als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal im Kartellverbot selbst verankert. In der „De-minimis-Bekanntmachung“ (Bagatellbekanntmachung) von 2014[92] wird die Spürbarkeitsschwelle in der Form von Marktanteilen der betreffenden Unternehmen in Höhe von 10% (bei Horizontalbeschränkungen) bzw. 15% (bei Vertikalbeschränkungen) definiert. Allerdings sind nach der Rechtsprechung für die Spürbarkeit im Einzelfall nicht allein quantitative, sondern auch qualitative Kriterien zu berücksichtigen, die sich etwa auf die Eigenart der Wettbewerbsbeschränkung und die Marktverhältnisse insgesamt beziehen.[93]
387
Am deutlichsten zeigt sich das Erfordernis der marktstrukturellen Drittwirkung in der Missbrauchskontrolle marktbeherrschender Unternehmen gem. Art. 102 AEUV. Die als missbräuchlich (wettbewerbswidrig) anzusehenden einseitigen Praktiken eines solchen Unternehmens haben entweder eine Marktausschluss- bzw. Marktabschottungswirkung zu Lasten von aktuellen oder potentiellen Konkurrenten oder eine Ausbeutungswirkung zu Lasten von Unternehmen auf der nachgelagerten oder vorgelagerten Marktstufe. In beiden Fallkonstellationen geht es darum, dass das marktbeherrschende Unternehmen die Wettbewerbsspielräume Dritter – und in diesem Sinne ihre wettbewerbliche Handlungsfreiheit bzw. Auswahlfreiheit – aktuell oder potentiell beschränkt. Dabei ist für das Urteil der Wettbewerbswidrigkeit auch hier der Systembezug unerlässlich: Entscheidend ist nämlich, ob die für die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbssystems erhebliche Freiheit und Autonomie anderer Marktteilnehmer im Hinblick auf deren künftigen Einsatz von Wettbewerbsparametern bzw. auf deren Freiheit der Wahl zwischen Angebotsalternativen durch eine Verengung der Marktstruktur zu Lasten des noch verbleibenden Restwettbewerbs übermäßig eingeschränkt zu werden droht. Es geht also auch insoweit nicht um den Schutz anderer Marktteilnehmer als solchen, sondern sie werden wegen ihrer Systemrelevanz geschützt.
388
In diesem Sinne ist schließlich auch die Fusionskontrolle gem. Art. 2 FKVO daran ausgerichtet, dass schon der abstrakten Gefährdung des wirksamen Wettbewerbs durch die Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung vorgebeugt wird. Auch insoweit geht es um den Schutz einer Marktstruktur, die den Wettbewerb als Interaktionssystem für Konkurrenten und Abnehmer bzw. Anbieter hinreichend offenhält, damit ihnen die Handlungsspielräume verbleiben, die für die Funktionsfähigkeit dieses Systems erforderlich sind. Die Wettbewerbswidrigkeit eines Unternehmenszusammenschlusses ist also ebenfalls nach seinen Drittwirkungen zu beurteilen.
