„Was meinst Du damit, Mama?“, hakte Isabel nach.
„Als ich damals Alice und auch beinahe mein Leben verloren habe, wollte Dein Vater nur eines: Rache nehmen!“, begann Lindsay zu erzählen.
„Er wollte aber niemanden umbringen, oder?“, fragte Isabel vorsichtig nach, die auf einmal ein ganz komisches Gefühl in der Bauchgegend hatte.
„Das vielleicht nicht gerade, aber die acht Männer wären auf jeden Fall ihres Lebens nicht mehr froh geworden und würden sich stattdessen jeden Tag schmerzlich daran erinnern, was sie ihm all die Jahre angetan haben …“, erklärte Lindsay weiter. „Es genügten jedoch die einfachen Worte: Wenn Du jetzt gehst, dann verlasse ich Dich und das für immer! Isabel, Du musst wissen, dass Dein Vater mich über alles liebt und ich ihn; auch wenn er es einem nicht immer einfach macht!!! Aber es war Liebe auf den ersten Blick und so etwas erlebt man nur einmal im Leben! Ich habe ihm gezeigt, was es heißt, nicht der Fußabtreter für andere zu sein, sondern sich dem in den Weg zu stellen und sein eigenes Ding durchzuziehen. Er lernte durch mich ein gänzlich anderes Leben kennen und vor allem, er selbst zu sein! Leider kam es dabei auch zum Bruch mit seinem Vater, der es ihm nicht verzeihen konnte, dass er sich gegen ihn gestellt hatte.“
Fragend sah Isabel zu ihrer Mutter herüber.
Lindsay erzählte weiter: „Dein Großvater wollte immer, dass Dein Dad in seine Fußstapfen trat und Schreinermeister wurde. Doch Keith liebte es, allein auf See zu sein und so wurde er Fischer. Viel Berufsauswahl gab es in dem kleinen Ort sowieso nicht. Aber dass Dein Vater ausgerechnet den Beruf aller wählte, traf Deinen Großvater zutiefst. Adam gab mir die Schuld daran, seinem einzigen Sohn diese Flause in den Kopf gesetzt zu haben. Dabei hatte ich Keith noch darin bestärkt, diesen so unverwechselbaren Beruf seines Vaters zu erlernen. Adam glaubte mir dies natürlich nicht und betitelte mich daher gerne als ‚Blondes Gift aus der Großstadt‘. Dass es da immer wieder zu Streitigkeiten zwischen Vater und Sohn kam, ist nur verständlich. Sehr zum Leid Deiner geliebten Nanny. Doch auch sie war gebunden und da sie Deinen Großvater ebenfalls über alles liebte, hielt sie sich aus den Streitigkeiten heraus und ertrug sie stillschweigend. Deine Großmutter war sowieso eine großartige Frau: Sie liebte mich wie eine eigene Tochter. Du weißt, dass meine Mum viel zu früh an Krebs starb. Cassandra war wie eine Mutter für mich, weshalb auch ich sie immer nur ‚Mum‘ genannt habe. Sie war das Bindeglied zwischen der ganzen Zwietracht, die im Ort gegen die Beziehung von Keith und mir gesät wurde. Sie bestärkte uns in unserem Tun und Handeln und in unserer Liebe. Sie war es auch, die nach Alices Tod alles daransetzte, dass niemand im Ort erfuhr, wohin Dein Dad und ich eines Nachts entschwunden sind.“
„Als wir in Yarmouth waren, meinte Pater Pilgrim, dass es zwischen Ihrem Mann und seinem Vater eines Tages zu einem riesigen Streit kam – noch vor dem tragischen Unglück – und sie seither kein Wort mehr miteinander gesprochen haben. Darf man erfahren, was der Grund dafür war oder war wirklich nur die Berufswahl der Auslöser?“, fragte Harry interessiert nach.
Lindsay lächelte sanft. „Nein. Es kam zum endgültigen Bruch zwischen Vater und Sohn, als Keith seinem Dad stolz kundtun wollte, dass er Großvater werden würde.“ Überrascht sahen sich Harry und Isabel an. Lindsay musste unweigerlich kichern. „Ja, wenn man das hört, könnte man meinen, man sei in einem falschen Film. Aber wie schon gesagt, war Adam nicht gerade begeistert von der Beziehung zwischen seinem Sohn und mir. Nur wegen Cassandra, Isabels Großmutter, duldete er unsere Liaison.“
„Der Priester sagte auch, dass ihr nicht auf der Beerdigung von Großvater wart“, erwähnte Isabel.
„Das ist richtig. Aber das hat weniger mit dem damaligen Streit als vielmehr mit dem Schwur zu tun, dass wir nach Alices Tod nie wieder einen Fuß an diesen Ort an der Küste setzen würden. Und Deine Großmutter hielt es auch nur noch bis zwei Stunden nach der Beerdigung von Adam dort aus. In diesen zwei Stunden lief sie durch die Stadt und prophezeite jedem, dass Du eines Tages kommen würdest und dann …“
Auf alle drei Gesichter trat ganz automatisch ein breites Grinsen.
