Lena Knodt

Blackwood


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seiner Selbstbeherrschung konnte tödlich sein.

      Er drehte sich um und schritt in die Mitte des Raumes bis an den Teppich, auf dem ihr kalter Leichnam lag.

      Reine Schönheit. Die Konturen, ihre weiche Haut. Perfektion, nur zerstört von ihrem starren Blick, den panisch aufgerissenen Augen. Von dem Blut in ihrem Haar. Und von der zerfetzten Kehle.

      »Und so geht es zu Ende, Röschen«, flüsterte Ezra. Jedes Wort kratze in seinem Hals. Die Erinnerung drohte, ihn jeden Moment zu überwältigen. Aber er war standhaft. Und er hatte sich daran gewöhnt.

      Ein Blick auf seine Taschenuhr verriet ihm, dass es kurz vor Mitternacht war. Schnell warf er seinen Mantel über und wollte nach dem Zylinder greifen, bevor er verharrte. Es war ihm, als spürte er ihren Blick im Nacken. Brennend, vorwurfsvoll. Er wusste nicht, was ihn dazu verleitete, aber am Ende stieg er ohne Kopfbedeckung hinab und verließ das Haus.

      Der Garten war im grausigen Licht des Mondes nichts als ein Meer aus Schatten. Bedächtig ging er weiter. Seine Schritte das einzige Geräusch in der stillen Nacht.

      Er sah seinen Freund schon von weitem. Er stand auf dem gepflasterten Platz vor dem Brunnen und hatte ihm den Rücken zugewandt. Als Ezra einige Meter von ihm entfernt stehen blieb, drehte er sich um. Auf seinen Lippen ein Lächeln, das seiner sonstigen Erscheinung nicht entsprechen wollte. Sein Mantel war leicht geöffnet und ein weißes, zerknittertes Hemd schaute daraus hervor. Er war unrasiert, seine Tränensäcke angeschwollen. Eine Hand hatte er halb hinter dem Rücken versteckt und ... Ezra erstarrte.

      »Du bist gekommen«, sagte sein Freund. Langsam hob er die Hand und richtete den Lauf der Pistole zitternd auf das Gesicht seines Gegenübers. »Wo ist sie?«

      »Was soll das?«, fragte Ezra. Die Mündung der Pistole übte eine seltsame Faszination auf ihn aus. Er musste sich zwingen, seinem Freund ins Gesicht zu sehen und nicht auf das verheißungsvolle schwarze Rohr der Waffe.

      »Du weißt, dass es besser so ist.«

      Ezra sah, dass die Stirn seines Freundes nass von Schweiß war.

      Wut stieg in ihm auf, Wut über diese Dummheit. Sein Freund wusste genau, dass eine Kugel ihn nicht besiegen konnte.

      Unter seinen Fingerkuppen begann es zu kribbeln. Langsam breitete es sich aus, über die einzelnen Glieder bis in die Handflächen. Er wollte es unterdrücken, aber gleich darauf gab er auf. Nicht heute. Heute hatte er keine Kraft dafür.

      Ein unangenehm drückendes Gefühl breitete sich in Ezras Kopf aus, doch er hielt seine Miene unbewegt. Es durfte nur nicht die Maske durchbrechen, die er nach außen hin aufrechterhielt.

      Dann Ruhe.

      Verharren.

      Ein Moment der Verheißung, der Hoffnung. Ein Moment des letzten Atemzugs.

      Dann explodierte es in seinem Kopf.

      In Wellen aus Hitze breitete es sich weiter aus, sammelte sich in seinem Nacken und kletterte in quälender Langsamkeit seine Wirbelsäule hinab.

      Ezras Finger verkrampften sich, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Und doch stand er aufrecht. Die Frage war nur, wie lang.

      »Blackwood«, raunte sein Freund. »Was tust du da?«

      Doch er war nicht mehr Blackwood. Nicht mehr Ezra. Und er besaß nicht mehr die Macht über seinen eigenen Körper.

      Er wurde zurückgedrängt, als sich die brennende Masse durch seine Glieder schob, sich durch seine Blutbahnen wand, bis sie zu zerplatzen drohten. Es blieb kaum mehr als ein Funke seines Bewusstseins. Und selbst um diesen Funken musste er kämpfen wie ein wildes Tier.

      Er sank auf die Knie und seine Finger bohrten sich zwischen die Bodenpflaster, sein ganzer Körper verkrampfte sich. Er hustete, Blut spritzte über den Stein.

      Dann ein Schuss.