(4) Kontextanalyse
389
Gericht und Gerichtshof haben wiederholt betont, dass bei der wettbewerblichen Beurteilung eines konkreten unternehmerischen Verhaltens der wirtschaftliche und rechtliche Gesamtzusammenhang (Kontext) zu berücksichtigen ist.[94] So ist beispielsweise bei der Prüfung, ob auf eine bestimmte Vereinbarung zwischen Unternehmen das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV anwendbar ist,
„der konkrete Rahmen zu berücksichtigen, in dem sie ihre Wirkung entfaltet, insbesondere der wirtschaftliche und rechtliche Kontext, in dem die betroffenen Unternehmen tätig sind, die Art der Waren und/oder Dienstleistungen, auf die sich die Vereinbarung bezieht, sowie die tatsächlichen Bedingungen der Funktion und der Struktur des relevanten Marktes…“[95]
390
Gericht und Gerichtshof haben allerdings stets deutlich gemacht, dass damit nicht das Bestehen einer „rule of reason“ im Rahmen des Kartellverbots der Union anerkannt werde (vgl. oben Rn. 369). Insbesondere gehe es nicht um eine Abwägung der wettbewerbsfördernden und der wettbewerbswidrigen Wirkungen einer Vereinbarung zum Zweck der Entscheidung, ob das Verbot in Art. 101 Abs. 1 AEUV anwendbar ist. Es handele sich vielmehr um eine in der Rechtsprechung entwickelte Herangehensweise, die nicht völlig abstrakt und unterschiedslos davon ausgeht, dass jede die Handlungsfreiheit eines oder mehrerer Beteiligter beschränkende Vereinbarung zwangsläufig von dem Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst wird.[96]
391
Damit trägt die Rechtsprechung der weiter oben (Rn. 341) angesprochenen Ambivalenz unternehmerischen Verhaltens Rechnung, die daraus resultiert, dass Unternehmen stets die Überwindung der Rationalitätsbeschränkungen im Auge haben, denen sie unterliegen. Diesem Zweck dienen aus unternehmerischer Perspektive Verhaltensweisen auch dann und gerade dann, wenn sie den Wettbewerb beschränken. Die Koordinierung des Marktverhaltens von Unternehmen ist daher gewöhnlich im Kontext der gesamten Umstände interpretationsbedürftig. Es kann sich im Einzelfall um legitime und durchaus produktive Strategien der Bewältigung von Transaktionskostenproblemen, Informationsdefiziten oder Erwartungsunsicherheiten handeln; es kann aber auch darum gehen, schlicht die „praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten“ zu lassen.[97]
392
Das Letztere ist allerdings bei den „Kernbeschränkungen“ in Gestalt von Preis-, Quoten- oder Marktaufteilungskartellen regelmäßig der Fall, so dass insoweit eine Kontextanalyse grundsätzlich entbehrlich ist und insoweit „per se“-Regeln Anwendung finden (vgl. dazu oben Rn. 368);[98] aber selbst hier kann es im Ausnahmefall einmal Konstellationen geben, in denen sich die Koordination des Marktverhaltens im konkreten Kontext als wettbewerblich unschädlich erweist.[99] Insbesondere bei der wettbewerblichen Beurteilung vertikaler Vereinbarungen ist daher stets eine sorgfältige objektive Analyse ihrer wirtschaftlichen Funktion daraufhin erforderlich, ob es für die zu beurteilende Verhaltensweise eine plausible Erklärung gibt, die einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln ausschließt. Sie dienen nämlich häufig der Erschließung von Märkten, dem Aufbau von Vertriebsstrukturen oder der Reduktion von Koordinationskosten und sind insoweit Ausdruck des Leistungswettbewerbs. Die Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung setzt daher voraus, dass das zu beurteilende Verhalten sich nicht mehr durch solche Erwägungen plausibel machen lässt.
393
Dasselbe gilt in besonderem Maße auch für die Beurteilung des einseitigen Verhaltens marktbeherrschender Unternehmen. Auch deren Wettbewerbsfreiheit ist grundsätzlich schützenswert. So hat der EuGH[100] stets betont, dass der Umstand
„dass ein Unternehmen eine beherrschende Stellung innehat, diesem nicht das Recht [nimmt], seine eigenen geschäftlichen Interessen zu wahren, wenn sie bedroht sind, und es darf auch in angemessenem Umfang so vorgehen, wie es dies zum Schutz seiner Interessen für richtig hält.“
394
Dies findet jedoch seine Grenze am Verbot von Verhaltensweisen, die auf die Verstärkung der beherrschenden Stellung und ihren Missbrauch abzielen.[101] Dabei erfasst der Begriff der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung nach der Rechtsprechung[102]
„solche Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung […], die die Struktur eines Marktes beeinflussen können, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der Präsenz des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, und die zur Folge haben, dass die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung durch die Verwendung von Mitteln behindert wird, die sich von den Mitteln des normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistung der Wirtschaftbeteiligten unterscheiden.“
395
Ob im Einzelfall solche wettbewerbswidrigen Folgen zu erwarten sind, wird sich nicht allein durch die formale Einordnung des fraglichen Marktverhaltens in eine bestimmte Verhaltenskategorie, sondern grundsätzlich nur aufgrund einer sorgfältigen Analyse des wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhangs (Kontextanalyse) beurteilen lassen. Allerdings gibt es einseitige Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen,