Lena Knodt

Blackwood


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Vor allem ihr als Frau würden viele keine Gnade entgegenbringen. Aber sie konnte einfach nicht anders. Das Ziehen in ihren Bauch wurde so stark, dass sie nicht widerstehen konnte. Wie ein unstillbarer Durst, ein maßloses Verlangen.

      Also ignorierte sie den Einwand ihres Bruders, warf einen Blick über die Schulter und rannte los. Hinter sich hörte sie ihn entnervt aufstöhnen, aber er folgte ihr trotzdem.

      An der Treppe angekommen, rannte sie die ausgetretenen Stufen hinunter, riss die Tür auf und stolperte ins Dunkle. Dann wies sie sich selbst zur Vorsicht. Jack schloss hinter ihr langsam die Tür.

      Verdammt, es war wirklich dunkel. So dunkel, dass Lively erst einige Sekunden bewegungslos stehenblieb, bis sich ihre Augen so weit an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, dass sie den Schemen des fensterlosen Ganges erahnen konnte.

      Lively tastete sich vor und langte wie automatisch nach dem Griff der ersten Tür, der ihr zwischen die Finger kam. Verschlossen. Frustriert rüttelte sie daran und ließ ihn dann los.

      »Was nun? Willst du ...« Ein ohrenbetäubendes Brüllen erschütterte den ganzen Gang und übertönte Jacks letzte Worte. Lively zuckte zusammen und wich von der Tür zurück, die sie zuvor hatte öffnen wollen. Es war ein grausames Geräusch, langgezogen und heulend, doch gleichzeitig so tief, dass der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Es erzitterte in jedem ihrer Knochen. Sie starrte nur die Tür an, unfähig zu atmen, unfähig, sich zu bewegen.

      Jack reagierte geistesgegenwärtiger als sie. Grob packte er sie am Arm und zerrte sie zu einem breiten Besenschrank einige Meter weiter. Er riss die Tür auf, schubste sie hinein und folgte ihr dann nach.

      Das Brüllen ließ nach und hinterließ nichts als beängstigende Stille, in die ihr lautes Keuchen scharf hineinstach. Sie spürte Panik in sich aufsteigen. Aber sie musste sich wieder beruhigen.

      »Leise!«, zischte Jack. Lively spürte, wie sich ein Arm um ihre Schulter schlang und sich seine Hand sanft, aber bestimmend auf ihren Mund und ihre Nase legte.

      Schritte.

      Schwere Schritte von dick bestiefelten Füßen. Sie kamen näher. Schnell, aber nicht gehetzt.

      Sie liefen an ihnen vorbei und in Richtung der Tür, aus der dieses bestialische Brüllen geklungen war. Dort verharrten sie für einige Sekunden.

      »Na, aufgeregt?« Die Stimme klang beinahe sanft.

      Livelys Herz pochte immer noch schnell, aber Jacks Handfläche dämpfte die Geräusche ihres Atems. Der Mann im Gang schien nicht im Traum daran zu denken, dass jemand hier eingedrungen sein könnte. Genau das war wohl ihre Rettung.

      Hitze stieg ihr den Hals hinauf. Es war so verdammt eng in diesem Schrank. Ihr Rücken war hart gegen Jacks Brust gepresst. Mit der freien Hand streichelte er beruhigend über ihre Schulter.

      Sie hörten das Schaben einer Tür. Dann fiel sie ins Schloss.

      Langsam stieß Jack die Luft durch die Nase aus, schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Hinterwand des hölzernen Schrankes. Dann löste er die Finger von Livelys Mund und ließ die Hand zu Boden sinken.

      »Was war das?«, fragte Lively halblaut. Ihre Stimme zitterte und sie räusperte sich.

      Jack antwortete nicht. Sein Arm war irgendwo hinter ihrem Rücken eingeklemmt und sein Fuß steckte in etwas Weichem, wahrscheinlich in einem Haufen Putzlumpen. Die Schritte waren schon lange verklungen und trotzdem traute er sich nicht, die Schranktür auch nur einen Spalt breit zu öffnen. Das hier waren definitiv genug Abenteuer für die nächsten Jahre gewesen.

      »Jack«, murmelte Lively. »Meinst du, sie halten hier unten wilde Tiere?«

      »Ich habe keine Ahnung.« Er stöhnte und drehte sich so, dass Livelys Haare ihn am Kinn kitzelten. Er schaute auf sie hinab – oder besser gesagt dorthin, wo er ihr Gesicht vermutete. Seine Stimme wurde leiser, eindringlicher, und er lehnte sich noch ein Stück näher an seine Schwester heran, in der Hoffnung, sie mit seinen Worten zu erreichen. »Wir sind in ein Haus eingebrochen, Liv. Wir verstecken uns gerade in einem fremden Besenschrank. Das hat doch nichts mehr mit unserem Vater oder unserer Herkunft zu tun. Für uns gibt es jetzt keinen anderen Weg als hinaus aus dieser Tür und hinaus aus diesem Haus.«

      Lively schnaubte und Jack presste die Lippen aufeinander. Er hasste dieses Schnauben. Gott, er hasste es so sehr.

