Isabel mit brüchiger Stimme: „Mum, Du lagst mit Deiner Vermutung aber nicht ganz falsch. Jedoch ich bin es nicht mehr. Ich habe das Kind – Harrys Kind – verloren …“
„Oh, Darling! Das tut mir so leid!“, kam es mitleidvoll von Lindsay, die sogleich zu Isabel herüberkam, um ihre Tochter in die Arme zu nehmen. Unweigerlich begann Isabel in den Armen ihrer Mutter zu weinen. „Psssst, Sternchen, weine nicht. Alles wird wieder gut. Ich bin für Dich da; wir sind für Dich da! Warum bist Du denn nicht einfach schon viel früher zu mir gekommen?“ Isabel stutzte und sah verwirrt zu ihrer Mutter auf, die ihr sogleich die Tränen aus dem Gesicht wischte. Nichtsdestotrotz musste Lindsay anfangen zu lächeln und antwortete auf die still gestellte Frage ihrer Tochter: „Isabel, ich bin nicht dumm und vor allem bin ich nicht blind! Meinst Du, ich habe Deine allmorgendliche Übelkeit nicht bemerkt? Deshalb habe ich auch nicht verstanden, warum Du Dich auf einmal so merkwürdig benommen hast und Dich plötzlich für jeden und auch vor jedem verschlossen hast. Ich bin davon ausgegangen, dass – verzeihen Sie, Euer Hoheit – das englische Königshaus etwas gegen diese Schwangerschaft hätte; weshalb es ja auch zum Bruch Eurer Beziehung kam … Dass der Grund ein anderer ist, konnte ich ja nicht ahnen!“
„Oh, Mum, es tut so schrecklich weh!“, japste Isabel, abermals um ihre Selbstbeherrschung ringend.
„Ich weiß. Ich kenne dieses Gefühl nur zu gut“, war Lindsays schlichte Antwort darauf, bevor sie sich abwandte und räusperte.
Isabel sah fragend zu Harry herüber, der sie sogleich wieder beschützend in seinen Arm nahm. Er konnte jedoch nur mit den Schultern zucken, da auch er nicht wusste, was Lindsay mit ihrer letzten Äußerung gemeint hatte. Beide schauten zu Lindsay herüber, die gerade in einer Schublade in der alten, braunen Schrankwand wühlte. Nachdem sie gefunden hatte, wonach sie suchte, kam sie wieder zurückgefahren und schob über den Couchtisch eine alte Schwarzweiß-Photographie zu Isabel und Harry herüber. Isabel nahm das Bild auf und blickte auf ein Grab, auf dem ein kleiner weißer Teddy an ein wunderschön verziertes Holzkreuz angelehnt saß. Davor lagen fünf dunkle Rosen. Fragend sah Isabel ihrer Mutter ins Gesicht. „Das ist das Grab von Alice; Alice Standfort. Deine Schwester“, gab Lindsay schlicht bekannt.
Isabel stand sogleich der Mund weit offen. Harry räusperte sich und sagte: „Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe?!“
„Nein, Du bleibst! Ich bin der Ansicht, dass auch Du ein wenig mehr über unsere Familiengeschichte erfahren solltest. Es wird zudem, glaube ich, Euch beiden helfen, mit dem Verlust besser klarzukommen“, erklärte Lindsay sachlich. Erwartungsvoll blickten nun Isabel und Harry zu Lindsay herüber.
„Alice sollte im Spätsommer 1981 auf die Welt kommen. Doch wie ihr sicherlich schon erahnen könnt, kam es nicht dazu. Ja, Isabel, auch ich habe ein Kind verloren. Allerdings zu einem späteren Zeitpunkt als Du. Ich war bereits im sechsten Monat schwanger!“, erzählte Lindsay ruhig und gefasst.
„Oh mein Gott!“, rief Isabel entsetzt aus.
„Sprich bitte nie Deinen Vater darauf an!“, erwähnte Lindsay sogleich. „Ich glaube, er würde dann durchdrehen! Du musst nämlich wissen, dass wir zu diesem Zeitpunkt noch in Yarmouth lebten. Dein Vater hatte es dort nicht leicht, weil die Bürger des kleinen Hafenstädtchens der Meinung waren, dass seine Mutter eine Hexe sei.“
„Ja, ich weiß. Als wir auf der Isle of Wight waren, hat uns ein Pfarrer die Geschichte erzählt“, sagte Isabel.
„Bestimmt Pater Pilgrim?! Hat er Euch auch die komplette Geschichte; also auch die Gründe für unseren Umzug nach London erzählt?“, fragte Lindsay.
