Klaus Hoffmann-Holland

Strafrecht Allgemeiner Teil


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in Art. 325 Abs. 4 eine Vorschrift zur Betrugsbekämpfung und in Art. 79 Abs. 2 c, d eine Norm, nach der die EU Maßnahmen gegen illegale Einwanderung und Menschenhandel ergreifen kann. Nach mehrheitlich vertretener Auffassung wird durch diese Vorschriften eine Kompetenz zum Erlass von Kriminalstrafrecht auf europäischer Ebene begründet,[77] so dass die EU zukünftig in einigen eng begrenzten Regelungsbereichen eigenständige Strafnormen erlassen könnte.

      b) Beeinflussung des deutschen Strafrechts durch das Recht der EU

      79Das Recht der EU beeinflusst nachhaltig die Schaffung, Anwendung und Auslegung des deutschen Strafrechts. Dabei spricht man von einer „Europäisierung“ des nationalen Strafrechts.[78] Diese äußert sich zunächst darin, dass das Unionsrecht eine Obergrenze für das nationale Strafrecht schafft, d.h. Deutschland darf keine Strafnormen erlassen bzw. aufrechterhalten, wenn diese gegen Unionsrecht verstoßen. Für die Strafgerichte ist neben dem bereits skizzierten Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung (vgl. Rn. 32) darüber hinaus der Anwendungsvorrang des Unionsrechts[79] von besonderer Bedeutung. Das Recht der EU geht dem nationalen Recht im Kollisionsfall vor. Lässt sich eine Strafnorm auch im Wege unionsrechtskonformer Auslegung |27|nicht in einer Weise interpretieren, die mit dem Unionsrecht in Einklang steht, darf sie daher nicht angewendet werden. Zugleich bildet das Unionsrecht auch eine Untergrenze für die nationale Strafverfolgung. Da die EU (noch) nicht über ein eigenes Strafgesetzbuch verfügt, sieht sie sich mit dem Problem konfrontiert, dass sie die ihr zustehenden Rechtsgüter nicht durch ein eigenes Strafrecht schützen kann. Infolge der die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3EUV treffenden Loyalitätspflicht haben diese daher ihr nationales Sanktionssystem in den Dienst der EU zu stellen, um hierdurch einen effektiven Rechtsgüterschutz auch auf europäischer Ebene zu gewährleisten.[80]

      80Die augenscheinlichste Beeinflussung des deutschen Strafrechts durch das Europarecht erfolgt durch Sekundärrechtsakte, die auf eine Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen abzielen.[81] Insbesondere können das Europäische Parlament und der Rat Richtlinien[82] zur Angleichung nationaler Strafvorschriften erlassen, wofür sie in Art. 83AEUV mit der erforderlichen Kompetenz ausgestattet werden. Art. 83 Abs. 1AEUV betrifft den Bereich besonders schwerer grenzüberschreitender Kriminalität, Art. 83 Abs. 2AEUV enthält eine generalklauselartige Kompetenznorm, wonach Richtlinien zur Angleichung nationaler Strafvorschriften erlassen werden dürfen, wenn diese unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet ist, auf dem bereits Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind. Begrenzt wird die Möglichkeit der Strafrechtsangleichung durch Art. 83 Abs. 3AEUV, wonach ein Mitgliedstaat ein Veto gegen den Erlass einer Richtlinie einlegen kann, wenn diese grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde.[83] Darüber hinaus hat das BVerfG in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon[84] der Möglichkeit zur Angleichung des deutschen Strafrechts an europarechtliche Vorgaben ausdrückliche Grenzen gesetzt. Nach seiner Auffassung hängt das nationale Strafrecht von der individuellen Geschichte und Kultur eines jeden Mitgliedstaates ab und fällt grundsätzlich unter die nationale Souveränität.[85] Prinzipiell könne erst nach einem mitgliedstaatlichen und demokratisch legitimierten Entscheidungsprozess feststehen, welches Verhalten als strafbar zu bewerten ist, so dass die Kompetenztitel im AEUV zurückhaltend zu interpretieren seien.[86]

      |28|2. Völkerstrafrecht

      81Gegenstand des Völkerstrafrechts[87] sind diejenigen Normen, die eine unmittelbare Strafbarkeit von einzelnen Personen nach dem Völkerrecht begründen. Das Völkerstrafrecht nimmt auf ein individuelles Verhalten Bezug und stellt dieses unter Strafe und ist daher Strafrecht im Sinne des in Rn. 1, 3 skizzierten Begriffsverständnisses. Da es auf völkerrechtlichen Rechtsquellen, d.h. insbesondere völkerrechtlichen Verträgen, Völkergewohnheitsrecht und (subsidiär) allgemeinen Rechtsgrundsätzen beruht, ist es aber zugleich Teil des Völkerrechts.

