ihnen erschöpft (Beispiele: Preisabsprachen, Quotenkartelle, Marktaufteilungen). Es steht außer Zweifel, dass solche Formen der Koordination des Marktverhaltens die Auswahlfreiheit der Abnehmer einschränken. Aber auch die Bewertung bestimmter einseitiger Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen folgt zuweilen diesem Regelungsmuster (Beispiel: Rabattgestaltungen, die in ihren Wirkungen einer exklusiven Bezugsbindung gleichkommen). Die Charakterisierung dieses Regelungsansatzes als „formalistisch“ (form based) im Gegensatz zu „wirkungsbezogen“ (effects based) wäre jedoch verfehlt. Denn auch „per se“-Regeln beruhen auf ökonomischen Wirkungsanalysen, die allerdings für die betreffenden Verhaltensweisen generalisierbar sind und keiner Überprüfung im Einzelfall mehr bedürfen.
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Dem stehen zum anderen Regeln gegenüber, die sich auf Verhaltensweisen beziehen, deren Wettbewerbswidrigkeit nur aufgrund einer Auswertung des gesamten wirtschaftlichen und rechtlichen Entstehungs- und marktstrukturellen Wirkungszusammenhangs unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Marktes festgestellt werden kann. Es geht insoweit also um Verhaltensweisen, deren wirtschaftliche Wirkungen nicht eindeutig sind, so dass sich generalisierende Aussagen über ihre Wettbewerbswidrigkeit verbieten. Hier bedarf es vielmehr einer sog. Kontextanalyse im Sinne der Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalles. Zu diesen Umständen gehören dann nicht nur die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen, sondern auch etwaige wettbewerbsfördernde Wirkungen einschließlich etwaiger Effizienzgewinne. Dieser Ansatz schlägt sich allerdings in durchaus unterschiedlichen positivrechtlichen Regelungsstrukturen nieder: Die amerikanische Rechtsprechung zum Kartellverbot des Sherman Act von 1890[75] hat im Hinblick auf bestimmte Verhaltensweisen das Verbot selbst mit Hilfe des Kriteriums der „reasonableness“ eingeschränkt und damit eine dem Kartellverbot selbst immanente Tatbestandsrestriktion entwickelt. Demgemäß werden im Rahmen des Verbotstatbestandes „per se rules“ und „rules of reason“ unterschieden.[76] In das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV ist demgegenüber keine derartige Tatbestandsrestriktion hineininterpretiert worden, weil etwaige positive Wirkungen einer Wettbewerbsbeschränkung gesondert im Rahmen des Freistellungstatbestands des Art. 101 Abs. 3 AEUV zu prüfen sind. Auch das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) ist vergleichbar strukturiert (siehe dazu Rn. 1117 f.). Die Feststellung der Wettbewerbswidrigkeit ist somit im Unionsrecht selbst dann zunächst einmal unabhängig von einer Abwägung gegen etwaige positive Effizienzwirkungen, wenn sie nur aufgrund einer ausführlichen Kontextanalyse möglich ist. Dies steht nicht im Widerspruch zum Grundsatz der „integralen Anwendung“ von Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV (siehe dazu unten Rn. 753, 848).
370
Der Gegensatz zwischen den beiden möglichen Regelungsansätzen ist somit allenfalls ein gradueller: Selbstverständlich geht auch der Formulierung von per se-Regeln stets eine ökonomische Wirkungsanalyse der jeweiligen Verhaltensweisen voraus, bevor sie als abstrakte Gefährdungstatbestände normiert werden können. Es gilt schon bei der Formulierung der Regel zu verhindern, dass auch legitime unternehmerische Wettbewerbsstrategien von solchen Normen erfasst werden. Und umgekehrt ist auch im Rahmen von Regeln, deren Anwendung eine sorgfältige einzelfallbezogene Kontextanalyse voraussetzt (und erst recht im Rahmen einer rule of reason) unvermeidlich, dass sich die Analyse der konkreten wettbewerblichen Wirkungen eines unternehmerischen Verhaltens im Interesse der Rechtssicherheit und der Handhabbarkeit in Grenzen hält. Gewisse Pauschalierungen und Wahrscheinlichkeitsurteile sind auch bei konkreten Gefährdungstatbeständen unerlässlich. Letztlich geht es daher stets darum, bei der Formulierung von Wettbewerbsregeln und bei deren Anwendung (dh Konkretisierung) einen Kompromiss zu finden zwischen Rechtssicherheit für die Normadressaten und Treffsicherheit hinsichtlich der Erfassung von Wettbewerbsbeschränkungen. Wie diese Kompromisse im Rahmen des Unionsrechts aussehen, lässt sich nicht generalisierend nach Fallgruppen, sondern nur anhand der konkreten Auslegung und Anwendung der Wettbewerbsregeln durch die Unionsorgane bestimmen.
