Lena Knodt

Blackwood


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      Lively bearbeitete ihre Unterlippe mit den Schneidezähnen und musterte Jack, der vollkommen in das Buch in seinen Händen vertieft war. Er ignorierte sie, hob einen Finger an den Mund und befeuchtete die Kuppe mit der Spitze seiner Zunge. Dann verharrte er einen Moment, seine Augen flogen über die Buchstaben, bevor er umblätterte. Den Bruchteil einer Sekunde schweifte sein Blick nach oben und streifte sie, bevor er sich wieder den Zeilen vor ihm zuwandte. Seine Augenbraue hob sich.

      Lively beugte sich vor, stützte die Unterarme auf ihre Oberschenkel und musterte ihren Bruder weiter. Ihr Herz pochte zu schnell und ihr war so furchtbar heiß, dass sie am liebsten das Feuer im Kamin gelöscht hätte. Es prasselte unaufhörlich vor sich her und warf Schatten in dem kleinen Raum. Es war bereits dunkel draußen, nur schwach schien der Mond durch das einzige Fenster hinein.

      »Lively«, sagte er nach einer Weile ruhig, ohne aufzusehen. »Ist alles in Ordnung?«

      Ruckartig lehnte sie sich in dem ramponierten Sessel zurück, verschränkte ihre Hände im Schoß, umschloss die eine mit der anderen. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf und schweiften immer wieder zu der schwarzen Mappe. Der schwarzen Mappe, über die dringend Redebedarf bestand. Doch sie hatte ein Versprechen gegeben.

      Mit einem genervten Stöhnen erhob sie sich und streunerte durch den Raum. Nicht nur, dass sie die Papiere in dieser verdammten Mappe gelesen hatte und daraufhin den ganzen Nachmittag durch die Stadt gestreift war, sie war auch der einzigen Person über den Weg gelaufen, die sie nicht hatte treffen wollen: Randly. Diesem verdammten Bastard, mit dem sie geschlafen hatte, um bei der Armee arbeiten zu dürfen. Der ihr die Sterne vom Himmel versprochen hatte, nur damit er ihren Körper unter seinen Händen spüren konnte.

      Es war nicht so, dass sie es nicht genossen hatte. Randly war ein Soldat durch und durch. Aber sie hasste es, wenn man sie belog. Wenn sie sich wie ein naives, leichtgläubiges Mädchen fühlen musste, nur weil sie einmal Vertrauen in einen Menschen gesetzt hatte. Aber die Armee stand Frauen nicht offen, da konnte sie so viele Soldaten verführen, wie sie wollte. Sie fragte sich, wie sie nur für einen anderen Moment etwas anderes hatte denken können. Frauen gehörten in den Haushalt, arbeiteten als Dienstbotinnen oder stellten Kleidung her. Lively hasste diesen Umstand. Das war nicht das Leben, das sie sich für sich selbst wünschte. Sie wollte raus, wollte Abenteuer erleben. Aber es war, als band die Gesellschaft ihr tonnenschwere Gewichte an die Knöchel, nur weil sie eine Frau war.

      Sie trat an den Kamin und umfasste die Dose mit dem Tabak mit einer Hand. Gott, sie musste fort aus dieser Stadt. Hier war sie niemand, nur die kratzbürstige junge Frau, die ihrem Bruder auf der Tasche lag. Hier war sie ein Nichts und versank von Tag zu Tag tiefer in der Bedeutungslosigkeit.

      »Geht es dir gut?«, erklang die Stimme ihres Bruders hinter ihr. Natürlich wusste er, dass dem nicht so war. Dass sie genauso litt, wie er es vorausgesagt hatte.

      »Bestens«, presste sie hervor und drehte sich um. Sie zwang ihre Mundwinkel hoch zu einem Lächeln. »Ist dein Buch spannend?«

      »Durchschnittlich«, antwortete er und sein Blick glitt forschend über ihr Gesicht. Seine Augen blitzten. Machte er sich über sie lustig? Der Morgen war eine Folter gewesen, als er auf der Arbeit gewesen war, doch seine Anwesenheit machte alles noch schlimmer. Er hatte so recht gehabt. Ihr Blick strich über seine Züge, seine Nase und die dichten Augenbrauen, die seinem Gesicht eine markante Note verliehen. Er erwiderte ihren Blick geduldig.

      »Zwei Stunden von hier«, stieß sie hervor und hasste sich im selben Moment dafür.

      »Was?«, fragte Jack und eine seiner Brauen wanderte höher. Seine Unterlippe zuckte.

      »Sie kommen aus einem Dorf, kaum zwei Stunden entfernt von hier«, flüsterte Lively, als würde die fehlende Lautstärke ihren Worten die Bedeutung nehmen.

