eine Freistellung.
402
Die Legalausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV geht also davon aus, dass das zu beurteilende Verhalten einerseits Auswirkungen auf die Marktstruktur hat, die hinreichend gravierend sind, um das Urteil der Wettbewerbswidrigkeit nach Art. 101 Abs. 1 AEUV zu rechtfertigen, andererseits aber doch eine noch hinreichend offene Marktstruktur bewahrt, um den Wettbewerbsdruck aufrechtzuerhalten, der für die Weitergabe der „Effizienzvorteile“ an die Verbraucher erforderlich ist. Nur unter dieser Voraussetzung ist es vorstellbar, dass aufgrund von Wahrscheinlichkeitsurteilen die möglichen positiven Effizienzwirkungen gegen die negativen Effizienzwirkungen der in Frage stehenden Wettbewerbsbeschränkung gegeneinander abgewogen werden. Im Ergebnis ist daher das Verhältnis von Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV durch unterschiedliche Marktmachtschwellen (im Sinne von Unter- bzw. Obergrenzen) gekennzeichnet: Für die Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung ist in der Regel das Überschreiten einer gewissen minimalen Marktmachtschwelle erforderlich, die insbesondere im Kriterium der „Spürbarkeit“ zum Ausdruck kommt; für die Erfüllung der Freistellungsvoraussetzungen darf die Marktmacht andererseits nicht einen Grad erreichen, der dem verbleibenden Restwettbewerb seine Wirksamkeit nimmt.
403
Dem entspricht auch die Rechtsanwendungspraxis der Unionsorgane. Sie haben im Rahmen der Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV stets darauf geachtet, dass die Marktstruktur und die durch sie vermittelte wirtschaftliche Handlungsfreiheit Dritter (im Sinne der Wettbewerbsfreiheit von Konkurrenten und der Auswahlfreiheit der Abnehmer) nicht übermäßig beeinträchtig wird. Der geringe Marktanteil der beteiligten Unternehmen, die Marktpräsenz starker Wettbewerber oder die unbeschränkte Möglichkeit des Marktzutritts potentieller Wettbewerber sind vielfach als Begründung dafür angeführt worden, dass trotz Freistellung der Wettbewerbsbeschränkung hinreichender Wettbewerb bestehen bleibt, um die einzelwirtschaftlichen „Effizienzvorteile“ in gesamtwirtschaftliche Effizienzvorteile (= Verbrauchervorteile) zu verwandeln. Auch werden in den Gruppenfreistellungsverordnungen gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen – ausgenommen die sog. Kernbeschränkungen (Preisabsprachen, Produktionsbeschränkungen, Marktaufteilungen) – vom Kartellverbot nur unter der Voraussetzung freigestellt, dass die beteiligten Unternehmen unterhalb bestimmter Marktanteilsschwellen von 20% (bei Spezialisierungsvereinbarungen),[109] 25% (bei Forschungs- und Entwicklungskooperationen)[110] bzw. 30% (generell bei Vertikalvereinbarungen)[111] bleiben. Damit ist sichergestellt, dass die Marktstruktur nicht übermäßig wettbewerbswidrig verengt und die darüber vermittelte Handlungsfreiheit außenstehender Dritter letztlich nicht beeinträchtigt wird. Unter diesen Voraussetzungen können sich die „Effizienzvorteile“ begrenzter Beschränkungen des Wettbewerbs letztlich sogar als ein Beitrag zur Förderung des Wettbewerbsprozesses insgesamt erweisen. Um das festzustellen, kommt es im Einzelfall jeweils auf eine Analyse der besonderen Gegebenheiten des jeweils relevanten Marktes an.
404
Auch im Hinblick auf die von Art. 102 AEUV erfassten einseitigen Verdrängungsstrategien kann sich das beherrschende Unternehmen ausnahmsweise auf die in Art. 101 Abs. 3 AEUV definierten Effizienzvorteile berufen. Die Rechtsprechung hat zwar die Erstreckung des für das Kartellverbot geltenden Freistellungstatbestandes des Art. 101 Abs. 3 AEUV auf das Missbrauchsverbot des Art. 102 AEUV abgelehnt.[112] Das hindert jedoch nicht, gewisse Wertungen aus dem Freistellungstatbestand auch im Rahmen des Missbrauchsbegriffs zu berücksichtigen.[113] Dies gilt dann auch für die Erfordernisse der Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung für die Erreichung der Effizienzvorteile, für die Verhältnismäßigkeit (insbesondere die Angemessenheit) der Effizienzvorteile im Vergleich zur Schwere der Wettbewerbsbeschränkung, für die Verbraucherbeteiligung an den Effizienzvorteilen sowie für die Aufrechterhaltung hinreichenden Restwettbewerbs.[114] Auch hier dürfen aber die Unterschiede zwischen produktiver Effizienz auf Unternehmensebene und der nur auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene (also durch den Wettbewerb und nicht durch seine Beschränkung) zu verwirklichenden allokativen bzw. dynamischen Effizienz nicht verwischt werden (siehe zu den Einzelheiten Rn. 1138 f.).
