Lena Knodt

Blackwood


Скачать книгу

hatte nichts, so lange sie nicht heiratete. Ein kleiner Teil von ihr klammerte sich an die Hoffnung, dass sich das ändern würde, wenn sie herausfand, wo sie herkam. Wenn sie wusste, wer ihre Eltern waren – vielleicht wusste sie dann endlich, wer sie selbst war.

      Ihr Bruder lehnte sich zurück, nahm endlich den lächerlichen Zylinder ab und platzierte ihn vor sich auf dem Tisch.

      »Also willst du jetzt die restliche Akte sehen?«, fragte Lively.

      »Ich würde es lieber aus deinem Mund hören.«

      Lively schmunzelte und hob die Hand wieder auf den Tisch, die bereits zu ihrer Tasche gewandert war. »Sehr viele Informationen gibt es leider nicht. Der Name unserer Mutter fehlt, aber der unseres Vaters ist vermerkt.«

      »Blackwood«, flüsterte Jack.

      »Ezra. Ezra Blackwood.«

      »Ezra?« Jack runzelte die Stirn. »So einen Namen habe ich noch nie gehört.«

      »Er ist hebräisch.« Nun zog Lively doch die Mappe hervor und legte sie flach vor sich auf den Tisch. »Ich habe mich ein bisschen umgehört.«

      »Also war unser Vater Jude?«

      Sie schüttelte den Kopf. »In der Akte steht, dass wir Christen sind. Vielleicht waren unsere Großeltern nur experimentierfreudig, was die Namen ihrer Kinder anging.«

      »Ihrer Kinder?« Jack lehnte sich vor. »Das heißt, dass unser Vater Geschwister hatte?«

      Lively musste ein Lächeln unterdrücken. Es machte ihr Spaß, sich von Jack jede Information einzeln entlocken zu lassen. Das war die Rache dafür, dass er anfangs gar nicht hatte wissen wollen, was in der Akte stand.

      »Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Hier sind zwei weitere Namen vermerkt.« Sie schlug die Mappe auf und blätterte, bis sie die entsprechende Stelle fand. Schnell fuhr sie mit dem Finger die Zeile hinab und verharrte unter den entsprechenden Worten.

      »Einmal Milla Herrins, die Frau, die uns ins Kinderheim gebracht hat.« Sie hob den Blick. »Schwester Josepha meinte, dass es eine Haushälterin oder ein Zimmermädchen gewesen sein musste. Als du weg warst, habe ich mich noch ein wenig mit ihr unterhalten.«

      »Und der andere?«

      »Edith Blackwood.« Lively schaute wieder hinab. »Und bei ihrem Namen ist die Adresse vermerkt, die wir zuerst aufsuchen werden.«

      »Edith Blackwood«, murmelte Jack. »Wer mag sie wohl sein? Unsere Tante? Oder eine entferntere Verwandte?«

      Lively lächelte beim Anblick ihres Bruders. Sie wusste, dass sie ihn spätestens jetzt am Haken hatte. Jack liebte die Abenteuer, die er in seinen Romanen erlebte, aber am meisten liebte er Kriminalgeschichten. Und was war besser, als eine Kriminalgeschichte, die das echte Leben schrieb?

      »Was steht da noch?«, fragte Jack, als Lively die Akte zuschlug. »Komm schon. Das kann doch nicht alles gewesen sein.«

      »Leider doch, Herr Kommissar.« Sie ließ die Mappe wieder in ihrer Tasche verschwinden. Sie lehnte ihren Kopf an die Scheibe der Eisenbahn und schaute hinaus in die Landschaft. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Geräusche des Zugs, das gleichmäßige Ruckeln unter ihnen und das hohe Quietschendes aufeinandertreffenden Eisens.

      »Das meinst du nicht ernst«, entgegnete Jack und verschränkte die Arme. »Gib mir die Akte.«

      »Glaub mir ruhig.« Sie legte eine Hand auf ihre Tasche.

      Glücklicherweise kam gerade in diesem Moment der blonde Schaffner, der sie mit missbilligendem Blick musterte. »Wohin geht die Reise?«

      »Westingate«, antwortete Lively und griff schnell nach der kleinen Geldbörse, in der sie die geklauten Münzen von Jack aufbewahrte. Mit einem entschuldigenden Blick in Richtung ihres Bruders bezahlte sie ihre beiden Karten und sah dann dem Schaffner hinterher, der sich aus ihrem Abteil entfernte.

      »Ich wusste nicht, wo ich sonst Geld herbekommen sollte«, sagte sie und schenkte ihn ein Lächeln, das ihn versöhnlich stimmen sollte.