Harry schüttelte den Kopf. „Er sagte lediglich, dass es wohl zu einem Unglück kam?!“
Lindsay lachte bitter auf. „Es war der 12. März, ich kam gerade von einer Freundin wieder und lief die Hafenpromenade zu uns nach Hause. Als ich plötzlich mehrere Männerstimmen vernahm. Da es schon schummrig war, ging ich schneller. Doch die Männerstimmen kamen immer näher, bis ich mich plötzlich umringt von acht Männern wiederfand. Sie waren allesamt dunkel gekleidet, trotzdem erkannte ich jeden von ihnen. Es waren Arbeitskollegen Deines Vaters, ehemalige Schüler aus seinem Jahrgang, die ihn all die Jahre schikaniert hatten. Ihn allerdings nie kleingekriegt haben! Und es passte ihnen so gar nicht, dass ich nicht nur zu Deinem Vater hielt, sondern ihn auch noch unterstützte, wenn nicht sogar verteidigte. Doch was sie am meisten aufregte, war, dass wir seit mehr als zwei Jahren in wilder Ehe unter ihnen lebten und ich nunmehr auch noch unehelich von ihm schwanger war. Sie wollten weder Keith noch mich im Ort haben und noch weniger wollten sie, dass ich die ‚Brut‘, wie sie es nannten, in ihrer ehrbaren Stadt austrug!“
Lindsay machte eine kurze Pause.
„Erst pöbelten und schubsten sie mich nur etwas herum. Einfach, weil es ihnen Spaß machte und sie hofften, mich damit einzuschüchtern. Doch als ich mich stattdessen versuchte zu wehren, wurden sie rabiater und fingen an, mich zu schlagen und zu boxen“, erzählte Lindsay mit traurigem Blick, so als würde sie all das noch einmal bildlich vor sich sehen. Isabel und Harry sogen gleichzeitig heftig die Luft ein; sie dachten an das Gleiche. Lindsay nickte nur traurig und ihr liefen Tränen über die Wangen. Sogleich sprang Isabel auf und kniete vor ihrer Mutter nieder und umfasste ihre Hüfte. Ihr Kopf ruhte auf ihren Beinen. Zärtlich strich Lindsay Isabel übers Haar. „Ihr habt richtig geraten, sie trafen dabei auch meinen Bauch und das nicht nur einmal. Es kam zu Blutungen und ich verlor das Leben in meinem Bauch.“
„Das tut mir sehr leid“, kam es mit brüchiger Stimme von Harry.
Lindsay nickte dankend. Anschließend berichtete sie unbeirrt weiter: „Falls Du Dich fragst, mein Kind, wo Dein Vater zu dieser Zeit war und mich nicht unterstützte und verteidigte: Er war noch auf See und fand mich erst mehrere Stunden später bewusstlos und zusammengekrümmt auf der regennassen Hafenpromenade. Er fuhr mit mir direkt ins nächstgelegene Krankenhaus. Doch alle Hilfe für das Baby kam zu spät. In einer Not-OP holten sie den toten Fötus und retteten mir damit das Leben; ich wäre nämlich sonst verblutet.“
„Oh mein Gott!“, rief Harry heftig aus.
„Oh Mummy! Sag sowas nicht; Du machst mir Angst!“, japste Isabel.
Beruhigend strich Lindsay weiter über den Kopf ihrer Tochter. „Ich lebe ja noch. Und auch wenn Dein Vater kein Kind mehr haben wollte, kamst Du, mein Engel, vier Jahre später gesund und munter auf die Welt …“, beendete Lindsay ihre Erzählung mit einem Lächeln.
Es herrschte betretenes Schweigen.
Isabel war die Erste, die sich wagte wieder etwas zu sagen. Sie sah vom Schoß ihrer Mutter auf und fragte: „Aber warum hast Du mir nie davon erzählt?“
„Weil Du doch an der Tragödie, die so viele Jahre zurückliegt, eh nichts hättest ändern können! Zudem, warum sollte ich Dir Deine so glückliche Kindheit und Deine noch vor Dir liegende, vielversprechende Zukunft mit einem solchen Bericht zerstören?“, warf Lindsay in den Raum. „Es hat doch schon genügt, dass Dein Vater uns nach meinem Unfall das Leben jahrelang schwergemacht hat. Sicherlich wirst Du nun aber auch verstehen, warum Papa keine Widerreden duldet und nur schwer loslassen kann?!“
„Weil er Angst davor hat, mich auch noch zu verlieren …“, kam es Isabel prompt in den Sinn.
Lindsay nickte. „Das wäre das Schlimmste für ihn!“
„Die Frage ist jetzt vielleicht etwas unangebracht, aber kann es sein, dass Ihr Mann nur deshalb uns Royals hasst, weil er vielleicht meiner Familie die Schuld an seinem erlittenen Schmerz gibt?!“, schoss es Harry spontan durch den Kopf.
Isabel sah erschrocken auf. Lindsay schickte Isabel sogleich mit einer Handbewegung wieder zu Harry herüber und antwortete: „Was genau der Grund dafür ist, warum mein Mann eine Abneigung gegen das englische Königshaus hat, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur so viel, dass dies irgendetwas mit Isabels Geburt zu tun haben muss … Ich habe schon des Öfteren versucht herauszubekommen, was ihn so aggressiv gegen die Krone macht; vor allem in letzter Zeit, weil ich mir vom Herzen gewünscht habe, dass Isabel mit Dir, Harry, glücklich werden würde. Aber es ist partout nicht aus ihm herauszubekommen