bin mir sicher.« Sie bediente den Türklopfer ein weiteres Mal. »Ist hier jemand?«, rief sie und versuchte, einen Blick durch eines der schmutzigen Fenster zu werfen.
»Macht nicht solch einen Lärm.« Eine Stimme ließ sie herumfahren. Jack musterte die Frau, die wie aus dem Nichts hinter ihnen aufgetaucht war. Sie trug eine schwarze Kutte und die Haare unter einem Tuch zusammengefasst, auf dem Regentropfen glitzerten. »Schwester Josepha«, sagte er und seine Mundwinkel hoben sich. Die Frau musterte sie einige Sekunden lang schweigend.
»Mr. und Miss Harpins«, sagte sie und ein Meer aus Falten überzog ihr Gesicht, als sie lächelte. Trotzdem war Jack nicht sicher, ob sie sich wirklich über ihren Besuch freute.
»Schwester!« Lively schob sich an Jack vorbei und reichte der älteren Frau die Hand. Diese umschloss sie mit ihren und drückte sie. »Wir dachten schon, alle hätten das Haus verlassen. Es schließt aber doch erst Ende der Woche, oder? Jedenfalls haben sie das im Pub erzählt.«
»Dem Geschwätz kannst du nicht glauben, Liebes.« Schwester Josepha machte eine wegwerfende Handbewegung. Man konnte ihr den Missmut bei Livelys Erwähnung des Pubs deutlich ansehen. »Die Kinder sind schon Anfang der Woche in ein neues Heim gebracht worden und auch die Plünderer haben sich bereits über das Inventar hergemacht.« Sie spuckte das Wort förmlich aus, obwohl sich Jack sicher war, dass sie nicht wirklich Plünderer meinte, sondern die Angestellten der Kirche, die das Haus noch nach Nützlichem abgesucht hatten.
»Nur ich bin noch da«, fuhr sie fort, untermalt von einem langen Seufzen. »Gerade habe ich mich von dem kleinen Garten verabschiedet. Es ist ein Jammer: Jahrelang habe ich ihn gepflegt und jetzt muss ich ihn der wilden Natur übergeben.«
Jack bekam unwillkürlich Mitleid mit der untersetzen Frau, auch wenn man diesen Garten selbst mit viel Wohlwollen nicht als gepflegt bezeichnen konnte. Er lächelte Schwester Josepha schmallippig an. Dann ließ er den Blick über die von dunklen Tannen umgebenen Beete schweifen und ein weiterer Schwall von Erinnerungen überströmte ihn. Hier hatte er als Kind gespielt, hier hatte er sich manchmal stundenlang vor seinen Peinigern versteckt. Meist waren sie zu langsam und schnell gelangweilt gewesen, sodass er sich nur hinter einen Busch hatte hocken und dort für eine Zeit verharren müssen. Es hatte nicht immer geklappt, das hatten die Spuren auf seiner Haut nur zu Genüge gezeigt.
Wieder musterte Josepha sie auf merkwürdige Weise und ein Glitzern trat in ihre Augen. »Ich würde euch gerne auf eine Tasse Tee einladen, Kinder.« Es klang mehr nach einem Befehl als einer Bitte.
Jack blickte zu Lively, doch seine Schwester zögerte keine Sekunde.
»Sehr gerne, Schwester. Heute ist die letzte Gelegenheit, in der wir in Erinnerungen an die Vergangenheit schwelgen können.«
Jack verengte die Augen und starrte seine Schwester von der Seite an, doch diese ging nicht darauf ein und folgte Josepha, die unter leise murmelnden Worten das Haus umrundete. Lively packte Jack ohne einen Blick in seine Richtung am Arm und zog ihn mit sich.
»Lively, ich weiß nicht ...«
»Sei still und komm mit«, entgegnete sie und starrte auf den Boden. Jack folgte ihrem Blick und versuchte, nicht über eine der Wurzeln zu stolpern, die die Steine des Gehwegs schon vor Jahrzehnten aufgebrochen hatten. Wahrscheinlich hatte die Kirche Recht, dass sie in diesen Ort hier kein weiteres Geld investieren wollte. Er sehnte sich nach dem Sessel am Kamin, in dem nur ein gutes Buch und keine unliebsamen Erinnerungen auf ihn warteten.
Er entriss seinen Arm Livelys klammerndem Griff und zog den Kragen seines Mantels um den Hals zusammen, um sich vor aufmüpfigen Regentropfen zu schützen.
Eine kleine Tür führte seitlich in die Räumlichkeiten, die Schwester Josepha gemeinsam mit den anderen Angestellten des Kinderheims bewohnt hatte. Sie betraten den schmalen Flur, der von einer brennenden Kerze auf einem Seitentisch schwach beleuchtet wurde.