      82Nach Art. 5IStGH-Statut unterliegen der Gerichtsbarkeit des IStGH das Verbrechen des Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Als ein wesentlicher Fortschritt im materiellen Völkerstrafrecht kann die Kodifizierung eines allgemeinen Teils im Teil 3 des Römischen Statutes angesehen werden. Insbesondere werden verschiedene Formen der Täterschaft (Art. 25 Abs. 3a) und Teilnahme (Art. 25 Abs. 3b, c und d), Versuch und Rücktritt (Art. 25 Abs. 3f), Vorgesetztenverantwortlichkeit (Art. 28), subjektive Unrechtselemente (Art. 30), Gründe für den Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (Art. 31, z.B. Notwehr in Abs. 1c) sowie Tatbestands- und Verbotsirrtum (Art 32) geregelt.

      83Gemäß Art. 17IStGH-Statut wird der Internationale Strafgerichtshof nur tätig, wenn die nationalen Gerichtshöfe nicht willens oder fähig sind, ein vom IStGH-Statut erfasstes Verbrechen zu verfolgen. Um diesem sog. Komplementaritätsprinzip Rechnung zu tragen hat der deutsche Gesetzgeber ein eigenes Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) geschaffen, welches am 30.6.2002 in Kraft getreten ist.[88] Das VStGB ist von den nationalen Gerichten unmittelbar anzuwenden und bestimmt insbesondere die Strafbarkeitsvoraussetzungen für den Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen.[89]

      VIII. Strafrechtlich relevante Handlung

      84Grundvoraussetzung jeglicher Strafbarkeit und damit Grundelement der Strafbarkeitsprüfung ist das Vorliegen einer Handlung im Rechtssinne. Tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft kann nur ein menschliches Verhalten sein. Daher beginnt die Prüfung, inwieweit der Tatbestand eines Strafgesetzes verletzt ist, mit der Frage, ob überhaupt eine Handlung vorliegt. In der Regel kann |29|diese Prüfung in der Klausur jedoch kurz und nur gedanklich durchgeführt werden. Nur ausnahmsweise wird schon das Vorliegen einer Handlung problematisch und in der Fallbearbeitung erörterungsbedürftig sein.

      85Der Handlungsbegriff erfasst die beiden Unterbegriffe aktives Tun (Bsp.: A ersticht O mit einem Messer, § 212 Abs. 1 StGB) und Unterlassen (Bsp.: A rettet seinen Sohn nicht vor dem Ertrinken, obwohl ihm dies möglich wäre, §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB).

      1. Handlungslehren

      86Zur Bestimmung dessen, was eine Handlung ist, sind verschiedene Handlungslehren entwickelt worden[90]:

      87Nach der älteren kausalen Handlungslehre ist eine Handlung jede Verursachung oder Nichthinderung einer Veränderung in der Außenwelt durch willensgesteuerte körperliche Tätigkeit. Auf einen bestimmten Handlungssinn soll es dabei nicht ankommen. Eine Handlung wird nach der kausalen Handlungslehre naturalistisch – gleichsam als Naturereignis – begriffen. Da aber das menschliche Verhalten gerade als Anknüpfungspunkt der Strafbarkeit betrachtet werden soll, grenzen andere Lehren den Handlungsbegriff stärker ein. So stellt die finale Handlungslehre darauf ab, ob eine zielgerichtete Tätigkeit vorliegt.[91] Die soziale Handlungslehre nimmt eine strafrechtlich relevante Handlung nur an, wenn das menschliche Verhalten sozial erheblich ist.[92] Ein personaler Handlungsbegriff versteht die Handlung als Persönlichkeitsäußerung.[93] Gegen alle Handlungslehren sind verschiedene Einwände erhoben worden, z.B. gegen die kausale Handlungslehre, dass sie sinnentleert sei, gegen die finale, dass sie unbewusste Fahrlässigkeit nicht erfassen könne, gegen die soziale und personale, dass sie keinen trennscharfen Begriff lieferten. Wesentlich aber ist – ohne dass es der Entscheidung zwischen den Handlungslehren bedarf – die Aussonderung von Nicht-Handlungen, also die Feststellung von Fällen, in denen keine Handlung vorliegt. Nicht-Handlungen sind Geschehensabläufe, die ohne Steuerung oder Steuerbarkeit durch die geistigen Kräfte eines Menschen ablaufen. Keine Handlungen sind daher:

       Körperbewegungen im Zustand der Bewusstlosigkeit oder des Schlafs.

       Reine Reflexbewegungen, die nur auf körperlich-physiologische Reize zurückgehen.

       Bewegungen aufgrund von unkontrollierbaren Krämpfen.

       Bewegungen, die durch vis absoluta, d.h. unwiderstehliche Gewalt, erzwungen werden.

      88|30|Bsp.: A stößt