Glück nicht entdeckt hatten. Jede Nacht aufs Neue betete ich für unser Leben.

      Irgendwann waren wir dann deiner Schwester begegnet. Sie war raffiniert, flink und besaß ein außergewöhnliches Talent für Theater. Gemeinsam mit ihr waren unsere Überlebenschancen drastisch gestiegen. Unsere vielseitigen Spitznamen waren in etlichen Kleinstädten bekannt. Doch das half uns auch nicht weiter. Sobald die Sonne die hintersten Ecken der Unterwelt nicht mehr mit Licht speiste, krochen diese albtraumartigen, dämonischen Kreaturen wieder aus ihren stinkenden Löchern und machten Jagd auf alles, das atmen konnte.

      Als hätte eine höhere Macht Mitleid mit uns staubigen, ausgehungerten Menschenkindern gehabt, tauchte eines Tages Fürst Tamo mit seinem treuen Gefolge in einem der heruntergekommenen Dörfer auf. Natürlich hatten weder Corvin, Suna noch ich eine Ahnung was dieser edle Herr in unserem Gebiet trieb und so naiv wie wir eben waren, heckten wir einen gewaltigen Plan aus, der uns so einige Goldmünzen einbringen sollte. Doch unsere Mission ging gewaltig schief.

      Festgenommen, wurden wir vor Onkel Tamo gezerrt und man sollte denken, nun wäre der Punkt gekommen, an dem man sich vor Reue auf die Knie schmeißt und um Verzeihung fleht. Aber nein! Wir drei Rotzbengel hoben bloß trotzig unser Kinn und starrten in unterschiedlichste Richtungen, nur nicht in seine. Als wären wir etwas Besseres. Als wäre einer der angesehensten Männer Morodeks unser nicht wert.

      Doch anstatt uns böse zu sein, fragte Tamo nur mitfühlend nach unseren Namen und gab uns etwas zu essen. Später nahm er uns alle mit in die Hauptstadt und erteilte uns strengen Unterricht in Lesen, Schreiben und Benimmregeln. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Nerven es unsere Lehrer gekostet haben musste. Eines kann ich Jahre danach auf jeden Fall behaupten: Wir waren alle drei freche kleine Nervensägen, doch vor allem Suna schien sich keine Grenzen vorschreiben zu lassen. Ihr schien es auch am schwersten zu fallen, ihr gewohntes Verhalten abzulegen und sich an die neuartige Lebenssituation anzupassen.“

      Reenas Mundwinkel zogen sich langsam zu einem kleinen Lächeln hoch. Ihr schien diese rebellische Art ihrer Schwester sehr gut zu gefallen. Diese weit zurückliegende Vergangenheit aus dem Leben ihrer versteckten Familie. Es musste sich komisch anfühlen, beinahe nichts übereinander zu wissen, obwohl man ja doch neun verdammte Monate zusammen im schützenden Bauch der Mutter verbracht hatte.

      Zumindest schien ich richtig gut darin zu sein, sie von ihren lähmenden Ängsten abzulenken. Auch ein Talent, das nicht jeder besaß und wer weiß schon, wofür das noch gut sein könnte. In dem kommenden Krieg werden wir auf jeden Fall von allen möglichen Fertigkeiten Gebrauch machen müssen, um unser friedliches Land beschützen zu können. Allein der Gedanke darin schien schon so surreal. Noch nie zuvor war es jemanden gelungen, ohne unserer Zustimmung nach Morodek zu gelangen, geschweige denn, auch nur über die geheim gehaltene Existenz zu erfahren. Eingeweiht wurden nur die wenigsten Lichten Bewohner. Darunter König Triton von Katalynia.

      „Ich hatte nie gedacht, dass du so gesprächig sein kannst. Nicht falsch verstehen. Ich finde das super. Ehrlich gesagt höre ich dir gerne zu. Es ist schön, mehr von dir und Suna zu erfahren. Ich hätte euch gerne schon viel früher kennengelernt. Jetzt wo ein gewaltiger Krieg vor der Tür steht, fühlt es sich an, als würde uns die Zeit davonlaufen. Wenn du verstehst, was ich meine.“ Nur zu gut. Die Zeit schien uns wirklich wie Sand zwischen den Fingern hindurchzurinnen. Nicht mal Suna schien die Macht zu besitzen, diesen natürlichen Prozess des Alterns aufhalten zu können. Einfach mal die Zeit stoppen. Anhalten. Einfrieren.

      Tamo hielt an und ließ Mira vom Pferderücken heruntergleiten. Geschickt tastete sie die rauen Felswände um uns nach dem geheimen Eingang ab. Die katalynische Prinzessin beobachtete sie dabei interessiert. Innerlich machte sie sich bestimmt einige Notizen darüber. Nicht viel später hörte ich das vertraute Klicken und die graue Felswand schob sich ein Stückchen auf. Genau weit genug, um ein ausgewachsenes Pferd hindurchzuquetschen. Nacheinander passierten wir den versteckten Eingang und ließen uns von der knisternden Finsternis verschlucken. Abwartend standen wir nun wie aufgereihte Hühner hintereinander und sahen der sich selbstschließenden Tür geduldig zu, bis sie auch den letzten Tagesschein vollständig ausgesperrt hatte.

      So nahe an Reena, spürte ich, wie ihr schmächtiger Körper unkontrollierbar zu zittern begann. Ob aus Angst oder der erfrischenden Kälte wegen, konnte ich nicht sagen. Aus Reflex drängte ich mich näher an sie heran. Körperwärme war das einzige, was ich gerade zu bieten hatte. Alle Kleidung war feucht und kalt vom leichten Nieselregen der letzten Stunden. Zu meiner Überraschung lehnte sie sich dankbar gegen mich. Mein Herz begann wieder einmal wie wild zu pochen. Würde ich hier und jetzt einen Herzinfarkt erleiden, würde es mich kein bisschen wundern.

      Langsam gewöhnten sich meine Augen an die erstickende Finsternis und ließen nach und nach schattenhafte Formen erscheinen. Wir hatten es geschafft. Mit etwas gemächlicherem Tempo setzten wir unsere anstrengende Reise durch die versteckten Tunnel nach Morodek fort. Bald. Bald wären wir zu Hause.

      ***

      „Bringt ihn um!“

      Die schmerzerfüllten Schreie meiner Tochter zerbrachen