Lena Knodt

Blackwood


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ob ihr darin eintauchen wollt. Noch habt ihr die Gelegenheit, Westingate einfach hinter euch zu lassen.«

      »Nein«, sagte Lively laut. »Sie können nicht darüber bestimmen, was wir hören wollen und was nicht. Es geht um unsere Familie!«

      Jack rückte etwas vor und legte Lively beruhigend eine Hand auf das Knie. »Sind Sie ohne Eltern aufgewachsen?«

      Aileen weitete leicht die Augen und schüttelte den Kopf. Jack mochte ihre weichen Gesichtszüge, den eleganten Schwung ihrer Lippen.

      »Schon seit wir denken können, gibt es in uns diese Leere. Die Frage danach, wer unsere Eltern waren und warum sie uns weggegeben haben. Es ist wie ein unstillbares Verlangen, das danach dürstet, zu wissen, wie sie waren, wie sie gelebt haben.« Das war ein wenig übertrieben, vor allem, weil dieses Verlangen bei ihm in den letzten Jahren ziemlich verblasst war. Aber Aileens Augen weiteten sich und er hatte das Gefühl, etwas bei ihr zu erreichen. Fieberhaft suchte er nach weiteren Argumenten.

      Wieder sprang Lively ein, als habe sie gefühlt, dass er mit den Worten rang. »Als wir fünf oder sechs Jahre alt waren, bekamen wir im Kinderheim Besuch von einem Mann mit Zylinder. Er war groß und dunkelhaarig und irgendwie war Jack danach vollkommen besessen von der Vorstellung, dass dieser Mann unser Vater war. Er bastelte sich einen Hut aus Zweigen und trug ihn stundenlang, während er vorne am Eingang saß, durch die Eisengitter starrte und darauf wartete, dass er uns abholen würde.«

      Jack versuchte, den Kloß zu überspielen, der sich gerade in seinem Hals bildete. Das hatte er bis gerade vollkommen vergessen.

      Aileen lehnte sich zurück und strich sich fahrig eine Strähne aus den Augen. »Das tut mir leid. Aber glaubt mir: Egal, wie euer Leben vorher aussah. Es ist besser als das, was euch bevorsteht, wenn ihr weiter in der Vergangenheit wühlt.«

      Lively presste die Lippen aufeinander, bis das Blut aus ihnen wich.

      »Wir hatten nicht vor, irgendwelche düsteren Geheimnisse aufzudecken. Wir haben lediglich den Namen unseres Vaters erfahren und wollten herausfinden, wer er war«, sagte Jack vorsichtig.

      Aileens Blick verdüsterte sich und sie warf einen Blick zum Fenster, als hätte sie Angst, die anderen Dorfbewohner würden durch den Schlitz zwischen den Vorhängen linsen. »Wie bereits gesagt, Ezra Blackwood ist schon seit vielen Jahren tot. Und mein Rat an euch ist, ihn in Ruhe im Boden verrotten zu lassen.«

      »Wo ist er begraben?«

      Sie schnaubte. »Wohl kaum auf dem heiligen Boden der Kirche.«

      Jack sah Lively aus dem Augenwinkel zucken. Lange würde sie sich nicht mehr zurückhalten können. Und er wusste, dass es besser nie soweit kam, dass seine Schwester die Beherrschung verlor. Jedenfalls nicht, wenn fremde Personen oder zerbrechliche Gegenstände in der Nähe waren. Er schielte auf die Vase mit den getrockneten Blumen vor ihm auf dem Tisch und rückte unauffällig ein Stück näher an sie heran. Aber auch Aileen wirkte alles andere als entspannt.

      »Ich war noch ein Kind, als es passierte«, führ sie nun etwas leiser fort. Mit den Fingernägeln fuhr sie ihren Kiefer entlang, bis hin zu ihrem Nacken. »Trotzdem denke ich beinahe jeden Tag daran.«

      Jack drückte Livelys Knie, um ihr zu signalisieren, dass sie sich zurückhalten sollte. »Als was passierte?« Dann fiel ihm etwas ein. »Kennen Sie zufällig auch Milla? Die Frau, die uns ins Kinderheim gebracht hat? Vielleicht kann sie uns mehr erzählen.«

      Aileens Mundwinkel senkte sich. »Sie war meine Mutter. Und sie kann nichts mehr erzählen.«

      Jack nickte langsam. »Das tut mir leid.«

      Dumpf erwiderte sie seinen Blick. »Es tut mir leid, aber ihr solltet gehen. Zu eurem eigenen Schutz.«