      Mit Wucht schleuderte er ihn zurück, doch Ezra spürte keinen Schmerz. Nur Angst und Panik. Die Barriere um sein Herz zerbrach. Erst zeigten sich nur Risse, doch sie breiteten sich in rasender Geschwindigkeit aus, bis der Wall in sich zusammenstürzte.

      Nun schlugen all die Empfindungen über ihm zusammen. Es gab keinen Grund mehr, sie zurückzuhalten. Er sah wieder ihr Gesicht, blass. Ihre Lippen, grau. Die Augen aufgerissen. Augen aus Glas.

      Ein zweiter Schuss.

      Verdammt.

      Es war anders als sonst. Es fiel ihm schwerer, den Funken zu erhalten, der ihn ausmachte. Der ihn immer wieder zurückgeführt hatte.

      Es war stärker.

      Dieses Mal würde es ihn zerreißen.

      Haltlos prasselte der Regen auf den Asphalt, als hätte der Himmel beschlossen, seine Schleusen zu öffnen und all die angestaute Wut auf sie hinabzuschütten. Dicht aneinandergedrängt eilten Jack und Lively über den Gehsteig, vorbei an gewundenen Gaslaternen, bis sie das verrostete Tor erreichten.

      Es war nur angelehnt, also packte Jack das Metall und zog es auf. Sein Mantel lag schwer und von Wasser vollgesogen auf seinen Schultern. Hastig schob er sich die klatschnassen Strähnen aus dem Gesicht und trat voran durch die entstandene Lücke.

      Das Kinderheim St. Alberts lag inmitten eines kleinen Parks, in dem man den vorgegebenen Weg zwischen all den wuchernden Pflanzen und Bäumen erst suchen musste. Vor allem, da das Wetter die Sicht noch verschlechterte.

      Jack presste die Lippen aufeinander. Beklemmung ergriff von ihm Besitz. Eine Spannung, die er kannte. Ein wohlbekannter Geruch stieg ihm in die Nase. Er konnte ihn nicht benennen, ihn keinem speziellen Gegenstand oder keiner Person zuschreiben, doch er brachte die Erinnerungen zurück, als würde ihm jemand mit geballter Kraft ins Gesicht schlagen.

      Er stolperte. Er sah Frauen in dunklen Kutten. Lange Stöcke in ihren Händen. Kinderschreie. Dann Kinderlachen. Stundenlange Versteckspiele im Park, bis man nicht mehr wusste, ob die anderen überhaupt noch suchten. Eintöniges Essen in kleinen grauen Schalen. Gespräche, viele Gespräche.

      Ein kalter Raum im Keller. Ein noch kälterer Stuhl.

      »Jack?«, fragte Lively sacht und legte ihm eine Hand auf den Rücken. »Alles in Ordnung?«

      »Natürlich«, antwortete er etwas zu schnell. Er fuhr sich durch das Gesicht und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe mich nur an die Versteckspiele mit Will erinnert.«

      Lively betrachtete ihn skeptisch, fragte jedoch nicht weiter nach. Er war nur ihretwegen mitgekommen, denn eigentlich hatte er sich geschworen, nie wieder einen Fuß auf dieses Grundstück zu setzen. Doch als Lively von der baldigen Schließung ihres alten Kinderheims erfahren hatte, hatte sie ihn beinahe angefleht, mit ihr hierher zu gehen. Es wunderte ihn nicht, dass er nachgegeben hatte. Sie war schon immer seine größte Schwachstelle gewesen und würde es immer bleiben. Aber wenn er sie betrachtete, ihre vor Aufregung geröteten Wangen und ihre Hände, die sie immer wieder nervös in eine Faust zog und lockerte, bereute er es nicht. Er würde diese Erinnerungen schon überleben.

      Schweigend stiegen sie die Stufen hinauf, bis sie vor der riesigen Tür aus schwarz angemalter Eiche standen. Jack plusterte die Backen auf und hielt für einen Moment die Luft an. Seit fünf Jahren hatte er dieses Gebäude nicht mehr betreten. Doch auch wenn er es in den Momenten des Schmerzes kaum geglaubt hatte – mit den Jahren verblasste er.

      Lively drehte sich das letzte Mal mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck zu ihrem Bruder um. Die dunkelblonden Haare klebten an ihren Wangen. Dann hob sie die Hand, umfasste den Türklopfer aus Messing und schlug ihn dreimal heftig gegen das Holz.

      Stille antwortete ihnen. Einige Sekunden starrten sie auf die Tür, dann warfen sie sich einen fragenden Blick zu. Nicht einmal Schritte waren auf der anderen Seite zu vernehmen.

      »Vielleicht ist doch keiner mehr da«, flüsterte Jack.