horizontale Verhaltensabstimmung erklären ließen. Weder hatte es sich um ein hinreichend enges Oligopol gehandelt, um von einer zwingenden Reaktionsverbundenheit sprechen zu können, noch konnte von übereinstimmenden Kostenstrukturen und von homogenen Gütern die Rede sein. Darüber hinaus hatten die jeweiligen Ankündigungen der beabsichtigten Preiserhöhungen seitens einiger Marktteilnehmer den Konkurrenten die Unsicherheit hinsichtlich der wechselseitigen Reaktionen genommen, die für den Wettbewerb kennzeichnend ist. Dieser Sachverhaltswürdigung der Kommission und dem ihr zugrundeliegenden Erfahrungssatz ist der EuGH gefolgt.
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Andererseits hat das EuG in jüngeren Entscheidungen mehrfach gerügt, dass die Kommission ihrer Beweisführung keinen tragfähigen Erfahrungssatz zugrundegelegt bzw. dessen Anwendung nicht hinreichend mit Tatsachen untermauert habe:
So hatte in einem Fall vertikaler Re-Exportverbote (Parallelhandelsbeschränkungen) im Arzneimittelbereich, die von einem Produzenten seinen Händlern in anderen Mitgliedstaaten auferlegt worden waren, um zu verhindern, dass die Händler seine eigenen Absatzchancen in einem höherpreisigen Drittstaat durch Re-Exporte minimierten, der Produzent diese Handelsbeschränkungen im Sinne ihrer Freistellungsfähigkeit nach Art. 81 Abs. 3 EG [jetzt: Art. 101 Abs. 3 AEUV] damit rechtfertigen wollen, dass sich die durch die fraglichen Beschränkungen bedingten Erlösverbesserungen positiv auf seine Innovationsfähigkeit auswirken würden.[158] Die Kommission hatte aufgrund eines entsprechenden Erfahrungssatzes angenommen, dass ein solcher Zusammenhang nicht zwingend sei, weil ein Unternehmen seine Gewinne zu beliebigen Zwecken einsetzen könne. Demgegenüber hat das EuG darin einen Begründungsmangel erblickt.[159] Die Kommission habe so konkret wie möglich prüfen müssen, ob der Eintritt der behaupteten Vorteile wahrscheinlicher sei als deren Nichteintritt.[160]
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Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang drei vom EuG wegen fehlerhafter Begründungen aufgehobene Entscheidungen der Kommission, mit denen sie verschiedene Unternehmenszusammenschlüsse gem. Art. 2 Abs. 2 und 3 FKVO 4064/89 für unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt erklärt hatte. Nach dem damaligen Wortlaut kam es entscheidend auf die Feststellung an, ob der fragliche Zusammenschluss „eine beherrschende Stellung“ begründen oder verstärken würde:
Im Fall Airtours[161] hatte die Kommission die Übernahme des britischen Reiseveranstalters First Choice durch seinen größten Konkurrenten Airtours mit der Begründung untersagt, dass sich die Anzahl der großen britischen Reiseveranstalter dadurch von vier (Airtours, First Choice, Thomson Travel, Thomas Cook) auf drei reduzieren würde. Damit werde der Wettbewerb auf dem relevanten Markt beseitigt und es komme zur kollektiven Markbeherrschung des verbleibenden Oligopols. Angesichts der extrem hohen Transparenz auf dem relevanten Markt, sei ein von den jeweils anderen Konkurrenten unabhängiges Marktverhalten der Oligopolisten unmöglich, weil jeder Wettbewerbsvorstoß in Gestalt einer Ausdehnung des Angebots umgehend entsprechende Anpassungsreaktionen der übrigen Oligopolisten provoziere und daher nicht profitabel sei. Daraus folge eine Tendenz zur Angebotsverknappung aufgrund einer stillschweigenden Koordinierung des Marktverhaltens der Oligopolisten. Während die Kommission also aufgrund eines entsprechenden Erfahrungssatzes von der marktstrukturell bedingten Reaktionsverbundenheit der Oligopolisten auf ein wettbewerbswidriges Parallelverhalten geschlossen hatte, sah das EuG dies nicht als ausreichende Begründung an. Anders als die Kommission, verlangte das EuG den Nachweis, dass die Oligopolisten auch über „ausreichende Abschreckungsmittel“ im Verhältnis zueinander verfügten, um jeden von ihnen von einem Ausscheren aus dem gemeinsamen Marktverhalten abzuhalten.[162] Für diesen Nachweis genüge es nicht ohne weiteres darauf hinzuweisen, dass ein Ausscheren das sofortige Nachziehen der Konkurrenten zur Folge hat. Obwohl das Gericht der Kommission im Grundsatz ein gewisses Ermessen bei der Beurteilung des Sachverhalts einräumte,[163] hat es in diesem Fall die Beweisführung der Kommission detailliert auf ihre ökonomische Überzeugungskraft überprüft. Das Ergebnis war negativ und die Kommissionsentscheidung wurde aufgehoben.[164]
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Aus alledem wird deutlich wo die „stärker ökonomische Betrachtungsweise“ ihren legitimen Platz hat: Nicht auf der Eben der Schutzzwecke der Wettbewerbsregeln, sondern im Sinne einer forensischen Ökonomie auf der Ebene der Sachverhaltsaufklärung und -würdigung. Dass die zutreffende ökonomische Erfassung von wettbewerblich relevanten Sachverhalten auch Rückwirkungen auf die Ebene Normsetzung (etwa die Gestaltung von Verordnungen) haben kann,[165] ist dabei keineswegs ausgeschlossen. Der Begriff „forensisch“ darf daher nicht so verstanden werden, dass er die Verwertung ökonomischer Erkenntnisse allein den Kartellbehörden und Gerichten vorbehält.