      Einige Sekunden lang starrte Jack sie an, dann schlug er sein Buch geräuschvoll zu. Er presste die Lippen aufeinander. »Wieso überrascht mich das nicht?«

      »Du wusstest davon?«, fragte sie, wandte sich ihm vollständig zu.

      Jack schnaubte. »Als ob. Es überrascht mich nicht, dass du es ausgeplaudert hast. Das passt zu dir.«

      Kurz wallte Wut in Lively auf, die sie jedoch schnell wieder unterdrückte. Wenn dieses Gespräch in einen Streit ausartete, würde er ihr nie zuhören, geschweige denn die Mappe anschauen. »Du musst es wissen«, sagte sie nur. »Glaub mir. Wenn du wüsstest, was ich weiß, würdest du mir zustimmen.« Sie überwand den Abstand zwischen ihnen und umgriff die Handgelenke ihres Bruders. Er versuchte, sich ihr zu entziehen, gab sich jedoch nicht genug Mühe. Einige Sekunden hielt sie ihn fest, bis er die Gegenwehr einstellte, dann schaute sie hinauf in sein Gesicht. Hinter seinen hellgrauen Augen tobte ein Sturm, den sie selbst ausgelöst hatte. Sie war sich sicher, dass es hinter ihren genauso aussah. Diesen Sturm teilten sie sich - und das nicht nur in den letzten Tagen.

      »Jack«, wiederholte sie und dämpfte ihre Stimme. »Hör mir zu. Ich brauche dich. Ich muss es dir erzählen.« Damit hatte sie ihn. Jack musterte sie und seine Züge wurden weich. Kurz hasste sie sich dafür, seine Gefühle so gegen ihn auszuspielen, doch ihre Worte waren nicht gelogen.

      Sanft löste er seine Gelenke aus ihrem Griff und strich ihr abwesend über den Handrücken. Dann ließ er sich mit einem Stöhnen in seinen Sessel sinken. Tiefe Falten durchzogen seine Stirn. »In Ordnung. Sag es mir.«

      Lively lächelte halb und setzte sich ihm gegenüber. »Sie wohnten in einem kleinen Dorf namens Westingate.«

      »Wohnten?«, wiederholte Jack. Er verzog keine Miene, doch seine Stimme klang tonlos.

      »Sie sind tot.« Lively nickte. »Sie waren es bereits, als wir im Kinderheim abgegeben wurden.« Die Worte lösten in diesem Moment dasselbe in ihr aus, wie in dem Moment als sie sie gelesen hatte: Gar nichts.

      Jack nickte. Langsam lehnte er den Kopf auf die eine Seite. Doch auch er wirkte nicht sonderlich schockiert. Lively glaubte zu wissen, was er dachte. Vielleicht ist es besser so. Das wäre es auch, wenn die Geschichte an diesem Punkt zu Ende wäre. »Es steht nicht viel in der Akte. Wir wurden im Alter von fünf Monaten bei der Kirche abgegeben. Man legte uns nicht einfach auf der Schwelle ab, sondern eine Frau brachte uns her, sie war jedoch nicht mit uns verwandt. Niemand suchte uns danach noch auf. Niemand fragte nach uns.«

      »Weiter?« Jack beugte sich vor. Seine Miene zeugte von Skepsis, doch es schien, als überwog nun die Neugierde. Mit der Spitze der Zunge befeuchtete er seine Lippen.

      Lively hob zögerlich die Schultern. »In der Akte steht der Name unseres Vaters.«

      Er schloss die Augen und stieß langsam die Luft aus. »Sein Name?«, flüsterte er. Dann öffnete er die Augen und sah sie flehentlich an.

      Livelys Mundwinkel zuckten. »Es ist nur sein Name. Nur ein Name, den ich selbst noch nie gehört habe. Wenn wir dieser Sache nicht nachgehen, bedeutet er nichts.«

      »Er bedeutet alles«, entgegnete Jack.

      Kurz biss sie sich auf die Lippe, doch ließ sie gleich darauf wieder los. »Blackwood.«

      Jack schluckte und schüttelte den Kopf. Der Blick in seinen Augen war trüb.

      »Aber es scheint, als haben wir noch Verwandte, nicht weit von hier. In Westingate, dem Dorf, in dem wir geboren wurden. Vielleicht können sie uns unsere Fragen beantworten und uns sagen, woran unsere Eltern starben ...«

      »Liv, ich weiß nicht ob das eine gute Idee ist.«

      »Stell dir vor, Jacky! Wir haben vielleicht Geschwister oder Großeltern! Vielleicht auch ein Zuhause!«

      »Liv!«, unterbrach sie Jack energischer. Bedauern stand in seiner Miene und er überlegte lange, bevor er die Worte wählte. »Wir wurden in ein Kinderheim gegeben. Das wird einen Grund gehabt haben und bedeutet sicher nicht, dass da irgendwo unbekannte Verwandte auf uns warten und uns herzlich willkommen heißen werden.«

      »Wir