Isabella Kubinger

Raunen dunkler Seelen


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in der Neutralen Zone, den die meisten Menschen, die nur etwas Intelligenz aufwiesen, mieden. Und das nicht ohne Grund, schließlich schaffte es kaum jemand wieder lebend heraus.

      Für morodekische Boten und die Nyajamar war dieser irreführende Landesabschnitt Teil der abschließenden Prüfung ihrer Ausbildung zum Krieger. Es wurde vorausgesetzt, sich in diesem steinigen Labyrinth gut genug auszukennen, um sich gleichzeitig hier hineinflüchten zu können und bewaffnete Gegner abzuhängen.

      Bei dem gewaltigen Anblick der hohen Felswände begann Reena unruhig im Sattel hin und her zu rutschen. Ihr gefiel unsere folgende Aktion ganz und gar nicht. Was auch weitergehend nicht verwunderlich war, wenn man bedachte, was sich über diese Naturgewalt erzählt wurde. Diese Horrorgeschichten wurden schließlich unglaublich ausgeschmückt von den Wanderern weitererzählt. Selbst meine jüngeren Geschwister und ich hatten dem knochigen Wanderer an den aufgeplatzten Lippen gehängt, als dieser seine Reise in die Unterwelt verlagert hatte und sich eines Tages durch unsere gewohnten Gassen schleppte.

      „Keine Sorge, als morodekischer Krieger kennt man das irreführende Labyrinth wie seine eigene Hosentasche. Sicheres Terrain“, sagte ich beinahe tonlos in Reenas Ohr.

      „Einfacher gesagt als getan. Mir erscheint das Ganze immer noch wie eine ganz, ganz schlechte Idee.“ Ihr war die Nervosität deutlich anzuhören. Ich konnte nur hoffen, dass ihr meine Nähe etwas Geborgenheit schenken würde.

      „Sag was!“, überrumpelte sie mich kurz darauf mit ihrer unverständlichen Aufforderung.

      Verwirrt zog ich meine Augenbrauen zusammen und musterte das zierliche Mädchen vor mir. Es war weiterhin ein unlösbares Rätsel für sich. „Was soll ich sagen?“

      Frustriert schnaufte sie laut aus. „Irgendetwas. Lenk mich ab. Aber mach, dass ich nicht in Panik ausbreche und dann vielleicht die Kontrolle verliere.“ Natürlich. Die Bilder der toten Gul spukten ihr weiterhin unaufhaltsam in ihrem Köpfchen herum. Ich wollte ihr helfen. Helfen, zu vergessen. Sie hatte es nicht verdient, mit einer derartigen Last beladen zu werden.

      „Lass mich kurz überlegen.“ Angestrengt suchte ich nach einem unverfänglichen Thema, das keine noch so kleine Verbindung mit dem blutigen Ereignis von heute aufweisen würde. Das Motto, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. „Nie vergessen. Nie versagen.“

      Stille. Reena dachte ganz deutlich darüber nach, nur konnte sie keinen logischen Zusammenhang aufdecken. „Was?“ Es schien zu funktionieren. Komplett abgelenkt vom felsigen Irrgarten vergaß sie ihre Angst. Sogar ihre gesamte Körperhaltung schien sich zu lockern.

      „Nje mikae. Nje krüye. Das ist Morodekisch und bedeutet so viel wie ‚Nie vergessen. Nie versagen.‘ Ein Versprechen, eine Lebenseinstellung. Das Motto der Nyajamar, der bestausgebildeten Krieger von Morodek. Sozusagen der Leibwächter und Spezialgarde der Fürsten.“ Ich konnte meinen Stolz nicht verbergen. Zwar würde ihr die ganze Bedeutung dieses Titels noch nicht bewusst sein, aber ihr allein schon die Wahrheit über meine kriegerische Identität verraten zu dürfen, war schon genug. Nun musste ich nicht mehr darauf achten, mein verstecktes Land geheim zu halten. Ich konnte ihr jede Kleinigkeit aus meiner Vergangenheit vom ausgehungerten Straßenkind bis zu den lebensgefährlichen Missionen in der Lichten Welt erzählen. Das Mädchen mit den wunderschönen meerblauen Augen, in denen ich mich ausgeschlossen verloren hatte, in deren Unendlichkeit meine eiternden Wunden gepflegt wurden, würde mich nun endlich kennenlernen können. Und vielleicht, ja, nur vielleicht, würde diese wunderschöne Prinzessin mit diesem übermenschlich großen Herzen dieselbe Liebe empfinden wie ich. In diesem Moment war mir mehr als klar, dass ich alles, wirklich alles, für dieses unglaubliche Mädchen tun würde, um sein Herz zu gewinnen.