(g) Fazit
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Der more economic approach bringt letztlich keine grundlegende Veränderung des im Unionsrecht maßgeblichen wettbewerbspolitischen Leitbildes mit sich. Es bleibt dabei, dass die allokative, produktive und dynamische Effizienz wirtschaftlicher Aktivitäten stets eine Folge wirksamen Wettbewerbs ist, die sich einer direkten Quantifizierung entzieht. Schon aus normativen Gründen lässt sich das Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung nicht anhand direkt messbarer Ineffizienzen (insbesondere in Form von Wohlfahrteinbußen der Verbraucher) bestimmen. Auch aus praktischen Gründen stößt die präzise Feststellung solcher Effizienzwirkungen aufgrund umfassender Preis/Mengen-Analysen oder exakter Verhaltensprognosen auf Grenzen, die sich allenfalls in begrenztem Umfang und dann auch nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand überwinden lassen. Es gilt vielmehr, die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs als offenes Interaktionssystem und als Entdeckungsprozess gegen Abschottung und wettbewerbswidrige Strukturveränderungen zu schützen und die Chancen der konkurrierenden Marktteilnehmer zu gewährleisten, ihre überlegene Leistungsfähigkeit zu beweisen. Dieser Ansatz kommt mit aller Deutlichkeit sogar in den Freistellungsleitlinien 2004 zum Ausdruck, wo es heißt:[166]
„Letzten Endes wird dem Schutz des Wettstreits und dem Wettbewerbsprozess Vorrang eingeräumt vor potenziellen wettbewerbsfördernden Effizienzgewinnen, die sich aus wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen ergeben könnten. In der letzten Voraussetzung des Artikels 81 Absatz 3 [jetzt: Artikel 101 Absatz 3] wird die Tatsache anerkannt, dass die Rivalität zwischen Unternehmen eine wesentliche Antriebskraft für die wirtschaftliche Effizienz, einschließlich langfristiger dynamischer Effizienzsteigerungen in Form von Innovationen, ist. Mit anderen Worten, der Schutz des Wettbewerbsprozesses bleibt das eigentliche Ziel von Artikel 81 [jetzt: Artikel 101] und zwar nicht nur auf kurze, sondern auch auf lange Sicht. Wenn der Wettbewerb ausgeschaltet wird, kommt der Wettbewerbsprozess zum Stillstand, und die kurzfristigen Effizienzgewinne werden von langfristigen Verlusten überlagert, die u.a. durch Ausgaben zur Erhaltung der Marktposition etablierter Unternehmen, durch die Fehlallokation von Ressourcen, durch Rückgang von Innovationen und durch höhere Preise verursacht werden.“
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Die Rivalität zwischen Unternehmen als Antriebskraft für wirtschaftliche Effizienz betrifft aber nur eine Seite des Marktes. Ihr Pendant auf der Marktgegenseite ist die Auswahlfreiheit der Konsumenten. Nur sie gewährleistet die Ausrichtung der Produktion an den Interessen der Konsumenten, deren Befriedigung schon Adam Smith als letzten Zweck des Wirtschaftens herausgestellt hat:[167]
„Konsum ist der einzige Sinn und Zweck aller Produktion; und das Interesse des Produzenten sollte nur insoweit berücksichtigt werden, als es für die Förderung des Konsumenteninteresses nötig sein mag. Diese Maxime ist so selbstverständlich, dass es unsinnig wäre, sie beweisen zu wollen.“
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Wirtschaftliche Effizienz im Sinne der Präferenzgerechtigkeit der Ressourcenverwendung (allokative Effizienz), der Kosteneffizienz der Produktion (produktive Effizienz) und der wachstumsfördernden Innovation (dynamische Effizienz) ist letztlich nichts anderes als eine Umschreibung des Interesses der Konsumenten an Produkten,