„Wenigstens eine kleine Genugtuung“, kam es Isabel in den Sinn. „Hätte ich jedoch gewusst, was Euch in Nannys und Dads Heimat widerfahren ist …“
„Hättest Du nicht einen einzigen Schritt in diese Stadt getan“, beendete Harry Isabels angefangenen Satz.
Lindsay bestätigte die Schlussfolgerung mit einem Nicken. „Ja. Aber ich wollte, dass Du wenigstens einmal an den Ort gehst, in dem Dein Vater und Deine Großmutter wie auch Dein Großvater gelebt haben. Denn die Gegend dort ist eigentlich eine sehr schöne und die meisten Einheimischen von damals haben zwischenzeitlich ja auch schon das Zeitliche gesegnet oder sind selbst von dort weggezogen. Im Grunde ist die ‚Canningham-Tragödie‘ nur noch eine überlieferte Geschichte. Viele wissen nicht einmal, wann sich das Unglück überhaupt tatsächlich zugetragen hat. Einige meinen sogar, dass sie bereits aus dem 18. Jahrhundert stammt …“, offenbarte Lindsay mit leichtem Amüsement. Isabel glaubte, sich verhört zu haben und so schaute sie auch.
„Aber irgendwie sind wir gänzlich vom eigentlichen Thema abgekommen“, stellte Lindsay auf einmal mit einem nunmehr wieder traurigen Gesicht fest. Harry atmete tief durch und sah fragend zu Isabel. Er war sich nicht sicher, ob für Isabel die ganzen Informationen nicht ein wenig zu viel wurden. Doch Isabel drückte nur seine Hand und gab ihm einen Kuss auf die Wange, ehe sie wieder aufmerksam zu ihrer Mutter schaute.
Auch Lindsay atmete noch einmal tief durch und begann von Neuem zu erzählen: „Nachdem ich wieder einigermaßen körperlich genesen war, beerdigten wir Alice am 8. April 1981, einem Mittwoch, auf dem Highgate Cemetery. Pater Pilgrim war extra aus Yarmouth gekommen, um Alice beizusetzen. Nur er, Cassandra, Dein Vater und ich standen um das kleine Grab herum. Adam fehlte, aus Rücksicht auf Deinen Vater; aber er hatte das Holzkreuz geschreinert. Die Rede vom Pfarrer war sehr würdevoll und zum Abschluss sangen wir Alice ein Schlaflied. Just in dem Moment begann es zu schneien.“
Überrascht schauten Harry und Isabel zu Lindsay herüber.
„Ja, ich weiß, das ist, glaube ich, so gut wie noch nie in England vorgekommen. Es waren auch nur wenige, vereinzelte, kleine weiße Flöckchen. Sie fielen ganz sachte und langsam zu Boden. Cassandra meinte immer, dass Alice uns einen letzten Gruß damit überbringen wollte.“ Harry und Isabel bekamen sogleich eine Gänsehaut und drückten sich gegenseitig fest die Hand. „Anschließend setzte ich den Teddy auf das Grab. Es war mein eigener Teddy, den ich einmal von meiner Mutter bekommen hatte. Es sollte ihr kleiner Freund sein, der sie auf ihrer Reise in eine bessere Welt begleitete“, sagte Lindsay leise. Unweigerlich stiegen Isabel erneut die Tränen in die Augen und sie schluckte schwer. „Du musst nicht weinen. Denn dort, wo Alice jetzt ist, geht es ihr besser. Und ich denke, dass sie jetzt gerade in diesem Moment mit ihren Großeltern auf einer großen Wolke sitzt und in Gedanken bei uns ist“, versuchte Lindsay ihre Tochter zu trösten.
Isabel konnte trotzdem ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und fragte: „Mum, wie kannst Du so ruhig dasitzen und sogar lächeln, wo mir nur noch zum Heulen zumute ist?!“
„Kind, das liegt daran, dass ich nicht an das traurige Erlebnis, was mir zuteilwurde, denke, sondern mir viel lieber vorstelle, wie gut es Alice jetzt hat! Ich weiß, dieser Rat ist nach so kurzer Zeit für Dich noch nicht umsetzbar. Aber für die Zukunft hilft er Dir sicherlich. Mir hat damals Cassandra diesen Rat gegeben: Man soll an das Schöne denken und die grauen Wolken hinter sich lassen. Ich habe mich damals zwar nicht eingeschlossen, so wie Du es getan hast. Aber ich habe auch stundenlang nur dagesessen und habe um meine kleine Tochter geweint. Vor allem, weil Dein Vater keine wirklich große Stütze war. Nachdem er der Küste den Rücken gekehrt hatte, fand er nach recht kurzer Zeit seine Berufung als Fernfahrer: Dort konnte er ebenfalls stundenlang allein unterwegs sein. Zwar nicht auf dem Wasser, aber auf kilometerlangen Asphaltstraßen. Er und sein Truck!“
„Das heißt, Du warst die ganze Zeit allein?!“, hakte Isabel entsetzt nach.
Lindsay seufzte. „Ja, so ist es. Dein Vater war auch seit der Beerdigung nicht mehr auf dem Friedhof. Und ich muss gestehen, ich auch schon eine ganze Weile nicht mehr; was seit meiner Querschnittslähmung