Lively schälte sich aus ihrem nassen Mantel und hängte ihn an die Halterung neben der Tür. Jack zögerte einen Moment, hätte er seinen Mantel doch lieber anbehalten, um schnellstmöglich wieder aufbrechen zu können. Doch der strenge Blick seiner Schwester zeigte ihm, dass es keine Chance auf Entkommen gab. Mit einem Seufzen legte auch er seine Jacke zur Seite, während Lively der ehemaligen Heimleiterin in die Küche folgte. Seinen Zylinder legte er darunter ab.
Jack ging auf die Tür zu, bis sein Blick an der Kerze hängenblieb. Sie flackerte wild und beschien die hölzerne Marienfigur hinter ihr beängstigend. Die Schatten im Gesicht der heiligen Jungfrau sahen aus, als würde sie schwarze Tränen weinen.
Jack erschauderte und wandte sich von der Figur ab. Seit er das Kinderheim verlassen hatte, hatte er nie wieder eine Kirche von innen gesehen.
Als er die kleine Wohnküche betrat, hatte Josepha den Feuerherd bereits mit ein paar weiteren Scheiten bestückt und eine gusseiserne Kanne auf die Oberfläche gestellt. Es roch leicht nach Kamille, einem Duft, der auch der Ordensschwester immer anhing. Jack erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie früher jedes Wehwehchen mit einem ihrer Kräuteraufgüsse behandelt hatte – von Prellungen bis Übelkeit. Das schien sich in den letzten Jahren nicht geändert zu haben, denn von der Decke hingen die verschiedensten Pflanzen getrocknet und ordentlich in kleinen Büscheln nebeneinander.
Jack zog den Kopf ein, bevor er sich seiner Schwester gegenüber an den Tisch fallen ließ. Er verengte die Augen und warf ihr einen halb scherzhaften bösen Blick zu, doch Lively verdrehte nur die ihren und grinste ihn herausfordernd an.
Josepha kehrte zu ihnen zurück, den Rücken gebeugt. Die Sorgenfalten auf ihrer Stirn verrieten, dass sie etwas beschäftigte. Mit einem energischen Kopfschütteln ließ sie sich auf dem freien Stuhl nieder. »Einfach geschlossen.« Sie senkte den Blick auf ihre Finger, die sie ineinander verschränkte. »Sie haben es einfach geschlossen. Wir sind ihnen vollkommen egal. Die Kinder sind ihnen vollkommen egal. Das Einzige, was ich bekommen habe, war ein Brief. Sie hatten noch nicht einmal den Anstand, es mir persönlich mitzuteilen.«
»Und wo werden Sie jetzt hingehen?«, fragte Jack und Mitleid regte sich in ihm. Für Schwester Josepha war dieses Kinderheim alles. Sie hatte es in jungen Jahren von ihrer Vorgängerin übernommen und es seitdem mit eiserner Hand und einiger Bestimmtheit geführt. Auch wenn er keine schöne Zeit hier verbracht hatte, hatte das sicher nicht an Schwester Josephas Engagement gelegen.
Josepha stieß einen herzzerreißenden Seufzer aus. »Ich gehe zurück ins Kloster. In mein Heimatkloster.« Ihrem Gesichtsausdruck zufolge war Heimat hier nicht mit positiven Gedanken behaftet.
»Wo liegt das?«, fragte Lively.
»In Barrytroot«, antwortete Josepha und kniff die Lippen so fest zusammen, dass alles Blut aus ihnen wich. Nun konnte Jack ihren Unmut noch besser nachempfinden. Barrytroot war eine winzige Hafenstadt, weit abgelegen und den Erzählungen nach zu urteilen der Inbegriff von Langeweile. Ein Exil, das nichts mit dem Trubel des Kinderheims gemein hatte.
»Sicherlich wird es nicht so schlimm, wie Sie denken. Sie können alte Freunde wiedertreffen und ...«
»Alte Freunde.« Schwester Josepha spuckte die Worte aus wie eine Beleidigung. »Dass ich nicht lache. Eher Speichellecker und hirnlose Gottesanbeterinnen.«
Jack stutze. Was für eine Ausdrucksweise für eine Nonne!
»Gott im Himmel! Ich war froh, ihnen und ihren beschränkten Welten entkommen zu sein. Und nun kehre ich zurück. Gescheitert.«
»Es ist doch nicht Ihre Schuld, dass das Waisenhaus schließen musste.« Lively rückte das Haarband auf ihrem Kopf zurecht. »Jeder weiß, was Sie hier für eine gute Arbeit geleistet haben.«
»Ja, das sagen sie auch. Das stand auch in dem Brief.« Sie seufzte und erhob sich, um das Teewasser vom Herd zu nehmen. »Aber in Wahrheit gibt es doch keinen anderen Grund. Ich hätte es besser machen müssen. Ich hätte es verhindern können.«
»Das wissen Sie doch gar nicht.« Lively richtete sich auf ihrem Stuhl auf. »Das kann alle möglichen Gründe haben, die Sparmaßnamen der katholischen Kirche voran ...«
Josepha hob eine