405
Nach der Begründungserwägung 29 zur FKVO 139/2004[115] soll auch bei der Beurteilung der wettbewerblichen Auswirkungen eines Unternehmenszusammenschlusses „begründeten und wahrscheinlichen Effizienzvorteilen Rechnung getragen werden, die von den beteiligten Unternehmen dargelegt werden“. Es sei nämlich möglich, dass solche Effizienzvorteile die negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb ausgleichen und eine erhebliche Behinderung des Wettbewerbs demgemäß zu verneinen ist. Die Kommission ist der in dieser Begründungserwägung formulierten Aufforderung nachgekommen und hat in entsprechenden Leitlinien dargelegt, dass sie bei ihrer Gesamtbewertung eines Zusammenschlusses alle nachgewiesenen Effizienzvorteile berücksichtigt. Sie erklärt einen Zusammenschluss demgemäß für mit dem Binnenmarkt vereinbar, wenn solche Effizienzvorteile geeignet sind, den Wettbewerb zum Vorteil für die Verbraucher zu beleben (siehe zu den Einzelheiten Rn. 1418 ff.).
(6) Der „more economic approach“
Literatur:
Böge Der „more economic approach“ und die deutsche Wettbewerbspolitik, WuW 2004, 726; Schmidtchen Der „more economic approach“ in der Wettbewerbspolitik, WuW 2006, 6; Basedow Konsumentenwohlfahrt oder Effizienz, Neue Leitbilder der Wettbewerbspolitik? WuW 2007, 712; von Weizsäcker Konsumentenwohlfahrt oder Wettbewerbsfreiheit: Über den tieferen Sinn des „Economic Approach“, WuW 2007, 1078–1084; Schmidtchen Wettbewerbsfreiheit oder Effizienz? Zur Zweisamkeit von Recht und Ökonomie im Bereich der Wettbewerbspolitik, ORDO 59 (2008) 143; Mestmäcker Wettbewerb und unternehmerische Effizienz. Eine Erwiderung auf Schmidtchen, ORDO 59 (2008) 185; Schmidtchen Zum Verhältnis von Recht und Ökonomie in der Wettbewerbspolitik: Eine Erwiderung auf Mestmäcker, ORDO 60 (2009) 153; Drexl Wettbewerbsverfassung, in: Bogdandy/Bast (Hrsg.) Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge (2. Aufl. 2009) 905; Eilmansberger Verbraucherwohlfahrt, Effizienzen und ökonomische Analyse – Neue Paradigmen im europäischen Kartellrecht? ZWeR 2009, 437; Schmidt/Wohlgemuth Das Wettbewerbskonzept der EU aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften: Wie ökonomisch ist der „more economic approach“? in: Blanke/Scherzberg/Wegner (Hrsg.) Dimensionen des Wettbewerbs (2010) 51; Immenga/Mestmäcker Der „stärker wirtschaftliche Ansatz“ in der Leitlinienpolitik der Kommission, in: Dies. (Hrsg.) Wettbewerbsrecht, Band 1/2 Teile – Kommentar zum Europäischen Kartellrecht (5. Aufl. 2012) Einl. EU D., 59; Mestmäcker/Schweitzer Europäisches Wettbewerbsrecht (3. Aufl. 2014) § 3: Wettbewerb der Unternehmen, 79 ff.
406
Seit ihrem Weißbuch von 1999 über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 85 und 86 EG-Vertrag[116] [später: Art. 81 und 82 EG; jetzt: Art. 101 und 102 AEUV] propagiert die Kommission für die Europäische Wettbewerbspolitik einen „stärker wirtschaftlichen Ansatz“ (more economic approach) bei der Beurteilung unternehmerischen Verhaltens im Hinblick auf das Kartellverbot (Art. 101 AEUV) und das Verbot des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen (Art. 102 AEUV) sowie im Hinblick auf die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen nach der FKVO 139/2004.[117] Anders als bei der Berücksichtigung von Effizienzvorteilen im Rahmen der Legalausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV (oben Rn. 397 ff.) geht es hier primär um die Berücksichtigung ökonomischer Kriterien auf der Ebene der Verbotstatbestände, dh bei der Feststellung des Vorliegens eines Wettbewerbsverstoßes. Mario Monti, der damals für die Generaldirektion Wettbewerb zuständige Kommissar, kennzeichnete in einer am 24. Oktober 2003 in New York gehaltenen Rede[118] die Wende der Kommission genauer mit