      »Ich mache nicht mehr mit«, zischte er, bevor sie ihn wieder mit ihren Worten um den Finger wickeln konnte. Mit der Hand, die sich sowieso halb um den Körper seiner Schwester geschlungen war, packte er ihre Schulter.

      »Schön«, entgegnete Lively schnippisch und entwand sich seinem Griff so weit, wie es eben ging, ohne die Tür aufzustoßen. »Dann mache ich ohne dich weiter. Ich war von Anfang an bereit, allein in diesen Zug zu steigen.«

      Jacks Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, denn er wusste, dass sie recht hatte. Egal, was er tat oder sagte, Lively würde weitermachen. Und dieser Gedanke bereitete ihm so Bauchschmerzen, dass er sie am liebsten gepackt und zurück nach Hause geschleppt hätte. Aber das schaffte er ohnehin nicht. »Mach, was du willst«, sagte er und verlieh seiner Stimme alle Kälte, zu der er fähig war. Aber er war wütender auf sich selbst als auf sie. Wieso hatte er nicht gleich die Reißleine gezogen, sondern sich von seiner Neugierde hierherlocken lassen?

      Lively starrte ihn ein paar Sekunden lang an. Trotz der Dunkelheit spürte er ihren Blick förmlich auf seiner Wange brennen. Dann stieß sie die Tür auf und stakste aus dem Schrank hinaus in den spärlich beleuchteten Flur. Sie klopfte ihre Kleider aus und richtete sich auf. Dann erstarrte sie, weitete die Augen und fixierte einen Punkt hinter dem Schrank den Gang weiter entlang.

      »Guten Abend.«

      Jack stolperte nach draußen und sprang schützend vor seine Schwester. Auffordernd starrte er dem Mann entgegen, der sie mit hinter dem Rücken verschränkten Armen betrachtete. »Wir wollten gerade gehen.«

      »Wolltet ihr das? Deine Frau ist da wohl anderer Meinung. Zumindest, wenn ich euer Gespräch richtig mitbekommen habe.« Er hob langsam eine Braue unter dem dichten schwarzen Haar. Irgendwie kam er Jack bekannt vor, doch er konnte nicht sagen, woher. Vielleicht war er ihm heute im Dorf begegnet oder ... im Wirtshaus!

      »Du!« Nun hatte auch Lively ihn erkannt. »Adrian, nicht wahr?«

      Der Angesprochene zuckte beim Klang seines Namens zusammen und verengte die Augen. »Du bist diese Verrückte, die mich vor dem Hungrigen Raben angesprochen hat. Die Sagensammlerin.« Langsam legte er den Kopf schief und sah sie nachdenklich an. »Du hast mich ausgehorcht. Wieso? Was wollt ihr hier? Uns bestehlen? Auf eigener Faust nach den Geschichten dieses Hauses suchen?«

      »Wir haben uns nur verirrt«, entgegnete Jack in Ermangelung einer anderen Ausrede. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt. Sie mussten hier verschwinden, so schnell wie möglich. Er hielt sein Gegenüber fest im Blick und je mehr sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, desto schärfer nahm er die Gesichtszüge wahr.

      »Ist das so?« Der Mann trat einen Schritt auf sie zu und Jack baute sich weiter vor seiner Schwester auf. Er hasste es, dass dieser Adrian seine Hände weiter hinter dem Rücken verschränkt hatte.

      Lively trat einen Schritt zur Seite und schob seinen Arm weg, sodass sie neben ihm stand. »Hör zu, Adrian.«

      Der klare Blick des Mannes legte sich nun auf Jacks Schwester. Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen. Adrian schien nicht wirklich wütend über ihren Einbruch zu sein. Trotzdem entspannte sich Jack nicht. »Es gefällt mir nicht, dass du meinen Namen kennst, aber ich nicht euren«, sagte Adrian.

      »Den verraten wir sicherlich nicht dem Mann, in dessen Haus wir gerade eingebrochen sind«, entgegnete Lively trocken. Jack presste die Lippen zusammen. Konnte sie nicht einmal ihre Klappe halten? Sie spielte gerade mit ihrem Leben.

      Adrian lachte leise. »Verständlich.«