Lena Knodt

Blackwood


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Gefühl, Finsternis würde sie umgeben.

      »Edith Blackwood«, sagte Jack leise und ging die Reihe entlang, den Blick auf die Inschriften geheftet.

      Lively schlug die andere Richtung ein, setzte einen Fuß vor den anderen und folgte der Linie der Gräber. Murmelnd bewegten sich ihre Lippen, als sie die Namen vorlas. Die Daten. Sie zwang sich dazu, die Geburtsjahre nicht von den Sterbejahren abzuziehen, denn aus Erfahrung wusste sie, dass das einem nur die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen führte.

      Am Ende der Reihe hab es ein Grab ohne Namen. »Timothy« stand darauf geschrieben, in dicken Buchstaben. Darauf nur ein Jahr, vermutlich das Jahr seines Todes. Es war das Geburtsjahr von ihr und ihrem Bruder. Ein kalter Schauer lief Lively den Rücken hinab, doch sie schalte sich gleich innerlich dazu, die Nerven zu bewahren. Ein Jahr war lang und das hier sagte gar nichts aus.

      »Ich habe es gefunden!« Jacks Ruf hallte zu ihr herüber und sie wandte sich von dem viel zu nackten Grabstein ab. Mit schnellen Schritten schlängelte sie sich durch die Gräber auf ihren Bruder zu, der in der Mitte des Friedhofs stand und auf sie wartete. Er hatte den Hut abgenommen und drehte ihn in seinen Händen. Schweigend nickte er zu dem Grabstein vor seinen Füßen.

      »Edith Blackwood«, murmelte er. »Gestorben vor zehn Jahren.«

      »Sie wurde sechzig Jahre alt«, vervollständige Lively. Sie hockte sich hin und musterte die Ruhestätte genauer. Es war irgendein Naturstein. Die Buchstaben waren nicht ganz sauber hineingemeißelt. Das Wiesenstück vor dem Stein war von flachen Kieselsteinen eingerahmt und ein vertrockneter Blumenstrauß lag darauf.

      »Sie scheint nicht sonderlich viele Verehrer in diesem Dorf zu haben.« Jack hockte sich neben sie und stupste den Blumenstrauß an.

      Wortlos erhob sich Lively und umrundete den Stein. Was sie dort sah, ließ sie erstarren. »Ganz im Gegenteil, befürchte ich«, murmelte sie. Auf der Rückseite prangten Worte, die in den Stein geritzt und mit rotbrauner Farbe noch einmal hervorgehoben worden waren. Unsauber, als hätten die Täter unter Zeitdruck arbeiten müssen.

      »Teufelspack«, las Jack vor, als er sich neben Lively gesellt hatte. »Ganz schön harte Worte auf heiligem Boden.«

      »Was auch immer unser Vater getan hat, es scheint auf sie abgefärbt zu haben. Vielleicht haben sie auch zusammengearbeitet.«

      »Das glaube ich nicht«, warf Jack ein. »Jedenfalls nicht aktiv. Aileen hasst unseren Vater, aber von Edith hat sie mit Respekt gesprochen.«

      Lively nickte. Sie war froh, dass ihr Bruder mitgekommen war. Er war schon immer der Klügere von ihnen gewesen.

      Jack sah sie von der Seite her an und sie spürte seinen warmen Blick auf ihrer Wange. »Aber wahrscheinlich hat Aileen recht«, fuhr er fort. »Wir sollten in diesem Dorf nicht damit hausieren gehen, von wem wir abstammen.«

      Lively lachte schnaubend. »Zum Glück haben wir ja noch einen anderen Nachnamen.« Aber eigentlich war ihr nicht nach Humor zu Mute. Die Anspannung in ihr wuchs nur weiter, je mehr halbgare Informationen sie bekam. Es war fast beängstigend, wie sehr sie dieser Drang immer mehr einnahm und sie so reizbar machte, dass sie Aileen eben am liebsten ins Gesicht gesprungen wäre. Aber Jack wollte sie davon nichts sagen, er machte sich ohnehin genug Sorgen.

      Sie schaute zum Himmel, der von dunkelgrauen Wolken verhangen war, als würde auch an ihnen der Kohlestaub kleben. Es war kalt und sie brauchte dringend ein Dach über dem Kopf und etwas im Magen.

      Zwei Straßen weiter gab es eine kleine Wirtschaft mit dem einprägsamen Namen »Zum hungrigen Raben«. In Ermangelung einer anderen Idee blieben sie vor der Tür mit dem wetterschiefen Schild stehen und traten ein.

      Der Schankraum war winzig, nur drei Tische drängten sich unter drei kleine Fenster. Hinter einer hölzernen Theke stand ein bärtiger Mann und polierte Gläser.

      »Wer seid ihr?«, fuhr er sie an.