b. Wettbewerbsregeln der EU
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Die EU errichtet gem. Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV einen Binnenmarkt. Aufgrund des Protokolls Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, das nach Art. 51 EUV Bestandteil der Unionsverträge ist, umfasst der Binnenmarkt „ein System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Das entspricht ganz der Rechtslage, wie sie gem. Art. 3 Abs. 1 lit. g EG bereits vor dem Vertrag von Lissabon bestanden hat. Der AEUV konkretisiert das System unverfälschten Wettbewerbs in Bezug auf das Marktverhalten von Unternehmen durch ein Kartellverbot (Art. 101 AEUV) und ein Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV). Die Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), die auf der Grundlage von 87 EWGV bzw. Art. 83 EG [jetzt: Art. 103 AEUV] ergangen ist, ergänzt diese beiden Vertragsvorschriften durch ein Verbot wettbewerbswidriger Konzentrationsvorgänge.[77] Die Wettbewerbsregeln werden ferner ergänzt durch zahlreiche weitere sekundärrechtliche Ratsverordnungen auf der Grundlage von Art. 87 EWGV bzw. Art. 83 EG [jetzt: Art. 103 AEUV] sowie Durchführungsverordnungen der Kommission auf der Grundlage entsprechender Ermächtigungen in den Grundverordnungen des Rates. Hinzukommen zahlreiche „Bekanntmachungen“, „Mitteilungen“ und „Leitlinien“, in denen die Kommission ihre Interpretation des primären und sekundären Wettbewerbsrechts der Union erläutert. Davon bleibt die Maßgeblichkeit der Auslegung des geltenden Rechts durch das Gericht und den Gerichtshof allerdings unberührt.
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Aus dem Wortlaut des Protokolls Nr. 27 ergibt sich zunächst einmal, dass das Unionsrecht den Wettbewerb als System begreift. Diese Formulierung hat weitreichende Implikationen für die Auslegung der Wettbewerbsregeln. Deren konkrete normative Bedeutung erschließt sich aber nur aus der Entscheidungspraxis der Unionsorgane, die trotz im Laufe der Zeit veränderter Nuancierungen ein hohes Maß an Kontinuität aufweist. Ein bis heute gültiger Grundansatz ist bereits in der Metro I-Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 1977 folgendermaßen formuliert worden:[78]
„Der in den Artikeln 3 und 85 EWG-Vertrag [jetzt: Protokoll Nr. 27 und Art. 101 AEUV] geforderte unverfälschte Wettbewerb setzt das Vorhandensein eines wirksamen Wettbewerbs (workable competition) auf dem Markt voraus; es muss also so viel Wettbewerb vorhanden sein, dass die grundlegenden Forderungen des Vertrages erfüllt und seine Ziele, insbesondere die Bildung eines einzigen Marktes mit binnenmarktähnlichen Verhältnissen, erreicht werden.“
Hiernach sind zwei Konzepte für das unionale Wettbewerbsrecht grundlegend: das Konzept eines „wirksamen Wettbewerbs“ (im Folgenden c.) sowie das Konzept der Binnenmarktintegration (im Folgenden d.).
c. Wirksamer Wettbewerb
(1) Grundkonzept
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Das Konzept des „wirksamen Wettbewerbs“ fasst die wesentlichen normativen Aspekte zusammen, die nach der Interpretation der Unionsorgane (Kommission, Gericht und Gerichtshof) das „Systems unverfälschten Wettbewerbs“ ausmachen. Die Kommission hat ihr Verständnis dieses Konzepts bereits in ihrem Ersten Wettbewerbsbericht von 1971 folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:[79]
„Der Wettbewerb stimuliert in der Tat am besten die wirtschaftliche Aktivität und sichert für die Beteiligten den größtmöglichen Freiheitsspielraum. Eine aktive Wettbewerbspolitik, wie sie die Verträge zur Gründung der Gemeinschaften vorschreiben, erleichtert die ständige Anpassung der Angebots- und Nachfragestrukturen und die technische Entwicklung; das freie Spiel dezentralisierter Entscheidungsmechanismen führt zu einer ständig verbesserten Leistungsfähigkeit der Unternehmen und bildet so