      Lively erhob sich und ballte eine Hand zur Faust. »Verdammt, nein! Sagen Sie uns endlich, was es mit den Blackwoods auf sich hat.« Auch ihre Stimme war gedämpft, aber brodelte hörbar am Siedepunkt. Die Sehnen an ihrem Hals traten hervor. »Wir sind nicht hierhergekommen, um dem großen Sammelsurium an Rätseln um unsere Herkunft noch weitere hinzuzufügen.«

      Aileens Blick glitt an Livelys Gestalt empor bis zu ihrem Gesicht. »Nein«, hauchte sie. »Es war falsch, euch überhaupt hineinzubitten. Verschwindet und verlasst die Stadt.«

      »Wir werden nicht gehen, bis wir Antworten haben. Wer ist Edith Blackwood? Was hat unser Vater getan? Was ist mit unserer Mutter?« Bei jeder Frage wurde Lively lauter, sodass sie die letzten Worte beinahe herausschrie.

      Aber Aileens Moment der Schwäche war vergangen. Sie sprang auf die Füße, jeder Muskel ihres Körpers gespannt. »Verschwindet, und zwar sofort. Ihr werdet es mir danken. Verlasst diese Stadt, denn noch weiß niemand, dass ihr hier seid.« Mit erhobenem Finger deutete sie auf die noch immer verschlossene Tür.

      Jack griff nach seinem Zylinder und richtete sich auf. »Verzeihen Sie uns, dass wir Ihre Zeit gestohlen haben.«

      Lively schaute ihn nicht an, aber er sah, wie die Wut in ihr förmlich pulsierte.

      »Raus«, sagte Aileen nun bestimmt. »Ansonsten rufe ich meinen Ehemann. Mit zwei Stadtkindern wie euch wird er leicht fertig.«

      Sanft umfasste Jack Livelys Unterarm. »Lass uns gehen, Liv. Wir erreichen hier nichts mehr.«

      Wütend fixierte seine Schwester weiterhin Aileen, ließ sich aber von ihm in Richtung Tür ziehen. Jack drückte die Klinke herunter und ging hinaus. Aileens Mann stand im Flur, ohne den Säugling, dafür mit vor der Brust verschränkten Armen. Sein finsterer Blick verleitete Jack dazu, seinen Schritt noch weiter zu beschleunigen.

      Er zog die Haustür auf, schob seine Schwester hinaus und drehte sich dann noch einmal im Rahmen um.

      Aileen fixierte ihn mit klarem Blick, aus dem Entschlossenheit, aber auch Bedauern sprach. Als Jack sich nicht rührte, kam sie ein paar Schritte auf ihn zu.

      »Es tut mir leid«, sagte sie nur. »Aber ihr müsst mir vertrauen und verschwinden.« Sie warf ihm ein halb entschuldigendes, halb ängstliches Lächeln zu, dann schloss sie die Tür vor ihrer Nase.

      »Was zu Hölle war das?«, murmelte Jack.

      »Zur Hölle mit ihr!«, entgegnete Lively, drehte sich mit geballten Fäusten um und stampfte zurück zur Straße.

      Gottverdammt, diese eingebildete, herablassende Kuh!« Wütend trat Lively gegen einen Stein und katapultierte ihn einige Meter durch die Luft, bevor er auf dem Boden auftraf und schließlich zum Liegen kam. Wut brannte in ihrer Brust wie ein Schmiedefeuer.

      »Ich fand sie weder eingebildet noch herablassend«, entgegnete ihr Bruder »Sie hatte Angst.«

      »Sie hat dauerhaft um den heißen Brei herumgeredet. Wir sind kein Stück schlauer als vorher. Reine Zeitverschwendung.«

      »Wir wissen jetzt, wer Edith Blackwood war.«

      Sie schnaubte. Jack hatte zwar Recht, aber sie brauchte ein Ventil für ihre schlechte Laune. Und dafür eignete sich der Gedanke an diese Aileen recht gut.

      Seite an Seite steuerten sie auf die kleine Kirche zu – Kapelle könnte man sie wohl eher nennen – die am Rand des Dorfes aufragte.

      Das Gemäuer hatte schon bessere Tage gesehen – und die lagen mindestens zweihundert Jahre zurück. Putz bröckelte von allen Seiten, das Portal war mehr morsch als intakt und der Glockenturm war durch den Lauf der Zeit so schief geworden, dass man jeden Moment, den man vor ihr verbrachte, das Risiko eingehen musste, von tonnenschwerem Gusseisen erschlagen zu werden. Neben der Kapelle grenzte ein kleiner Eisenzaun den Friedhof ein. Er war so niedrig, dass man getrost mit etwas Anlauf über ihn springen konnte. Trotzdem nahmen sie das offenstehende Tor.

      Auch wenn der Friedhof aus kaum mehr als vier Reihen von Gräbern bestand, legte sich sofort ein beklemmendes Gefühl auf Livelys Schultern, das nur diese Art von Orten auslösen konnte. Es war