wieso nicht?«, fragte Lively. »Jacky, es geht um unsere Vergangenheit. Es geht darum, wer wir sind.« Es machte sie verrückt, dass die Chance auf die Antwort auf all ihre Fragen direkt vor ihrer Nase baumelte, der Dickkopf ihres Bruders jedoch dafür sorgte, dass sie unerreichbar für sie wurde.
»Ich weiß, wer wir sind«, entgegnete Jack mit eben der Ruhe, die sie jedes Mal schier wahnsinnig werden ließ. »Wir sind Jack und Lively Harpins. Und auch wenn nur irgendeine Behörde uns diesen Namen zugeteilt hat, kann ich damit doch mehr verbinden als mit dem Namen unserer Eltern, wenn wir ihn denn herausfinden würden. Es gibt einen Grund, wieso wir nicht bei ihnen aufgewachsen sind. Einen Grund, wieso wir hier in diesen trostlosen Wänden unsere Kindheit verbracht haben und nicht in einem behüteten Zuhause. Und egal, wie er aussieht - ich glaube, es ist mir lieber, ihn nicht zu wissen. So kann ich mir jedenfalls einbilden, dass sie dazu gezwungen waren, uns wegzugeben. Dass andere Umstände der Auslöser dafür gewesen waren und nicht ...« Er schluckte.
Seine Fassade bröckelte und Lively sah, dass ihn dieses Gespräch mehr bewegte, als er es zugeben wollte. Sanft drückte sie seine Hand. Sie kannte Jack. Er war vorsichtig, er hasste Veränderungen, aber sie wusste, dass er tief in seinem Innern genauso neugierig war wie sie. Aber wenn er der Meinung war, sie beide zu beschützen, konnte er das leicht untergraben. »Aber ich will es wissen«, sagte sie leise. »Verbau mir nicht die Chance auf meine Vergangenheit. Ich werde die Akte lesen und dir nichts davon verraten, wenn du es nicht willst.«
Jack seufzte vernehmlich und führ sich mit der Hand durch das Gesicht. Lively erkannte Ringe aus Falten um seine Augen. Wieso sah er so müde aus? »Wir beide wissen, dass du das kaum für dich behalten können wirst.«
»Ich bin kein Kind mehr, Jack«, entgegnete Lively. »Wenn ich dir sage, dass ich dir nichts verrate, dann kannst du dich darauf verlassen. Und du kannst deine Meinung jederzeit ändern.«
»Genau das macht mir ja Angst.« Er schüttelte vehement den Kopf. »Meinetwegen. Nimm die Akte, wenn es dich glücklich macht. Grabe so viel in der Vergangenheit, wie du willst und buddel alle Leichen aus, die dir zwischen die Finger kommen. Aber lass mich aus dem Spiel.« Er verengte die Augen. »Keine Andeutungen.«
»Keine Andeutungen«, echote Lively.
»Kein verräterisches Lächeln.«
»Kein verräterisches Lächeln.« Lively lächelte und verdrehte die Augen. »Manchmal denke ich, ich bin in deinen Augen immer noch das kleine Mädchen, das dir im Heim Streiche gespielt hat.«
»So ist es auch«, entgegnete Jack. Er erhob sich und musterte sie auf eine merkwürdige Art und Weise. Dann nickte er in Schwester Josephas Richtung. »Gebt ihr die Akte.«
Er drehte sich um, griff beim Hinausgehen nach Mantel und Hut und flüchtete in den Regen.
Kapitel 3
Jack setzte sich im Gehen den Zylinder auf den Kopf und zog die Krempe tief über seine Augen. Das Herz wummerte in seiner Brust und die Gefühle, die in ihm tobten, waren ihm vollkommen fremd.
Seine Schritte gingen im Prasseln des Regens beinahe unter. Er spürte, wie die Feuchtigkeit unter seinen Mantel drang und wünschte sich, er wäre bereits zu Hause.
Zweiundzwanzig Jahre. Zweiundzwanzig Jahre, in denen er nicht gewusst hatte, wo er herkam. In denen er nicht gewusst hatte, wer er war.
Es wäre gelogen, zu behaupten, dass er sich nie nach Eltern gesehnt hatte. Dass er nie vor dem Spiegel gestanden und sich gefragt hatte, ob seine schiefe Nase eher von seinem Vater oder von seiner Mutter abstammte. Ob einer von beiden auch Probleme damit gehabt hatte, die leicht gelockten Haare zu bändigen. Ob sie ihm als Kind vorgesungen hatten und ob sie ihn überhaupt angeschaut hatten, bevor sie ihn im Heim abgegeben hatten. Oft hatte er andere Kinder mit neidischen Blicken verfolgt, wenn er sie mit ihren Eltern in der Stadt gesehen hatte, wie sie Hand in Hand durch die engen Gassen schlenderten oder auf den Feldern neben der Stadt Drachen steigen ließen.