      »Zwei Reisende, die hoffen, hier eine warme Suppe zu bekommen. Oder ist das keine Wirtschaft?«

      Der Mann musterte sie einige Sekunden lang, dann schnaubte er wieder. »Setzt euch.«

      Jack steuerte auf den Tisch neben der Tür zu.

      »Nicht da«, ranzte der Wirt. »Da hinten.« Mit dem Polierlappen deutete er auf den Tisch in der hintersten Ecke. Jack warf Lively einen vielsagenden Blick zu, verdrehte leicht die Augen und ging dann auf den Tisch zu, um sich an ihm niederzulassen.

      Lively schälte sich aus ihrem Mantel, hing ihn über die Lehne und nahm ihrem Bruder gegenüber Platz. »Wie liebevoll.«

      Ein Lächeln umspielte Jacks Lippen. »Dörfler eben.« Sein Blick zuckte in Richtung Theke, um sich zu vergewissern, dass der Wirt sie nicht belauschte.

      Doch dieser hatte ihnen betont den Rücken zugedreht und polierte weiter seine Gläser. Lively wusste nicht, ob er ihren Wunsch nach Suppe ignorierte oder im hinteren Raum jemand in der Küche stand, der sie gehört hatte.

      Sie legte die Hände flach auf den Tisch und atmete langsam aus. »Wir müssen überlegen, wie wir jetzt weiter vorgehen. Wir wissen nicht viel mehr als vorher.«

      Jack fuhr sich durch das Gesicht, über die Nase und das unrasierte Kinn. »Vielleicht sollten wir einfach auf Aileen hören.« Seine Stimme klang unsicher. Halbherzig, als wäre er von seinen eigenen Worten selbst nicht überzeugt.

      »Was meinst du?«

      »Vielleicht sollten wir es einfach auf sich beruhen lassen und gehen.«

      Lively schnaubte. »Ist das dein Ernst?«

      Ihr Bruder hob die Schulter. »Ich weiß es nicht. Aber ich habe keine Lust, mich in Dinge zu verstricken, die ich später bereuen werde.«

      Ein Lächeln hob Livelys Mundwinkel und wieder einmal wurde ihr bewusst, wie unähnlich sie sich waren. Denn sie hatte verdammt große Lust, sich in Dinge zu verstricken, selbst wenn sie sie später bereuen würde. Zum Glück wusste sie genau, welche Knöpfe sie bei ihrem Bruder drücken musste, um ihn zu überzeugen. »Wenn wir jetzt gehen, wird uns die Neugierde irgendwann umbringen. Wir sind hier in der Stadt, in der unser Vater gelebt hat und wahrscheinlich auch unsere Mutter. Hier sind sie gewandelt, hier haben sie gewohnt. Vielleicht haben sie auch mal an diesem Tisch gesessen und sich über den unsäglich unfreundlichen Wirt beschwert.« Sie lächelte. »Jacky, jeder Mensch will wissen, wo seine Wurzeln sind. Auch du.«

      Die Miene ihres Bruders verdüsterte sich. Doch als er nach ihrer Hand griff, wusste sie, dass sie ihn hatte. »Wir brauchen das nicht, Liv. Wir haben doch uns.«

      »Bitte Jack, tu es für mich. Lass uns hierbleiben. Nur zwei Tage.«

      Jack stieß langsam die Luft aus. »Zwei Tage. Aber wenn wir dann nichts gefunden haben, reisen wir ab.«

      »Natürlich.« Lively lächelte. Sie fühlte sich nur kurz schlecht bei dieser Lüge.

      »Und was hast du nun vor? Unsere einzige Spur führte uns gegen die Mauern von Aileens Schweigen. Ediths Grab hat uns gezeigt, wie verhasst die Blackwoods hier sind und wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, dass jemand im Dorf uns Auskunft geben wird.«

      Lively lächelte. »Es wird jemanden geben, der darüber redet. Menschen sind nicht nur sensationsgierig, sondern auch heiß darauf, über andere zu tratschen.« Sie fuhr mit den Fingern die grobe Maserung des Tisches nach und warf einen Blick über die Schulter. »Wir müssen nur die richtige Person finden. Eine Person, die einmal angelockt redet wie ein Wasserfall.«

      Jack straffte die Schultern und trommelte dann mit den Fingerkuppen auf dem Tisch. »Und wo finden wir diese Person?« Er schaute zur Theke. »Ob der Wirt uns wirklich ignoriert? Vielleicht solltest du meinen Geldbeutel auf den Tisch legen.«

      In diesem Moment wurde die Tür mit einem Knall aufgestoßen und kalter Wind wehte hinein. Sie hörten Lachen und eine laute und aufdringliche Stimme. Der Wirt richtete sich auf und tatsächlich zeigte sich etwas auf seinem Gesicht, das entfernt an ein Lächeln erinnern könnte.

      Drei Männer