      „Onkel Tamo war früher ebenso ein Nyajamar, aber seit er die Rolle des Obersten Fürsten übernommen hat, darf man ihn eigentlich nicht mehr zu der Spezialeinheit dazuzählen. Nur dank ihm haben Suna, Corvin und ich nun dieses abenteuerliche Leben und eine liebevolle Familie. Mira und Ellion hingegen sind Boten. Schnelle Läufer, taktische Denker, unzählige Charaktere, und vor allem geborene Lügner. Sie sind unsere sicheren Informationsquellen und in allen Lichten Königreichen und in der Glasscherben Ebene vertreten. Manchmal werden Boten auch in die Neutrale Ebene wie auch in die Gipfelebene ausgesandt, um neue Grenzverschiebungen, Population und illegalen Handel ausfindig zu machen. Für uns in Morodek ist es sehr wichtig, über alle kleinen wie auch großen Geschehnisse Bescheid zu wissen. Dadurch können wir unsere versteckte Unterwelt bestmöglich vor euren Leuten verbergen und eine ungewollte Übernahme und Ausbeutung umgehen. Natürlich gibt es da dann auch noch …“

      „Stopp! Stopp! Stopp! Stopp! Stopp! Stopp! Nochmal ganz langsam. Ihr spioniert uns allen nach und merkt nicht einmal, dass das unsere Privatsphäre verletzt. Ihr gebt staatliche Geheimnisse weiter, schleicht euch bei uns ein und manipuliert uns, damit wir euch vertrauen? Findest du nicht, dass das etwas unmenschlich ist?“ Den Schock in ihrer hohen Stimme konnte man nicht überhören. Ich war aber auch ein Idiot. Ohne zu überlegen, hatte ich ihr etwas über unser spionageartiges Staatssystem erörtert und dabei restlos vergessen, dass sie in einem dieser besagten Königreiche aufgewachsen war und das nicht nur als eine belanglose Einwohnerin, die gerade so über die Runden kam. Nein, ich hatte der katalynischen Prinzessin geradewegs ins Gesicht gespuckt, dass sie seit ihrer Geburt von unzähligen eingeschlichenen Augenpaaren auf Schritt und Tritt beobachtet worden war. Wenn mir das nun jemand so unter die Nase reiben würde, hätte mein Gegenüber bald nur mehr den Wunsch gehegt, mir niemals über den Weg gelaufen zu sein.

      Schuldbewusst wich ich ihren entsetzten Blick aus. Mit dieser undurchdachten Offenbarung hatte ich wohl meine Chancen weit unter die Nullgrenze in den Minusbereich geschraubt. Innerlich klopfte ich mir für diese heldenhafte Tat auf die Schulter. Gedankliche Notiz: vorher denken, dann sprechen. Wie würde ich das nur wieder in Ordnung bringen können?

      „Ragnar war auch ein Bote, oder?“ Ich konnte direkt fühlen, wie diese Erkenntnis in sie hineinsickerte. Es musste schrecklich sein, nun der Wahrheit so viel näher zu sein. Allem Anschein nach hatte es Ragnar nie für notwendig gehalten, seinem wertvollen Schützling mehr über seine wahre Identität zu verraten. Wobei, wenn man seine Gefühle für Reena bedachte, war klar, dass er den schwierigen Teil seiner Mission für sich behielt. Schließlich wirkte eine ungewollte Beschattung nicht unbedingt anziehend. Vielleicht war aber auch einfach nie der richtige Zeitpunkt gekommen, um über derartig ernste Themen zu reden.

      „Ja, er hatte schon als sechsjähriger Junge eine Spezialausbildung erhalten, um dann in Onayas die beste Stellung zu erlangen, um dir und deinem Bruder so nahe zu sein, wie nur möglich. Er sollte für eure Sicherheit garantieren, obwohl kaum ein merkbarer Altersunterschied vorlag. Es war der Wunsch eurer Mutter, einen von Tamos Leuten in greifbarer Nähe zu wissen, um bei einer spontanen Flucht jemanden zu haben, der den Weg nach Morodek kannte.“ So gut es ging, hielt ich meinen stechenden Blick auf Miras Rücken gerichtet, die mit Onkel Tamo nur wenige Meter vor uns ritt. Doch selbst dadurch entgingen mir Reenas unglückliche Blicke nicht. Sekunden des Schweigens quälten mich. Keiner sagte mehr ein Wort. Die Spannung zwischen uns war kaum auszuhalten und doch wagte ich es nicht, die unangenehme Stille zu durchbrechen. Sekunden wurden zu Minuten. Innerlich tobte ein Sturm in mir. Riss an etliche Mauern und brachte sie gewaltsam zum Einbrechen. Überwältigende Gefühle rasten durch meinen elektrisch geladenen Körper. Lange würde ich es nicht mehr aushalten. Ich brauchte die Gewissheit, dass ich diese frische Verbindung zu ihr nicht komplett zerrissen hatte.

      „Er war so viel mehr als nur ein Bote. Ragnar war ein Freund. Sein Auftrag bleibt nebensächlich“, flüsterte die katalynische Prinzessin mit überzeugter Gewissheit, dass sich die schwerer werdende Last in Luft aufzulösen schien. „Auch wenn ich den Gedanken, ein Leben lang ausspioniert worden zu sein, hasse, wird das nichts zwischen uns ändern. Das Hier und Jetzt zählt. Was geschehen ist, liegt in der Vergangenheit. Ich hoffe nur, das sehen hier auch alle so, denn wenn ich zur Familie zähle, will ich auch so behandelt werden.“ Unsicherheit. Sie fürchtete sich vor meiner Antwort und wahrscheinlich traute sie mir auch nicht mehr einhundertprozentig über den Weg. Das starke Vertrauen zwischen uns beiden war nun etwas angeknackst, doch ich würde alles geben, um Reena zu zeigen, dass alles Misstrauen umsonst war.

      „Das versteht sich von selbst.