Aber im Gegensatz zu den anderen elternlosen Kindern im Heim war Jack nie einsam gewesen. Dank Lively. Jedes Mal, wenn er gedacht hatte, dass ihm etwas fehle, hatte er nur seine Schwester ansehen müssen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen.
Er war wahnsinnig glücklich, sie zu haben. Sie gehörten zusammen, sie ergänzten sich. Genau deswegen wollte er nicht in ihrer Vergangenheit herumstochern. Er hatte Angst, dass es irgendetwas zwischen ihnen ändern würde.
Trotzdem fragte Jack sich, ob er sich nicht falsch entschieden hatte. Ein winziger Teil von ihm wollte auch wissen, was in dieser Akte stand, die Neugierde machte ihn fast wahnsinnig. Aber wenn er es ignorierte, wenn er so tat, als sei nie etwas gewesen, vielleicht konnte er Lively und sich selbst dadurch schützen. Er wusste nicht, was auf sie wartete, welche Enthüllungen, welche Geheimnisse. Verdammt, sie waren doch zufrieden! Sie hatten ein beschauliches Leben, er hatte eine Arbeit und konnte sie beide ernähren. Wieso wollte Lively das aufs Spiel setzen?
Aber vielleicht reagierte er auch über. Vielleicht stand in den Akten gar nichts, nur irrelevante Informationen, die Livelys Neugierde beruhigen würden und dafür sorgten, dass sie diesen Gedanken an ihre Herkunft für immer begrub. Wie es auch ausging: Jack war sich sicher, dass er es früher oder später erfahren würde. Denn wenn seine Schwester eines nicht konnte, dann ein Geheimnis für sich behalten. Vor allem, wenn es sich um ein Geheimnis von solcher Bedeutsamkeit handelte. Der Teil von ihm, der es wissen wollte, war aufgeregt. Aber er wusste nicht, was er denken sollte.
Eine Pferdekutsche preschte an ihm vorbei und schleuderte Wasser von der Straße auf den Gehweg vor ihm. Wie automatisch steuerten seine Schritte weg von dem Kinderheim. Er musste fort von hier, fort von den erdrückenden Erinnerungen, die an seinen Gedanken zupften und sich einen Weg in sein Bewusstsein bahnten. Wenn er ein bisschen Abstand zwischen sich und das Gebäude gebracht hatte, ging es ihm sicher besser. Er trat auf die Straße und stieß die Luft aus. Nachdenklich hob er das Gesicht zum Himmel und genoss den feinen Regen, der seine Haut besprenkelte. Er schloss für einen Moment die Augen und dachte an gar nichts.
Die Luft wog schwer von der Feuchtigkeit und das Geräusch des niederprasselnden Wassers überspielte den Lärm der Stadt. Trotz allem war da etwas in ihm, das sich nach Veränderung sehnte. Aber vielleicht entstammte diese Regung nicht ihm selbst, denn es war ihm, als gierte jeder Mensch im Moment danach, dass etwas passierte. Als läge eine zittrige Erwartungshaltung in der Luft, die er mit jedem Atemzug tief in seinen Körper aufnahm.
Mit einem Mal ergriff eine seltsame Spannung von ihm besitz. Ein Jucken, das sich von seinem Nacken den Rücken hinab ausbreitete. Er senkte den Kopf, rückte den Hut zurecht und schaute sich um. Er fühlte sich beobachtet. Sein Blick glitt die Straße hinauf und hinab. Die verschmutzte und aufgebrochene Straße. Schlamm, der sich an der seitlichen Rinne sammelte und bergabwärts lief. Aber keine andere Person außer ihm selbst. Er drehte sich um die eigene Achse und blickte zurück auf das Tor des Kinderheims, das er hinter sich geschlossen hatte. Doch auch von Lively war keine Spur.
Das Gefühl wollte nicht vergehen. Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten auf dem Bordstein, festgeklebt wie ein Fleck von ausgelaufenem Öl. Er drehte sich um, doch sobald sein Blick klar wurde, war er verschwunden.
Er stutzte. Hatte er sich das gerade nur eingebildet? Vielleicht war es aber auch nur eine schwarze Katze gewesen, die sich auf seine ruckartige Bewegung hin ins Gebüsch geflüchtet hatte. Beiläufig zuckte er mit den Schultern, doch in diesem Moment erklang ein Geräusch. Ein Lachen, leise. Kurz. Doch so nah, als würde jemand direkt hinter ihm stehen und ihm ins Ohr flüstern. Jack zuckte zusammen und wirbelte herum. Doch niemand war da. Niemand stand auf dem Bordstein und machte sich einen Spaß daraus, ihm Angst einzujagen.
Er schnaubte und schüttelte den Kopf über seine eigene Schreckhaftigkeit. Scheinbar hatten die Geister der Vergangenheit noch immer nicht von ihm abgelassen. Jack vergrub die Hände tief in den Taschen seines Mantels. Je schneller er Raum zwischen sich und dieses verdammte Heim brachte, desto besser. Zwischen sich und seine Schwester, die gerade diese verdammte Akte las.
Und