      Doch trotz seiner in Falten gelegten Stirn sah sie an seinen zuckenden Mundwinkeln sogleich, dass er ihr nicht böse war.

      »Es sind etwa zwei Stunden bis nach Westingate«, sagte Lively, froh, das Thema auf etwas anderes lenken zu können. Geld war ihre Schwachstelle.

      Jack nickte. Dann schaute er aus dem Fenster. »Ich habe ewig in keinem Zug mehr gesessen. Das letzte Mal als ...«

      »Ich weiß, Jacky«, unterbrach sie ihn.

      Ihr Bruder lächelte. Die Haare hingen ihm durcheinander ins Gesicht, plattgedrückt von dieser Kopfbedeckung, die er dauerhaft trug, obwohl Lively ihm schon hunderte Male gesagt hatte, dass er dafür viel zu jung war. Ein seliger Ausdruck lag auf seinen Zügen. Lively betrachtete ihn und Wärme breitete sich in ihrer Brust aus.

      Eins wusste sie: Auch wenn er es immer war, der sie beschützen wollte, so war es in Wirklichkeit andersherum. Denn er war es, der beschützt werden musste.

      Jack hatte nie viele Gedanken an den Ort verschwendet, an dem er geboren worden war. Es hatte ihn nie interessiert – und doch war es ein merkwürdiges Gefühl, nun hier zu stehen, den davonfahrenden Zug im Rücken.

      Dunkel, war das erste Wort, das ihm in den Sinn kam. Die Häuser waren klein, eng aneinandergepresst. Der Bahnhof lag etwas weiter oben, sodass sie einen guten Blick auf die Kleinstadt hatten. Vier Laternen säumten den gepflasterten Weg, der bereits nach wenigen Metern in festgetretene Erde überging.

      Der dichte Wald im Hintergrund dominierte das Bild, nur durchbrochen von einer spitz zulaufenden Senke, in die sich die Häuser schmiegten. Er fragte sich, wieso dieses Dorf überhaupt einen eigenen Bahnhof hatte. Ein auf einem Abstellgleis geparkter Güterwaggon lieferte ihm die Antwort, gepaart mit dem schwarzen Staub, der auf dem Pflaster haftete: In der Nähe musste es eine Kohlemiene geben.

      Über die Hausdächer hinweg erkannte Jack den zackigen Turm einer Kapelle, aber abgesehen davon glich jedes Haus dem anderen. Grau in Grau duckten sie sich nebeneinander. Die Sonne war bereits aufgegangen und die Arbeiter schienen bereits das Dorf verlassen zu haben, denn die Straßen wirkten wie leergefegt.

      Jack klopfte sich den Staub vom Mantel und rückte seinen Hut zurecht. Lively ging bereits los in Richtung der Häuser und drehte sich nach wenigen Schritten ungeduldig zu ihm herum. »Kommst du?«

      Jack nickte. »Also gehen wir zuerst zu dieser Edith Blackwood?«

      Lively bedachte ihm mit einem strengen Blick und schaute sich um. Neben den Gleisen standen ein Mann und eine Frau, die sie mit skeptischen Blicken musterten.

      Ein etwas breiterer Weg schlängelte sich vom Bahnhof fort hinein in das bedrückende Dorf. Die Luft war kühl und sauber, kein Qualm erschwerte das Atmen und keine Fabrikschornsteine verschmutzten den Himmel. Dafür stank es unerbittlich nach Exkrementen, sobald sie zwischen die mit Mörtel zusammengeklebten Bruchsteinhäuser traten. Kohlestaub klebte an den Wänden und ließ die ganze Welt um sie herum eine Nuance dunkler erscheinen, als würde er durch eine schmutzige Brille schauen.

      Westingate stand auf dem schiefen Schild neben der Hauptstraße. In der Akte war eine Adresse zu Edith Blackwoods Haus vermerkt gewesen, aber sie fanden die Straße trotzdem nicht. Nach einigen Minuten des Umherirrens sprach Lively einen Mann an, der mit einem enormen Reisigbesen Laub vom Weg kehrte.

      »Entschuldigen Sie. Wissen Sie, wie wir zum Haus von Edith Blackwood finden?«

      Der Mann hob langsam den Kopf und musterte sie. Hinter seinem buschigen Bart waren seine Gefühlsregungen nur schwer zu erkennen. Er zwinkerte zweimal, bevor er antwortete. »Edith Blackwood, hm?« Er warf Lively nur einen kurzen Blick zu, bevor er Jack ausgiebig musterte. »Wer seid ihr?«

      »Tut das zur Sache?«, fragte Lively verärgert, doch Jack trat